Die Bemühungen, den derzeitigen musikalischen Pauperismus auf den Konzertbühnen zu durchbrechen, führten zu einer teilweise verwirrenden Vielfalt an neuen Ideen. So kam ich auf den Gedanken, ein historisches Ambiente mit alter und neuer Musik in einem akustischen Erlebnisraum zu vereinen. Sehr entgegenkommend war dabei der Leiter der Landesmusikakademie im Kloster Michaelstein, Peter Grundwald, der sich sofort bereit erklärte, im Rahmen seiner Möglichkeiten zu unterstützen.
GOLDBERG – Der unsichtbare Klang
Ein ebenso wichtiger Anker für ein solches Projekt war das in Sachsen-Anhalt etablierte Festival KlangArt Vision. Ganz dem Namen entsprechend hat der Leiter des unter dem Dach der IAMA Halle agierenden Festivals, Markus Steffen, geholfen, meine Vision logistisch und finanziell umzusetzen. Nebenbei bemerkt, ist mir diese Förderung von Kunst als Hilfe zur Umsetzung künstlerischer Ideen zielführender, als die zumindest in der Musikförderung durch unsinniges Regelwerk die Kunst knebelnde Praxis der Kunststiftung des Landes. Überhaupt dürfte das neue Festival bei Künstlerinnen und Künstlern wie auch beim Publikum angekommen sein.
Partnerschaften in die mitteldeutsche Kulturlandschaft hinein, wie beispielsweise nach Sachsen, erweitern den Wirkungsgrad effektiver als international ausgerichtete Import-Einbahnstraßen bisheriger Impulse.
Johann Gottlieb Goldberg (1727–1756) war/ist nur den mit Johann Sebastian Bachs (1685–1750) Leben und Werk Vertrauten ein Begriff. Bach schuf 30 Variationen zu einer Aria, bei der nicht die Melodie dieser Aria Gegenstand der Variantenbildung ist, sondern deren Bassstimme. Darüber gestaltet Bach neben Stilisierungen und virtuosen Stücken alle in der damaligen Musiktheorie klassifizierten Arten des Kanons. Über der sich variierenden Basslinie gestaltet Bach also neun Kanons vom Stimmeinsatz in der Prime bis zur None. Da die Dezime nicht vorkommt, nimmt er ein Quodlibet, das er aus zwei damals geläufigen Volksmelodien über der Bassstimme gestaltet. Die Sache endet mit der Wiederholung der Aria, mit der alles begonnen hatte. Gespielt haben soll es für den Auftraggeber Graf Hermann Carl von Keyserlingk, der damals 14-jährige Goldberg. Die Musikwissenschaft zeigt Skepsis, da es nur eine Quelle gibt, die zudem erst 52 Jahre nach Bachs und 46 Jahre nach Goldbergs Tod datiert.
Spieltechnisch ist das Stück für ein Cembalo mit zwei Manualen konzipiert. Die Wiedergabe auf der Klaviatur eines modernen Konzertflügels ist einem Hürdenlauf ähnlich, da sich die Hände gegenseitig im Wege sind. Erst seit den legendären Einspielungen durch den kanadischen Pianisten Glenn Gould in den Jahren 1954/55 begannen die klassischen Pianisten dieses Werk ohne zerstörende Bearbeitungen im originalen Notentext auf das Konzertpodium zu bringen. Trotzdem bleibt der seit dem 19. Jahrhundert „Goldberg-Variationen“ genannte Zyklus das spieltechnisch schwerste Werk des immer noch bedeutendsten Leipziger Thomaskantors.
Meine Idee war es, den Zyklus im Kreuzgang des Klosters Michaelstein aufzuführen und mit eigenen Chor-Miniaturen zu durchwirken. Dazu brauchte ich vier Pianisti*innen, die an vier gleichen Konzertflügeln aus den vier Ecken des Kreuzganges im Wechsel das Bach’sche Werk musizieren. Hinzu kam ein vierstimmiges Vokalensemble, dass von jeweils gegenüberliegenden Seiten das instrumentale Geschehen im Raum erweitert. Mein Kontakt zu Knut Blüthner von der weltberühmten Julius Blüthner Pianofortefabrik ermöglichte es, dass dem Projekt vier Blüthner-Flügel zur Verfügung stehen. Ich konnte meinen Kollegen René Hirschfeld gewinnen, ebenfalls eigene Miniaturen beizusteuern. Ohne, dass wir uns besonders abgesprochen haben, sind also seinerseits sechs Madrigale und meinerseits neun Intermezzi (Verlag Neue Musik) für vierstimmiges Vokalensemble entstanden. Während ich mich für die Form der Vokalise entschied, komponierte René Hirschfeld auf Texte von Korvin Reich.
Das Ergebnis für das entlang des Kreuzganges sitzende Publikum wird zum einen der unsichtbare und nur aus der Ferne tönende Klang sein. Andererseits ist jedoch auch die Nähe des Klanges zu erleben, der dann durch die Musikerinnen und Musiker sichtbar wird.
Diese neue Konzertform will Musik sowohl in direkter Unmittelbarkeit als auch in ihrer geschichtlichen Entfernung vermitteln. Dadurch, dass der Michaelsteiner Kreuzgang durch die Verglasung der Spitzbögen einen geschlossenen Raum darstellt, entsteht eine kirchenartige Akustik mit einem besonderen Flair.
Dass ein Konzert dieser Art ein besonderes Erlebnis sein kann, hoffen die beiden Komponisten (Thomas Buchholz, René Hirschfeld) und alle mitwirkenden Sängerinnen und Sänger des Ensembles AuditivVokal aus Dresden in der Einstudierung von Olaf Katzer (Hanna Park – Sopran, Clara Bergert – Alt, András Adamik – Tenor und Mykola Piddubnyk – Bass) sowie die Pianistinnen und Pianisten (Darya Dadykina, Artem Yasinskyy, Vasily Gvozdetsky, Alexander Stepanov).
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