Das Phänomen der Improvisation prägt den Alltag durch verschiedene menschliche Handlungsweisen und nimmt somit eine zentrale Position im Leben ein, denn nicht alles lässt sich vorausplanen. Auch bei etwas Planbarem – wie zum Beispiel dem Kochen nach Rezept – ist auch Improvisation Teil des Prozesses: Jeder Mensch hat beim Kochen sicherlich schon erlebt, dass doch Zutaten fehlen und deshalb auf die Schnelle mit anderen Mitteln „improvisiert“ werden muss. Ebenso ist die Improvisation in Ebenen der zwischenmenschlichen Kommunikation oder Bewegung (z. B. Tanzen) als Spiel mit Spontaneität und Kreativität wiederzufinden. Die musikalische Improvisation bereichert nicht minder den Alltag eines jeden Musikers und einer jeden Musikerin.
Sie findet sich sowohl in bewusster Form wie beim Üben oder Komponieren als auch in unbewusster Erscheinung – das „Herumklimpern“ auf den Tasten oder das „vor sich Hersummen“ einer unmittelbar entstandenen Melodie – wieder. Das aktive Improvisieren, aber auch das Interesse der Musiker/innen daran lässt sich in der Musizierpraxis über mehrere Jahrhunderte zurückverfolgen. Doch ist im zeitlichen Verlauf auch ein Bedeutungswandel der musikalischen Improvisation aufgrund unterschiedlicher Musikverständnisse und der verschiedenen ästhetischen Musikauffassungen der jeweiligen Zeit hinterlegt. Insbesondere die Klavierimprovisation ist in der aktuellen Zeit eine in den Vordergrund tretende Erscheinung – sowohl im Konzertbetrieb als auch in der musiktheoretischen Forschung sowie in musikpädagogischen Lehrkontexten.
Die musikalische Improvisation als gängige, epochenübergreifende Praxis ist über mehrere Jahrhunderte in unterschiedlichster Form wiederzufinden. Begonnen in der Renaissance tritt sie zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert überwiegend im Zuge der vokalen Improvisation auf, die sich allerdings an harmonischen Modellen, die auf strengen kontrapunktischen Satzregeln aufbauen, orientieren.
Das Musikverständnis dieses Zeitalters basiert auf einer Musikauffassung, die auf den mathematisch-physikalisch geordneten Proportionen der Tonverhältnisse beruht. Mit der Entwicklung der Instrumentalmusik nimmt die instrumentale Improvisation ab dem 16. beziehungsweise 17. Jahrhundert drastisch zu: Am häufigsten ist die Improvisation auf Tasteninstrumenten wiederzufinden, zumal das Generalbassspiel nach bezifferten oder unbezifferten Partimenti in der musiktheoretischen Ausbildung einen maßgeblichen Stellenwert hat – nicht nur im Kontext des „Accompagnements“, sondern auch als Grundlage für Kompositionsprozesse.
In der geistlichen Musik bereichert größtenteils die Orgelimprovisation die kirchenmusikalische Praxis, beispielsweise anhand improvisierter Choralvorspiele, die auch in heutigen Gottesdiensten üblich sind. Parallel hierzu entwickeln sich ab dem 17. Jahrhundert konzertant-improvisatorische Ausprägungen anhand improvisierter Kadenzen in instrumentalen Solokonzerten sowohl für Tasten- als auch für Saiten- oder Blasinstrumente.
Die Klavierimprovisation hat ihre Blütezeit im Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert einerseits der Verbreitung des Klaviers als häusliches Instrument zu verdanken.
Andererseits tritt sie in der sich anbahnenden Hochphase des Virtuosentums und des Geniekults innerhalb der Konzertpraxis in Erscheinung: Erweiterte Spieltechniken, romantisch-ästhetisches Form- und Ausdrucksgefühl sind als bedeutsame Schlagbegriffe zu nennen.
Im Lauf des 19. Jahrhunderts nimmt die Improvisation in Kontexten der Aufführungspraxis immer weiter ab, trotzdem gilt die instrumentale Improvisation weiterhin als eines der methodischen Mittel der Kompositionspraxis.
Mit dem Erreichen des 20. Jahrhunderts und der zunehmenden Wende im musikalisch-kompositorischen Denken durch die Auflösung des Tonalitätsgedanken, das Loslösen von einer traditionellen Spielpraxis und die digital-medialen Entwicklungen verändern sich auch die Möglichkeiten der Improvisation im Bereich der Neuen Musik.
Spricht man heutzutage über Improvisation in der Musik, wird damit häufig die musikalische Improvisationssprache in Jazz und Populärer Musik assoziiert.
Trotz des zeitlichen Wandels tritt die Improvisation häufig als Wechselspiel zwischen der Kreativität – oder auch der musikalischen Freiheit eines/einer Musizierenden bzw. seiner/ihrer ästhetischen Wahrnehmung – und dem Befolgen der in der jeweiligen Epoche vorherrschenden Regeln und Stilistik.
Was ist musikalische Improvisation?
Der Begriff Improvisation, der seinen Ursprung im lateinischen improvisibilis hat, bezeichnet eine unvorhergesehene Handlung, die eine Unerwartetheit mit sich trägt.
Sie ist ein von notierter Notenschrift – die Komposition – zu unterscheidendes Gebiet, steht aber zugleich im Diskurs mit dem Improvisationsverständnis als „Komponieren aus dem Stegreif“, das heißt, eine aus dem Moment entstandene, nicht notierte, aber in sich geschlossene Form einer Komposition.
Teilweise wird dadurch eine scharfe begriffliche Trennung der Endprodukte von Improvisation und Komposition (lat. compositio für Zusammensetzung) erschwert, dennoch ist als klares Trennungsmerkmal bei kompositorischen Werken die traditionell schriftliche Kultur, bei der alle musikalischen Parameter wie Dynamik, Tonhöhe, Rhythmus und harmonischer Prozess in einer zuvor durchdachten zeitlichen Ordnung festgesetzt sind.
Dementsprechend lassen sich improvisatorische Prozesse als methodische Bestandteile in den kompositorischen Prozess einbetten: So hört man von berühmten Komponistinnen und Komponisten wie Achille-Claude Debussy, dass das Suchen nach Melodien oder Harmonieprogressionen für Kompositionsvorgänge improvisatorisch am Klavier stattgefunden hat.
Die Kompositionen enthalten vor diesem Hintergrund aus dem „Stegreif entwickelte Melodien“, die nun schriftlich fixiert sind. Das Improvisieren entsteht aus einer wechselseitigen Beeinflussung der Komponenten Spontaneität, Inspiration, Einfallsreichtum und Kreativität sowie musiktheoretischen und spieltechnischen Grundlagen.
Nicht zu vernachlässigen ist hierbei, dass der Entwurf eines musikalischen Plans aus dem Stegreif ein Resultat der Erfahrung einerseits und des Hörens beziehungsweise des selbstständigen Zuhörens andererseits ist.
Fantasieren – Präludieren – Extemporieren und ihre Präsenz in der aktuellen Musikpraxis
Für das Improvisieren am Klavier im klassischen Bereich ist des Öfteren vom „Fantasieren“ die Rede, dessen Wortbedeutung aus dem 18./19. Jahrhundert stammt. Auch Präludieren und Extemporieren gehören zu Arten der historischen Klavierimprovisation, die sich unter anderem in Form und Länge vom Fantasieren unterscheiden. Während Präludieren vor allem für improvisierte Einleitungen oder Vorspiele dient und eine eher kürzere Länge aufweist, bezeichnet das Fantasieren einen Improvisationsstil in komplexerer Erscheinungsform, in der der Interpret oder die Interpretin von streng durchdachten Formprinzipien wie Haupt- oder Seitensatz losgelöst mit verschiedenen musikalischen Charakteren spielt und diese miteinander in Verbindung setzt. Nicht nur das freie Fantasieren, sondern auch improvisierte Variationen auf Grundlage populärer Opernthemen oder Liedmelodien begeisterten das Konzertpublikum. Werke der Gattungen Fantasie, Präludium, Impromptu, Variation oder ausgeschriebene Konzertkadenzen enthalten dementsprechend einen improvisatorischen Gestus eines freien, unvorgesehenen, dennoch virtuosen Spiels. Die Vermittlung improvisatorischer Fertigkeiten am Klavier im 18. und 19. Jahrhundert lässt sich anhand der Fantasier- und Klavierschulen sowie der Improvisationslehrwerke von namhaften Musikern und Komponisten wie Carl Philipp Emanuel Bach, Carl Czerny, Johann Nepomuk Hummel und Friedrich Kalkbrenner zurückverfolgen.