Ich war noch Schüler, als ich in der Neuen Züricher Zeitung ein Interview mit dem großen ungarisch-schweizerischen Pianisten Géza Anda las. Anda klagte, dass in der Schweiz mit dem obligatorischen Ganztags-Schulsystem Kinder und Jugendliche keine individuellen Entwicklungs-Möglichkeiten hätten und beispielsweise der nötige Freiraum für eine musikalische Hochbegabtenförderung fehle. Im Gegensatz dazu nannte er die Bundesrepublik Deutschland vorbildlich. Die Vorstellung, den ganzen Tag mit Schulischem gegängelt zu werden, anstatt wenigstens am Nachmittag meinen Interessen folgen zu können – und die betrafen auch, aber bei weitem nicht nur die Musik – fand ich unerträglich. Gut, dass wir in Deutschland lebten, fanden auch meine Freunde, mit denen ich dieses Problem diskutierte.
„Die Durchschnittsfalle“
Inzwischen ist die gesellschaftliche Entwicklung vorangeschritten und die Erziehung zielt auch in Deutschland wie anderswo auf Ganztagsbetreuung und die Ganztagsschule. Der Zeitgeist unserer Post-68er-Generation neigt zur Angepasstheit und Uniformität. Zwar wird im Bildungswesen immer individuelle Förderung gepredigt, gemeint ist aber vor allem der Ausgleich persönlicher Defizite, um Anschluss an das allgemeine Niveau zu halten. Das ist natürlich begrüßenswert, nur sollten gleichzeitig auch individuelle Interessen und außergewöhnliche Fähigkeiten gewürdigt und gefördert werden, was für die Entwicklung einer künstlerischen oder allgemein kreativen Persönlichkeit unabdingbar wäre. Aber hier scheint es vielfach zu mangeln. Das Problem stellt Markus Hengstschläger in seinem empfehlenswerten Buch: „Die Durchschnittsfalle“ (Salzburg, 2012 (ecowin)) sehr anschaulich dar. Hier fasst der Autor den aktuellen Stand der naturwissenschaftlichen Forschung zum Thema Begabung zusammen und analysiert aus seiner Sicht als medizinischer Genetiker unsere Erziehungs- und Bildungssituation, die sich durchaus mit meiner Wahrnehmung als Pädagoge deckt.
Ein Beispiel aus dem Musikbereich ist das Klassenmusizieren oder „Jeki“. Super, wenn möglichst viele Kinder ein Instrument erlernen können! Aber der Schuss geht nach hinten los, wenn alle Kinder sozusagen im Gleichschritt auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner, oft mit inakzeptablen Methoden und zu wenigen und teils unqualifizierten Lehrern ans Instrument geführt werden. Wir wissen ja, wie entscheidend gerade der Anfangsunterricht ist. Prinzipiell, mit instrumentengerechten Methoden und genügend qualifizierten Lehrern (das bedeutet natürlich mehr Geld), wäre das die große Chance, dass eine neue, musizierende Generation heranwächst. Vielleicht wären auch ein paar Hochbegabte dabei. In jedem Fall wäre das eine gute Basis, wenn Musizieren in der Breite wieder dazugehören würde. Ein anderes Beispiel ist das britische ABRSM (Associated Board of the Royal Schools of Music), das derzeit auch in Deutschland auf Resonanz stößt. Es mag ein Weg zu erfolgreichem Instrumentalspiel sein. Doch ein Zertifizierungssystem, das eine objektive Beurteilung des vorgegebenen Stoffs suggeriert, zielt ebenfalls auf Vereinheitlichung ab und lässt wenig Freiraum für eine kreative Entfaltung.
Entwicklung unvorhersehbar
Ich selbst bin nicht in eine spezielle Früh- und Hochbegabtenförderung eingebunden, vor allem auch, weil ich als Flötist und Querflötenlehrer kein Instrument unterrichte, das typisch für eine Wunderkindkarriere ist, aber natürlich erweisen sich unter meinen vielen Schülern einige wenige auch als besonders begabt. Ebenso bin ich als Juror und Vorsitzender des Tonkünstlerverbands München, der unter anderem den Münchner Regionalwettbewerb „Jugend musiziert“ mit jährlich rund 400 Teilnehmern sowie circa 50 öffentliche Schüler- und Preisträgerkonzerte im Jahr veranstaltet, mit Kindern und Jugendlichen befasst, die auf musikalischem Gebiet außergewöhnliche Spezialbegabungen zeigen, deren weitere Entwicklungen allerdings äußerst unterschiedlich und unvorhersehbar verlaufen. Die Gründe hierfür erlebe ich meist in den unterschiedlichen Persönlichkeitsstrukturen, die stark vom jeweiligen Umfeld beeinflusst werden. Und zum klassischen Umfeld, also Eltern, Familie, Lehrer, Schule, Freundeskreis und so weiter ist in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten zunehmend das anonyme Umfeld der neuen Unterhaltungs- und Kommunikationsmedien hinzugekommen, von dem Kinder immer früher eingefangen werden, und das ist ein ziemlich unberechenbarer Faktor in ihrer Entwicklung. Auch wenn anfängliche Erfolge und eventuell Musikalitätstests (die alle sehr fragwürdig sind) zu einer positiven Prognose verleiten, versuche ich in jedem Fall eine frühe Festlegung auf eine musikalische Karriere zu vermeiden, was kein Hindernis für eine frühe Förderung ist.
Zwischen musikalischer Begabung, die abgetrennt von ihrer Entwicklung ohnehin nicht gültig bewertbar ist, und der herausragenden Leistung, ist der Weg mit zu vielen Unwägbarkeiten gepflastert. Motivation und Volition sind hier entscheidend... und Glück, das als wichtiger Faktor hinter jeder großen Karriere steckt – die richtigen Leute und Kontakte, der richtige Zeitpunkt, die passenden Umstände…– das kann man nicht erzwingen, aber man kann und muss viel für sein Glück tun. Doch ein Anrecht auf Erfolg gibt es leider nicht, die Welt hat nicht auf uns gewartet…
Karriere: kein gültiges Strickmuster
Meine Ausführungen beziehen sich im Wesentlichen auf die Ausbildungssituation im Bereich der klassischen Musik. Und ich bitte um Nachsicht, wenn ich diese ein wenig durch die bairische Brille sehe.
Die üblichen Berichte und Studien über musikalisch Hochbegabte beginnen am Ende: Bei den erfolgreichen Größen der Musikwelt. Deren Werdegang liest sich meist so: Geboren in ein musikalisches Elternhaus – hochqualifizierter Instrumentalunterricht spätestens im Alter von 5 Jahren – bald schon erste Konzerte und Gewinne von Jugendwettbewerben – Jungstudium an einem renommierten Ausbildungsinstitut – nach Meisterklassen bei berühmten Professoren und als Preisträger internationaler Wettbewerbe Beginn einer weltweiten Solistenkarriere oder Erhalt einer führenden Stelle in einem renommierten Orchester.
Schön, wenn es so läuft, aber als Strickmuster für den Erfolg funktioniert das in den seltensten Fällen und Johann Sebastian Bachs bekanntes Understatement „Ich habe fleißig seyn müssen; wer eben so fleißig ist, der wird es eben so weit bringen können“ (zitiert nach: Johann Nikolaus Forkel, Über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke, Leipzig 1802 (Kapitel VIII)), stimmt nur bis zur Hälfte: Fleißig sein ist die Voraussetzung, aber dass man es dann ebenso weit bringen kann, ist sehr unwahrscheinlich und hängt von vielerlei Faktoren ab, nicht nur vom Glück.
Uns Musikpädagogen, die auch an der Basis arbeiten, ob freiberuflich oder an einer Musikschule tätig, interessiert erst einmal etwas anderes: Wie können wir möglichst viele Kinder bestmöglich ausbilden und die Freude am aktiven Musizieren wecken, und wie können wir diejenigen, die sich als besonders talentiert entpuppen, entsprechend ihren Begabungen fördern?
Hürden und Hindernisse heute
Allein in dem Zeitraum, den ich miterlebt habe – also etwa in den vergangenen 50 Jahren – sind Veränderungen eingetreten, auf die es dringend gesellschaftliche Antworten in Bezug auf Spitzenförderung bedarf – nicht nur in der Musik. „Mehr Geld für Bildung“ wird regelmäßig gefordert. Das ist sicherlich nötig, aber noch nicht die Antwort auf entstandene Probleme, geschweige denn die Lösung.
Was die Musik betrifft, ist es sehr erfreulich, dass heute deutlich mehr Kinder und Jugendliche Zugang zu Instrumental- und Gesangsunterricht haben und dass qualifizierte Lehrer dafür mittlerweile flächendeckend zur Verfügung stehen.
(Fortsetzung in den nächsten Ausgaben!)