Elementare Musikpädagogik: Lehre der Kunst oder musikalische Bespaßung? Absolventinnen und Absolventen der EMP oder der Rhythmik werden trotz ihres musikalischen Fachstudiums von der Künstlersozialkasse oftmals nicht als Musikpädagog/-innen anerkannt. Woran liegt das, und welche Ziele verfolgt die Elementare Musikpädagogik? Ein Gespräch mit der Musikerin und Komponistin Marianne Steffen-Wittek, die als Professorin Rhythmik und Elementare Musikpädagogik an der Hochschule für Musik „Franz Liszt“ in Weimar lehrt.
neue musikzeitung: Frau Professorin Steffen-Wittek, worum geht es in der Elementaren Musikpädagogik?
Marianne Steffen-Wittek: Die Elementare Musikpädagogik (EMP) möchte genauso wie das Schwesternfach Rhythmik zunächst einmal den Kontakt zu hochkarätiger und vielfältiger Musik ermöglichen, egal ob Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen oder älteren Menschen. Professionelle Lehrkräfte der EMP und Rhythmik machen den Gruppenmitgliedern je nach Alter geeignete Musikangebote und arbeiten nach didaktischen und methodischen Gesichtspunkten künstlerisch mit ihnen. Dabei verfolgen die Lehrkräfte keine engen Zielvorgaben, die unbedingt erreicht werden sollen; stattdessen müssen sie in der Lage sein, künstlerische Momente je nach Situation gezielt herbeizuführen und das selbstbestimmte Musiklernen anzuregen.
nmz: Was unterscheidet Rhythmik und Elementare Musikpädagogik voneinander?
Steffen-Wittek: Historisch gesehen hat sich an deutschen Musikhochschulen die Rhythmik als erstes Fach etabliert, das multimediale Musikpraxis in Gruppen lehrt. Bei diesem Studiengang ging es neben dem Beherrschen eines konkreten Instruments (meist des Klaviers) oder der Stimme prozessorientiert um den Einsatz weiterer Instrumente und Klangerzeuger und um die Transformation von Musik, Stimm-Aktionen und Klängen in Bewegung und umgekehrt.
In den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren gab es an den Musikschulen einen erhöhten Bedarf an Musikalischer Früherziehung, wie sie damals noch hieß, und der konnte nicht mehr von den Rhythmik-Fachkräften allein abgedeckt werden. Entsprechend wurden im Lauf der Jahre an den Hochschulen Studiengänge für die musikalische Gruppenarbeit mit Kindern eingerichtet und ausgebaut. Mitte der 1990er-Jahre setzte sich für diese Fachrichtung dann die Bezeichnung Elementare Musikpädagogik durch. Schließlich wurde, wie in der Rhythmik schon lange üblich, die EMP für alle Altersgruppen geöffnet. Viele Elemente der Rhythmik und der Orff-Pädagogik sind in die Elementare Musikpädagogik eingeflossen, wobei der Fokus in der Rhythmik gleichermaßen auf der Professionalisierung im Bewegungsbereich wie in der Musik liegt. Mittlerweile arbeiten viele Rhythmikerinnen in der EMP, und vor allem die jüngere Generation erforscht das Thema Rhythmik und EMP wissenschaftlich. Zudem treffen sich der Arbeitskreis Elementare Musikpädagogik (AEMP) und der Arbeitskreis Rhythmik/ Musik und Bewegung (ARMB) nach einem gewissen Turnus zu gemeinsamen Tagungen, da gibt es viele Vernetzungen. Übrigens spreche ich auf die Ausbildung bezogen auch gerne von Komplexer Musikpädagogik.
nmz: Ab welchem Alter können Fertigkeiten vermittelt werden? Das heißt ab wann kann ich Grundlagen für das Erlernen eines Instruments oder für Stimmbildung schaffen?
Steffen-Wittek: Ich möchte noch etwas früher ansetzen: Bevor ich ein Instrument erlerne, muss ich erst einmal von Musik affiziert sein. Ich muss mich also in der Musik wohlfühlen und schon eine bestimmte Neigung und Richtung meiner musikalischen Interessen entwickelt haben, über das Hören oder stimmliche und körperliche Aktion und Reaktion. Dazu ist jeder Mensch fast von Geburt an fähig, denn Säuglinge erleben musikähnliche Strukturen schon durch ihre Bezugspersonen und gemeinsam mit ihnen; das hat die Säuglingsforschung nachgewiesen.
Daher arbeitet die Elementare Musikpädagogik schon seit mehreren Jahrzehnten mit Eltern-Kind-Gruppen, in denen es weniger darum geht, dem Kind selbst Fertigkeiten beizubringen. Stattdessen werden mit den Eltern künstlerische Momente erarbeitet, die sie in Resonanz mit ihrem Kind bringen, sowohl in der Gruppe als auch dann später zu Hause.
Die Arbeit professioneller Musiker setzt sich insofern von der Arbeit von Erzieherinnen ab, als sich die Erfahrungen von Eltern und Kindern auf das Musikalische konzentrieren. Man kann das durchaus mit einem Orchester in einem Eltern-Kind-Konzert vergleichen. Dessen Musikerinnen und Musiker verstehen sich ja nicht als Allgemein- und Sozialpädagogen, sondern als Künstler.
nmz: Welche Überlegungen bestimmen denn die musikalische Arbeit mit Kindern?
Steffen-Wittek: Zunächst bezieht sich unsere Arbeit auf den künstlerisch-musikalischen Zugang. Kinder sollen erst einmal die Eindrücke individuell wahrnehmen und ihre Empfindungen dazu äußern können. Sie müssen nicht alles mögen, was man ihnen anbietet, sondern sollen in diesem Unterricht aus verschiedenen Handlungs- und Rezeptionsebenen mit Musik vertraut werden. Sie sollen ästhetische Erfahrungen sammeln und zum Beispiel durch die Medien erlebte Musik auch selbst einbringen können.
Bei der Begegnung mit Musik gilt es, verschiedene Aspekte zu berücksichtigen: Der anthropologische etwa zeigt, dass Physis und Psyche unmittelbar miteinander verknüpft sind, wenn es um Musik als Ausdrucksmedium und die eigene musikalische Fantasie geht. Unter dem morphologischen Aspekt überlege ich, welche musikalischen Strukturen ich in welcher Form anbiete, damit das Kind sei wahrnimmt. Dann gibt es den neurophysiologischen Aspekt: Was kann ein Kind motorisch-koordinativ umsetzen, welche Spieltechniken lassen sich wie erlernen? Der sozial-kommunikative Aspekt schließlich kommt bei jedem künstlerischen Tun dazu: Nicht nur Dirigenten müssen kommunikativ und interaktiv arbeiten, auch EMP- und Rhythmik-Lehrkräfte.
Neben diesen übergeordneten Aspekten geht es um Aktionsformen: erkunden, experimentieren, das Spiel, die Übung, das Gespräch, das Beobachten, das Improvisieren, Erfinden und Komponieren, die innere Vorstellung.
Und schließlich betrachten wir die Möglichkeiten der Musikaneignung: Körperbewegung, emotionales Erleben, intuitiv-anschauliches und diskursives Durchdenken von Musik, je nach Alter in unterschiedlichen Dosierungen. Es ist wichtig, dass professionelle EMP- und Rhythmik-Lehrkräfte in dieser Weise differenziert an den Unterricht herangehen.
Auch bei der Verarbeitung musikalischer Herausforderungen gibt es verschiedene Bereiche: Was versteht ein Kind emotional und rational von der Musik? Was kann es schon umsetzen, was ist an Können möglich? Was kann man Kindern an Wissen vermitteln? Was können Kinder unter der Anleitung professioneller Musiker gestalten? Und schließlich müssen wir auch die Sozialformen berücksichtigen, also ob Kinder sich etwas alleine oder gemeinsam mit anderen aneignen, ob sie solistisch, mit Partner oder in der Gruppe agieren. All diese Aspekte müssen von einer professionellen Kraft je nach Situation in den Fokus genommen werden.
nmz: Welche Qualifikationen brauchen EMP-Lehrkräfte für die Arbeit?
Steffen-Wittek: An erster Stelle steht die künstlerische Qualifikation, instrumental, stimmlich und in der Bewegung. Dazu kommen pädagogische und schließlich organisatorische Fähigkeiten. Man kann hier durchaus von artistic leadership sprechen.
nmz: Dennoch haben EMP-Kräfte Schwierigkeiten, in die KSK aufgenommen zu werden. Begründet wird das mit der derzeitigen Rechtsprechung, die die Arbeit mit Säuglingen und Kleinkindern in Eltern-Kind-Gruppen nicht als künstlerisch-pädagogisch, sondern als allgemeinpädagogisch einstuft. Welche Erfahrungen haben Sie mit der KSK gemacht?
Steffen-Wittek: Eben das erfahren unsere Absolventinnen auch. Wenn die EMP- und Rhythmik-Lehrkräfte ihre Tätigkeit akribisch beschreiben und dabei die vielen positiven Transfereffekte nennen, die dem Fach gerne angedichtet werden, dann kann sich das in der Lobbyarbeit – die es in dieser Form auch in der Darstellenden und der Bildenden Kunst oder im Sport gibt – vielleicht positiv gegenüber potenziellen Arbeitgebern auswirken. Aber man kann dann eben in genau diese Pädagogikfalle tappen, wenn es um die Aufnahme in die Künstlersozialkasse geht.
nmz: Als Transfereffekte – also willkommene zusätzliche Lerneffekte – beim Musikunterricht werden gern vernetztes Denken, Gemeinschaftsgefühl oder Disziplin genannt. Was halten Sie davon?
Steffen-Wittek: Meiner Auffassung nach ist die Werbung mit Transfereffekten ein Ergebnis des ausgeprägten Konkurrenzdrucks in unserer Gesellschaft. Und wenn man sich diese zusätzlichen Lerneffekte wie etwa Intelligenz einmal ansieht: Nach welchen Fähigkeiten beurteilt man Intelligenz? Und wem soll die abstrakt vorhandene Intelligenz nützen? Oder wem nützen ein abstrakt vorhandenes Gemeinschaftsgefühl und Disziplin, um einmal von den so genannten Sekundärtugenden zu sprechen? Es muss stutzig machen, dass das Interesse an Musik als Selbstzweck offensichtlich als Begründung für das Verfolgen dieser Neigung nicht reicht. Wenn ein Kind selbst mit Musik oder etwas anderem in Berührung kommt, Neugier und vielleicht Interesse zeigt, braucht es professionelle Anleitung und eine kultursensible Begleitung, unabhängig davon, wie schnell es etwas lernt und ob sich möglicherweise Transfereffekte einstellen.
Daher rate ich EMP- und Rhythmik-Lehrkräften, nicht mit einem Zusatznutzen zu argumentieren, sondern dazu zu stehen, dass Menschen ihrem Interesse an Musik, Fußball oder Mathematik – je nachdem – auch nachgehen können sollen. Und Künstler ist laut Definition des Künstlersozialversicherungsgesetzes, wer Darstellende oder Bildende Kunst, Publizistik oder Musik ausübt oder lehrt.
nmz: Weshalb werden die Transfereffekte von Eltern als so wichtig empfunden?
Steffen-Wittek: Man kann Eltern diese Erwartungshaltung und Pädagoginnen diese Werbestrategie kaum verübeln. Eltern erhoffen sich von den Transfereffekten ein besseres Abschneiden ihrer Kinder in der selektiven Schule und schließlich auf dem Arbeitsmarkt. Schon in der Schule lernen wir, dass wir am weitesten kommen, wenn wir in Konkurrenz zu anderen schneller lernen. Als Voraussetzung für beruflichen Erfolg gelten das perfekte Bewerbungsschreiben und die möglichst vorteilhaft gestaltete Aufzählung aller Aktivitäten und Kenntnisse. Alles wird auf Hochglanz poliert, und am weitesten kommt, wer sich am besten vermarktet. Schon da müsste man hinterfragen, ob diese Selbstvermarktungsstrategie und permanente Selbstdarstellung einen gesellschaftlichen Wert an sich hat oder ob man einfach dazu gezwungen ist, um überhaupt einen Job zu bekommen. Auch an der Art, in der die Rektorenkonferenz der Musikhochschulen den Fortbestand der Künstlersozialkasse begründet, lässt sich dieses gesellschaftlich etablierte und omnipräsente Konkurrenzdenken ablesen: Der Gesellschaft sei bewusst, was sie für die Zukunft an ihren Kreativen habe. Für mich klingt das so, als würden kreative Menschen lediglich nach ihrem Nutzwert für den Standort Deutschland eingeschätzt. Es dreht sich weniger darum, wie es ihnen mit der Einrichtung Künstlersozialkasse geht, als vielmehr darum, ob die KSK dem Staat etwas bringt.
nmz: Wie könnte ein Wandel in der Wahrnehmung Elementarer Musikpädagogik erreicht werden, sowohl bei den betroffenen Pädagoginnen und Pädagogen als auch in der Rechtsprechung?
Steffen-Wittek: Durch konstante kulturpolitische Aktivität und Bewusstseinsbildung, durch Gespräche, Medien- und Gremienarbeit. Und ich rate allen Betroffenen dazu, sich ihre künstlerische Identität nicht kleinreden zu lassen. Sie sollten ihre Musikpraxis-Angebote nicht mit Transfereffekten rechtfertigen, sondern den Selbstzweck künstlerischer Betätigung betonen. Nach innen sollten kluge Argumente ausgetauscht werden, nach außen braucht es eine professionelle Beratung und starke Interessenvertretung. Doch selbst wenn – wie zu hoffen ist – entsprechende Gerichtsurteile positiv für die EMP-und Rhythmik-Lehrkräfte ausfallen, bleibt der fade Beigeschmack, dass erfolgreiche Lobbyarbeit in einer Konkurrenzgesellschaft immer auch bedeutet, andere auszubooten.