Die Gitarre ist wie ein Orchester, das man durch ein umgekehrt gehaltenes Fernrohr betrachtet – der Satz des Altmeisters der klassischen Gitarre Andrés Segovia kam einem in den Sinn beim Konzert des Gitarristen und Komponisten Stephan Stiens und seines Ensembles Guitar Company im Konzertsaal Schwere Reiter. Allerdings konnte man sein imaginiertes Fernrohr richtig herum halten, denn tatsächlich saßen fast 90 Gitarristen bei der Uraufführung von Stiens Komposition „Punkt“ auf der Bühne.
Unter dem Titel „Ins Offene“ war Zukunftsmusik für Gitarre(n) angekündigt worden, jenseits des oft klischeebeladenen Gitarrenmainstreams. Vier Vertonungen auf Gedichte von Thilo Schmid eröffneten den Abend. Gemeinsam mit Ruth Fischer an der zweiten Gitarre, Manuela Mitterer an Alt-und Bassblockflöte und der Sopranistin Franziska Wintermeyer reizte Stephan Stiens die feinen Farben dieser aparten Besetzung aus, um die Gedichte zum Klingen zu bringen. Hervorzuheben war hierbei „Gefrorener See“ mit seinen gläsern kalten Akkordmischungen aus Flageolettklängen und sul ponticello gespielten Akkorden. Mit „Hallraum I–VI“ und „Ins Offene“ für drei Gitarren und Bassgitarre hat sich Stephan Stiens vor allem durch die Verwendung der Bassgitarre neue klangliche Räume erobert. Sie lässt einen die leicht inzestuöse Wirkung des Zusammenspiels von mehreren Gitarren sofort vergessen. Sensibel interpretiert von Franziska Wintermeyer und Stephan Stiens wurde dann das Lied „Der Besuch“ nach Christian Teissl. Changierend zwischen populärmusikalischer Melodik und romantischer Harmonik war die Gitarre mehr Partner als Begleiter. In der Komposition „Punkt“ für vier Sprecher, ein Gitarrenquartett und vier Orchestergruppen versuchte Stiens nun einen schwierigen Spagat. Einerseits Gitarre spielende Laien und Liebhaber in einem orchesterhaften Verbund zu organisieren und durch auskomponierte Solistenpassagen und Sprechtexte einem anspruchsvollen Inhalt zu transportieren. Grundlage war die Verbindung zweier Texte Adalbert Stifters und des kolumbianischen Journalisten Alberto Ramos. Sie gab dem Stück Struktur und Form. Zwei Kinder verirren sich im Schnee, ein Indianerjunge geht jeden Tag fünf Stunden Schulweg. Den Rahmen gaben die aleatorischen Spielaktionen, das Aufstampfen und der wütende Sprechchor der Orchestergruppen, die ungeordnete Natur versinnbildlichend. Das innere Geschehen der Protagonisten wurde durch die von Zitaten durchwirkte, sich aus einem Ton-Punkt entwickelnde Musik des Gitarrenquartetts reflektiert. Sie fand ihren geheimen Höhepunkt in einem von Silvia Fuentes beeindruckend gemeisterten Solo auf der hohen e-Saite, in dem Stifters nächtlicher Berghimmel zu seinem Klang fand. Gebrochen wurde die Romantik immer wieder vom spanisch gelesenen journalistischen Text und von unerbittlichen Steinschlägen. Ein versöhnliches Ende fand die Musik in Flageoletts, an Stifters gerettete Kinder gemahnend, und im Schaben der Steine, an den Jungen erinnernd, dessen Weg noch nicht zu Ende ist. Unter Stiens befeuernder Leitung gelang ein hoch ambitioniertes pädagogisch-künstlerisches Projekt. Man konnte sein Fernrohr getrost zu Hause lassen.