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Joseph Haydn und die Streaming-Generation

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Ein Haydn-Projekt mit der Klavierklasse von Claudia Bigos
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Braunschweig. Die Annäherung an ein Stück im Unterricht beginnt beim Hören: Ich spiele meinen Schülern das zu erarbeitende Stück – ausschnittsweise, denn natürlich soll der Notentext auch erarbeitet werden – vor. Ich spielte also Haydn und erlebte eine Überraschung: Beim Vorspielen der Klavierstücke glaubten gleich mehrere der Schüler, diese schon irgendwo gehört zu haben. Haydn als Gassenhauer? Kaum wahrscheinlich bei der Streaming-Generation. Doch manche Harmonie- oder Tonfolgen und Formen (z.B. die Menuette) Haydns sind offensichtlich (oder offen-hörbar) so kategoriebildend, dass sie nicht nur zum Verwechseln ähnlich sind, sondern von uns als bereits bekannt wahrgenommen werden. Erstaunlich.

Dabei konnten von etwa 20 Schülerinnen und Schülern aller Altersgruppen nur 5 mit dem Namen Haydn etwas anfangen. Sie „kennen“ also die Musik, aber den Komponisten nicht. Kann eine Biografie hier eine Brücke zur differenzierteren Wahrnehmung seiner Werke sein?

Hat jemand von Euch jemals eine Biografie gelesen? – Nee, wozu? Alles kann man in Kurzform bei Wikipedia nachlesen, das reicht meistens.

Eine pragmatische Erkenntnis einer Elftklässlerin. Wie kann man bei jungen Menschen das Interesse für die Bio­grafie eines vor knapp 300 Jahren lebenden Komponisten wecken? Die ins Buch gefassten Lebensdaten liefern das, was eine kompakte Fassung eines Wikipedia-Textes nicht gibt: spannende Details zum Leben und Wirken des Komponisten, Auszüge aus Briefen, manchmal sogar Fotos. Würde ich freiwillig eine Biografie von Niki Lauda oder Richard von Weizsäcker lesen? Unwahrscheinlich. Die Biografie von Lang Lang hat mich geflasht und erschüttert zugleich. Ich empfand Mitleid und grenzenlose Bewunderung. Hilft das oder stört es eher, wenn ich jetzt seinen Interpretationen lausche? Unbefangenes Zuhören ist passé.

Die dem Haydn-Notenheft der Schüler vorangestellte Biografie des Komponisten wurde von keinem Schüler freiwillig durchgelesen. Eine Viertklässlerin sah zum ersten Mal den Namen Haydn auf dem Deckblatt und sagte spontan: „Wenn man nur zwei Buchstaben in seinem Namen verstellt, kommt dabei HANDY statt HAYDN raus“ und lachte vergnügt über ihre Entdeckung. Haydns Name wurde also im Nu von der Klassik ins digitale Zeitalter katapultiert. Warum ist mir selbst das nie aufgefallen? Die Stücke aus dem Heft wurden zwar geübt, aber das Interesse für den Komponisten Haydn begann erst, als ich den Schülern gezielt biographische Informationen gab. Plötzlich fanden sie es interessant, dass alle drei Komponisten, also Haydn, Mozart und Beethoven, sich kannten, dass sie in Wien lebten, dass Mozart Haydn als „Papa Haydn“ bezeichnete und ihm riet, nicht nach England zu fahren, weil er „keine Erziehung für die große Welt“ hat und „zu wenige Sprachen“ spricht. Die Schüler fanden Haydns Antwort: „Meine Sprache versteht man durch die ganze Welt“ total clever. „Musik ist universell, das Stück muss durch sich selbst verstanden werden, dafür braucht man nicht unbedingt die Biografie des Komponisten zu kennen“, sagte ein Abiturient. Interessant klang für sie, dass Haydn mit Mozart befreundet war, dass Haydn für seinen Erfolg auch von Mozart bewundert wurde und dass Beethoven ein Schüler von Haydn war.

Das Leben von Haydn war sehr geregelt. Am Beispiel eines Textes erfuhren die Schüler, wie Haydn gelebt hat. Sie fanden daraufhin sein Leben unvorstellbar langweilig. „Haydn war scheinbar durch nichts abgelenkt, das wäre heute nicht möglich“, sagte ein Schüler und holte zum Beweis sein Handy aus der Hosentasche. Vielleicht auch deshalb konnte Haydn seine 104 Symphonien und 80 Streichquartette komponieren. Sein Leben verlief sehr geregelt, abgeschieden und finanziell abgesichert und bestand kaum aus spannenden, dramatischen Fakten oder Spekulationen, für die sich die Welt damals wie heute brennend interessieren würde.

Doch als Genie galt Haydn nie: Er komponierte scheinbar zu viel. Er wird in Notensammlungen der führenden Musikverlage oft übergangen, als ob seine Musik nicht repräsentativ genug für seine Epoche wäre. In der Vielzahl seiner Werke werden Haydns musikalische Originalität und sein Ideenreichtum leicht verkannt. Dabei gibt es auf jeder einzelnen Seite eines Stückes eine überraschende Harmonie, eine melodische Wendung, eine besondere rhythmische Idee, die magisch wirken. Der Rest des Stückes ist das, was man aus Hörgewohnheit als „klassisch“ erkennt und empfindet. Und das zeichnet seine Musik aus. Diese Stellen will ich gemeinsam mit meinen Schülern entdecken. Und auch wenn sie am Ende Haydn nur als „Papa Haydn“ im Gedächtnis behalten, als vertraut und verlässlich, vielleicht etwas altbacken, in einer Welt, in der man sich sonst auf immer weniger verlassen kann, dann ist das gut. Vielleicht werden sie erst viel später beim Hören oder Spielen eines Stückes von Haydn neugierig auf sein Leben werden. Eine Biografie müssen die Schüler nicht lesen, dafür fehlen ihnen die Zeit und die Notwendigkeit, sich mit dem Komponisten so intensiv zu befassen. Ich habe seine Bio­grafie gelesen und habe nach dieser Lektüre Haydn für mich neu entdeckt. Musikalisch und menschlich. Seine Musik ist und bleibt großartig. Durch ihre vermeintliche Einfachheit kann sie gerade für Schüler eine Brücke in die Welt der Klassik sein. Eine Liebe aufs erste Hören entfachen. Denn Haydns Werke wirken bei aller Besonderheit eingängig und vertraut – einfach universell.

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