Im Sommer 2022 stellte das Bundessozialgericht (BSG) im sogenannten Herrenberg Urteil fest, dass mangels unternehmerischer Freiheit eine echte Selbstständigkeit an Musikschulen kaum herzustellen sei. Die Folge dieses Urteils ist, dass die Beschäftigung von freischaffenden Lehrkräften, also Honorarkräften, kritisch zu sehen ist. Das hat in einer Musikschullandschaft wie in Hessen, in der oftmals der Lehrkörper hauptsächlich aus Honorarkräften besteht, weitreichende Folgen. Erste Musikschulen wandeln nun die Honorar-Beschäftigungsverhältnisse in Festanstellungen um (siehe nmz 2/2024). Zur Situation in Hessen befragte Ute-Gabriela Schneppat Nadezda Kuzmina, Leiterin von Nadias Musikschule, Marco Lorusso, Lehrkraft an der Musikzentrale Gießen und Heike Schulte-Michaelis, 1. Vorsitzende des DTKV Hessen und freiberuflich tätige Musikerin.
Herrenberg und die Folgen für Hessens Musikschulen
Ute-Gabriela Schneppat: Welche Herausforderungen siehst du bei der Umstellung von Honorarverträgen auf Festanstellungen für deine Lehrkräfte und wie planst du, diesen zu begegnen?
Nadezda Kuzmina: Abgesehen vom großen bürokratischen Aufwand, den die Umstellung auf die Festanstellung verursacht, stellt sich die Frage, ob die Festanstellung in allen Fällen die richtige Lösung für alle Mitarbeiter*innen wäre. Viele meiner freiberuflichen Mitarbeiter*innen sind KSK-Mitglieder und wollen das bleiben. Der Umstieg in die feste Anstellung wird für sie die Reduzierung der selbständigen Tätigkeit bedeuten und birgt das Risiko, die KSK-Mitgliedschaft zu verlieren.
Viele Lehrkräfte werden ihre Stunden an der Musikschule reduzieren und mehr Unterrichte auf Privatbasis erteilen. Das führt dazu, dass die hochwertige Ausstattung der Musikschule und deren Infrastruktur weniger benutzt wird und zum Beispiel eine Qualitätskontrolle nicht mehr möglich wird.
Schneppat: Inwiefern betrifft dich persönlich die Entscheidung der Musikschule, zukünftig keine Honorarkräfte mehr zu beschäftigen, sondern Lehrkräfte ausschließlich in Festanstellung einzustellen?
Marco Lorusso: Als E-Basslehrer an einer Privatmusikschule ist für mich eine Festanstellung eine große Herausforderung. Nichtsdestotrotz freue mich sehr auf die Möglichkeit, meine Lehrertätigkeit in einer abhängigen Beschäftigung mit geregelten Zeiten und stabilem Einkommen ausüben zu können.
Finanzielle Auswirkungen
Schneppat: Inwiefern erwartest du finanzielle Auswirkungen auf deine Musikschule durch die Umstellung auf Festanstellungen, und wie beabsichtigst du, diese zusätzlichen Kosten zu bewältigen?
Kuzmina: Die Kosten werden für alle Beteiligten steigen: Die Lehrkräfte müssen mehr arbeiten. Die Schüler müssen mehr für den Unterricht zahlen, weil die Kosten für die Lehrkräfte wachsen. Die Musikschule trägt erhöhte Ausgaben für die Verwaltung, Versicherung und eventuelle Krankheitsausfälle …
Schneppat: Welche Ängste oder Bedenken hast du hinsichtlich der bevorstehenden Umstrukturierung an der Musikschule, insbesondere im Hinblick auf deine berufliche Zukunft und deine finanzielle Situation als freischaffender Instrumentallehrer?
Lorusso: Als kommissarischer Leiter einer privaten Musikschule höre ich dazu viele verschiedene Meinungen. Was am meisten auffällt, ist die Schwierigkeit für die Lehrkräfte, an korrekte und aktuelle Informationen bezüglich einer abhängigen Beschäftigung zu kommen.
Für mich ist die Festanstellung ein hervorragendes Upgrade für das Musikerleben, da die Lebensqualität der Lehrer*innen deutlich steigen könnte. Ich habe keine Sorge um meine finanzielle Zukunft, da ich weiterhin Gigs, Privatunterricht, Studio-Arbeit und so weiter ausüben darf.
Schneppat: Wie hat der DTKV die Entwicklung seit dem Herrenberg-Urteil verfolgt und welche Einschätzungen gibt es bezüglich der Umsetzung und der Auswirkungen auf die Musikerinnen und Musiker in Hessen?
Heike Schulte-Michaelis: Wir fragten Anfang Mai in einer Umfrage unsere Mitglieder nach ihrer möglicherweise veränderten Situation.
Darüber hinaus haben wir viele Gespräche mit Mitgliedern, Musikschulleitungen und Inhaber*innen privater Musikschulen geführt – und die Diskussion in anderen Verbänden verfolgt.
Der DTKV-Bundesverband hat zwei Pressemitteilungen veröffentlicht. Hier wird gefordert, existenzsichernde Beschäftigungsverhältnisse und die Voraussetzungen zu schaffen, um sowohl die Freiberuflichkeit als auch die tarifliche Festanstellung umzusetzen.
Schneppat: Inwiefern sieht der DTKV die Notwendigkeit einer Anpassung der Arbeitsbedingungen und Vergütungen für Musiker:innen angesichts des Herrenberg-Urteils, und welche Strategien verfolgt der Verband in dieser Hinsicht?
Schulte-Michaelis: Es steht außer Frage, dass die Vergütungen endlich angepasst werden müssen. Nach 17 Jahren ist es auch an der Zeit, den Tarif an die gestiegenen Anforderungen anzupassen.
In Hessen stellt sich die Situation leider noch viel schwieriger dar. Bei den vielen e.V.-Musikschulen ist eine tarifliche Bezahlung nicht bindend. Das heißt, dass die Angebote für Festanstellungen weit unter Tarif liegen und zielsicher in die Altersarmut führen. Unser Ziel ist es, tarifentsprechende Bezahlung zu sichern.
Ein weiteres und noch viel größeres Problem ergibt sich für die privat geführten Musikschulen. Ohne Förderung müssten die Elternentgelte stark angehoben werden. Das verhindert eine soziale Teilhabe.
Schneppat: Welche langfristigen Veränderungen erwartet ihr in der hessischen Musikschullandschaft als Folge des Herrenberg-Urteils? Welche Rolle spielt eurer Meinung nach die politische Unterstützung bei der Bewältigung dieser Veränderungen?
Kuzmina: Es sollte möglich sein, beide Anstellungsmöglichkeiten beizubehalten und individuell an die Wünsche der Mitarbeiter*innen anpassen zu können, damit die Situation vorteilhaft für die einzelnen Lehrkräfte und für die Schulen gelöst werden kann. Die Politik spielt bei jeder Veränderung eine entscheidende Rolle, weil sie die Entwicklung quasi diktiert. Ich erwarte von einer demokratischen Gesellschaft mehr Flexibilität und Verständnis für die Spezifik der Musikausbildung.
Lorusso: Ich wünsche mir eine grundsätzliche Umstrukturierung der Musikschule, um sowohl den Schülern als auch den Lehrern eine höhere Unterrichts- und Lebensqualität bieten zu können.
Tariflohn und soziale Förderung
Punkte wie Tariflohn für die Lehrer*innen und soziale Förderungen für Schüler*innen, die aus sozial schwächerem Umfeld kommen, sind dabei absolut ESSENZIELL.
Der nötige Umbruch darf nicht von den Schülern allein getragen werden. Daher sollte es auch bei privaten Schulen eine staatliche Förderung geben.
Die Politik sollte die Kriterien der Scheinselbständigkeit klären und überarbeiten, damit die Möglichkeit auf Honorarverträge erhalten bleibt. Musikalische Bildung sollte verstärkt unterstützt werden. Das sollte nicht durch Finanzierung der Musikschulen geschehen, sondern zum Beispiel durch Sozialfonds für Kinder/Familien und Musikinteressierte.
Umsatzsteuerbefreiung
Das Umsatzsteuerbefreiungsgesetz muss endgültig klarstellen, dass Musikschulen (egal ob private oder gemeinnützige) umsatzsteuerbefreit sind. Der Musik-Unterricht ist keine Freizeitaktivität, sondern kulturelle Bildung!
Schneppat: Wie beurteilt der DTKV die langfristigen Auswirkungen des Herrenberg-Urteils auf die Musikkultur und das Musikschulwesen in Hessen? Welche Empfehlungen hat der Verband für die politischen Entscheidungsträger zur Bewältigung dieser Veränderungen?
Schulte-Michaelis: Öffentliche und private Musikschulen reduzieren schon jetzt vorsorglich ihr Angebot.
Dadurch kommen weniger Kinder und Jugendliche in den Genuss von qualifiziertem Musikunterricht.
Der Fachkräftemangel wird weiter zunehmen, wenn man keine angemessen bezahlten Stellen findet. Die Politik muss sich ehrlich machen. Soll Musik im Kulturland Hessen von der Breite bis zur Spitze existieren?
Land muss beitragen
Wenn ja, müssen die Kommunen in die Lage versetzt werden, diese Aufgabe meistern zu können. Das Land muss maßgeblich dazu beitragen. Die Einrichtung und Unterhaltung einer Musikschule sollte zur Pflichtaufgabe werden und auch die subsidiär tätigen Institute müssen einbezogen werden, um die Nachfrage in der Breite decken zu können. Immerhin ist die Pflege der Kultur in der hessischen Verfassung verankert. Hierauf werden wir uns berufen.
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