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Kulturelle Bildung als Menschenrecht

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Welche Herausforderungen die Landesverbände des DTKV im neuen Jahr 2023 sehen
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Was sind die Herausforderungen des neuen Jahres? Welche Ziele haben sich die Landesverbände des DTKV für 2023 gesteckt? Und gibt es Änderungen, die sie sich für die eigene Verbandsarbeit wünschen? Jahreswenden sind stets und von jeher eine gute Gelegenheit, den Blick nach vorn zu richten. Unsere Umfrage unter den Vertreter*innen der Landesverbände im Deutschen Tonkünstlerverband brachte unter anderem einen Wunsch zum Vorschein, den alle mit dem neuen Jahr verbinden – den Wunsch, ein Zurück zu vor-pandemischen Bedingungen in der Kultur mit dem Schritt in eine abgesicherte Zukunft zu verbinden.

Die schwierige politische und wirtschaftliche Situation zehrt an vielen Menschen“, heißt es aus dem Landesverband Bayern. „Das zeigt sich ganz deutlich bei den Mitgliedern, die nach Corona die große Sorge haben, dass nun die nächs­te große Krise folgt, und sie weitere finanzielle Einbußen hinnehmen müssen. Die beruflichen Anforderungen und alltäglichen Geschäfte werden immer komplizierter und komplexer; hier bedarf es kompetenter Unterstützung, aber auch persönlicher Hilfestellung durch den Verband.“ Beratung und Kommunikation seien deshalb inzwischen wichtige Säulen im Verbandsleben und würden für die nächsten Jahre zu einem existenziellen Baustein der Verbandsarbeit. „Der Tonkünstlerverband Bayern“, so TKVB-Geschäftsführerin Andrea Fink, „sieht diese Entwicklung nicht als Herausforderung, sondern als große Chance.“

Die größte Herausforderung für viele Musiker*innen sieht auch der LV Berlin 2023 in der Existenzsicherung durch hybride Erwerbsarbeit in vielfältigen flexiblen Beschäftigungsformen: „Durch steigende Mieten, Energie- und Lebenshaltungskosten, eine hohe Inflationsrate und ein unverändert kompetitives Arbeitsumfeld in der freien Szene verschärft sich die Lage weiter. Berufsverbände sind hier gefragt, sich nicht nur im öffentlich geförderten Bereich für faire Vergütungen einzusetzen, sondern auch bei freien Musikprojekten und Musikunterricht auf die Etablierung von Mindeststandards für existenzsichernde Honorare hinzuwirken.“

Verstärkter Trend zum Digitalen

Einigkeit herrscht bei dem Befund, dass Corona seine Spuren in der Musikwelt hinterlassen und einen Trend zum Digitalen verstärkt hat: „Nach dem weitgehenden Wegfall sämtlicher Auftrittsmöglichkeiten, den Absagen von Konzerten und den eingeschränkten Unterrichtsmöglichkeiten wünschen wir uns Kontinuität, Verlässlichkeit und Planungssicherheit“, sagt der TKVB-Vorsitzende Prof. Ulrich Nicolai. Wie er wünschen sich auch die anderen Landesverbandsvertreter*innen übereinstimmend, dass das Publikum in die Konzertsäle zurückkehrt. „Viele kleinere Konzertveranstalter tun sich mit einem Neubeginn schwer, da das Publikum die Konzertangebote noch zögerlich annimmt und manche Aufführungsorte schlicht weggefallen sind“, weiß auch Peter-Christian Reimers, Vorsitzender des DTKV Saar. Er macht dafür neben Corona-Spätfolgen auch die momentane wirtschaftliche Krise verantwortlich: „Künstler*innen, die auf diese Auftrittsmöglichkeiten im kleineren Rahmen angewiesen sind, haben nach wie vor Einkommensverluste.“ Die größte Herausforderung für konzertierende wie unterrichtende Mitglieder seines Landesverbandes sieht Reimers im kommenden Jahr daher weiterhin in dem Versuch, an die Situation vor der Pandemie anzuknüpfen und sich gleichzeitig den neuen Gegebenheiten anzupassen. Lehrende würden in Zukunft Onlineunterricht zumindest als Zusatzangebot anbieten müssen, da viele Schüler*innen dies mittlerweile erwarten würden. Diese zusätzliche Möglichkeit habe durchaus Vorteile, so Reimers: „Aber Onlineunterricht benötigt auch einen erheblichen technischen Aufwand, der mit beträchtlichen Kosten verbunden ist – sowohl für die Lehrenden als auch für die Schüler*innen.“ Für manche Unterrichtsfächer, etwa den Gesangsunterricht, sei diese Möglichkeit zudem keine wirkliche Alternative.

Mehr Publikum wünscht man sich auch in Hessen für die Musiker*innen. Das Problem: „Die Veranstalter*innen haben kleinere Etats als früher, Veranstaltungen werden abgesagt oder gar nicht erst gebucht“, hat Heike Schulte-Michaelis beobachtet. Und auch Zuschauer*innen seien weiterhin zurückhaltend, was Veranstaltungen generell schwierig mache: „Selbst die öffentliche Hand muss sparen. Wenn Kulturetats gekürzt werden, trifft uns das alle.“ Im Verband müsse deshalb auch 2023 verstärkt dafür gekämpft werden, dass es nicht zu weiteren Kürzungen komme: „Im Gegenteil: wir brauchen einen finanziellen Aufschwung.“

Honorare den Bedingungen anpassen

Auch im Landesverband Mecklenburg-Vorpommern verlieren ökonomische Aspekte 2023 nicht an Relevanz, im Gegenteil: „Mecklenburg-Vorpommern“, so die dortige DTKV-Landesvorsitzende Martina Scharstein, „ist weiterhin das Armenhaus Deutschlands. Die höchsten Honorare an öffentlichen Musikschulen werden derzeit am Konservatorium Schwerin gezahlt – 25 Euro, ohne Ferien, ohne Fortzahlung im Krankheitsfall.“ Die Kostensituation macht den Mitgliedern denn auch am meisten zu schaffen: „Die Honorare sind den geänderten Bedingungen nicht angepasst“, meint ein Mitglied aus dem Norden: Die zu erwartenden Nachzahlungen würden wahrscheinlich das vorhandene Vermögen überschreiten, und viele Lebensmittel seien nicht mehr bezahlbar. Die Ziele für 2023 würden da auf der Hand liegen: „Wenn ich die neuen Einschränkungen ohne große Blessuren überlebe, wäre das schon gut. Planbar ist das nicht.“ Die Energie-Krise wirft auch für die ökonomisch besser gestellten Bayern einen Schatten auf die Zukunft der Branche. „Wir streben“, so Andrea Fink, „deshalb den Ausbau unserer Förderungen an, um unseren Mitgliedern weiterhin viele Möglichkeiten zu eröffnen. Und zu guter Letzt bleibt der Wunsch, dass der Zusammenhalt im Verband, unter den Mitgliedern, der durch Corona entstanden ist, bestehen bleibt und sich weiterentwickelt.“

Umso wichtiger ist 2023 (endlich!) eine angemessene Vergütung künstlerischer Arbeit. Ein wichtiger Wunsch bezieht sich entsprechend auf die Wertschätzung der musikalisch-pädagogischen Arbeit. „Ich würde mir seitens der Politik überhaupt mehr Wertschätzung und mehr Aufmerksamkeit für die Kulturbranche wünschen“, sagt etwa Martin Behm, DTKV Brandenburg. Insbesondere der freiberufliche Bereich gerate zu oft ins Hintertreffen. Darüber hinaus schätzen auch die Brandenburger*innen das Schultern der Inflation, insbesondere der gestiegenen Energiekosten, als größte Herausforderung ein. Abzuwarten bleibe außerdem, was, so Behm, „bezüglich Umsatzsteuer und Scheinselbständigkeit noch auf uns zukommt“. Ein Thema, das auch den Landesverband Baden-Württemberg umtreibt: Zur Änderung bei der Mehrwertsteuerpflicht für Bildungseinrichtungen und den Konsequenzen für privaten Musikunterricht ginge es 2023 vordringlich um die Durchsetzung erforderlicher Mindesthonorare und die Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Lage der Mitglieder: „Die teilweise prekäre Einkommenssituation muss sich verbessern“, so Geschäftsführer Ralf Püpcke. Er wünscht sich für 2023 Offenheit zur Erschließung neuer Geschäftsfelder, eine Start-Up-Kultur und Gründergeist. In diesem Zusammenhang betont er die Wichtigkeit, den Mitgliedern vor Ort auch bei der Argumentation ihrer Bedarfe zu unterstützen. Ob das im Alleingang der Disziplinen funktioniert, sieht Püpcke eher skeptisch: „Es ist an der Zeit, interdisziplinäres Denken und Handeln in Bezug auf die gesellschaftlichen Mega-Trends zu verankern.“

Belange der Musik in den Fokus rücken

Verstärkt wollen alle Landesverbände auch politisch aktiv werden. Baden-Württemberg möchte sich dafür einsetzen, dass „Kultur als Staatsziel im Grundgesetz verankert wird“. Eine Forderung, die auch im Saarland auf der Agenda für 2023 steht. „Für die Zukunft wäre eine ausgiebige Diskussion notwendig über die meiner Meinung nach vorhandene Systemrelevanz von Kultur im Allgemeinen und der Musik im Besonderen“, sagt auch Peter-Christian Reimers: „Es kann nicht sein, dass das Angebot von Kultur und kulturellen Veranstaltungen nur nach Kassenlage erfolgt. Kultur und im besonderen Maße die Beschäftigung mit Musik ist ein originäres menschliches Ausdrucksmittel und Bedürfnis und gehört zu einem menschenwürdigen Leben unbedingt dazu. Das Menschenrecht auf kulturelle Beschäftigung und Bildung und sollte den Menschenrechten auf körperliche Unversehrtheit und freie Meinungsäußerung gleichgestellt werden und die Bereitstellung entsprechender Angebote zu den im Grundgesetz verankerten Pflichten unseres demokratischen Rechtsstaates gehören.“

In Hessen will man die Landtagswahl 2023 nutzen: „Wir möchten in einen stärkeren Kontakt mit Politiker*innen treten, um die Belange der Musik in den Fokus zu rücken“, sagt Heike Schulte-Michaelis. „Wir möchten erreichen, dass Musikschulen besser gefördert werden, aber auch die soloselbständigen Musiklehrkräfte nicht vergessen werden, die einen Hauptanteil an der musikalischen Bildung im Land tragen.“ Wichtig sei es überdies, sich weiter für musikalische Bildung einzusetzen, so auch für qualifizierte Fachkräfte im Ganztagesangebot von Grundschulen, für adäquate Bezahlung und Zeitfenster, die auch qualifizierte Angebote wie Einzelunterricht an Schulen ermöglichen. Eine Forderung, die auch in Mecklenburg-Vorpommern unterstützt wird: „Aus der Perspektive der Musikpädagogin wünsche ich mir mehr musische Bildung für die Kleinen unabhängig vom Geldbeutel der Eltern, also Angebote in allen Kitas und Grundschulen. Das kostet zwar, ist aber eine Investition in die Zukunft.“

Verbandsübergreifend plädiert Berlin für einen höheren Organisationsgrad, insbesondere unter Freischaffenden: „Es ist schwierig, potentielle jüngere Neumitglieder zu erreichen, nachdem (oder kurz bevor) diese in den Beruf einsteigen. An den meisten Ausbildungsinstitutionen sind Berufsverbände nicht bekannt und präsent genug, und es müsste gezielte und strategische Mitgliederakquise betrieben werden. Die Verbände sollten versuchen, ihre Repräsentationsbasis zu vergrößern und einen erheblich höheren Teil der Musiker*innen zu vertreten, um mehr politisches Gewicht (auch im Vergleich zu den Gewerkschaften) zu erhalten.“ Mehr Mitglieder zu gewinnen, wird 2023 in allen Landesverbänden Teil einer Rückkehr zur Normalität sein. Dazu gehöre unter anderem, so ist aus dem Saarland zu hören, „die Angebote vor der Pandemie wieder aufzunehmen“. Also Basics wie Weiterbildungsangebote, Vorbereitungskurse zur Aufnahmeprüfung oder regelmäßige Schüler- und Mitgliederkonzerte – und grundlegende Informationen. Der Landesverband Hamburg etwa engagiert sich 2023 in diesem Sinne erstmals in Zusammenarbeit mit dem Landesmusik­rat und der Hochschule für Musik und Theater in der Etablierung einer Musikmesse, u.a. um eine junge Zielgruppe an das vielfältige Feld der Musikberufe heranzuführen.

Für die Musiker*innen in Bayern steht 2023 auch im Zeichen des 75-jährigen Verbandsjubiläums. Die neue Förderung TONKÜNSTLER LIVE SPECIAL ermöglicht allein bis März etwa 190 Konzerte in allen Regionen des Freistaats. Ziel ist es, diese Förderung, die im Rahmen des Förderpakets Freie Kunst durch das Bayerische Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst gefördert wird, fortzuführen. Weitere Initiativen zum neuen Jahr sind die Ausweitung der Beratungsoffensive, die voraussichtlich in die Verlängerung gehen wird sowie die umfangreiche Erweiterung der Fortbildungsangebote. Spannend sei momentan außerdem die Entwicklung eines Podcasts, der im Frühjahr starten soll. Wie sich zeigt, ist das Gefälle zwischen Süd und Nord weiterhin zu spüren. Während im Süden gefeiert wird, hofft man im Norden weiter auf ein Bewusstsein, dass „auf einer Veranstaltung die Künstler auch ruhig mal genau so viel kosten dürfen wie das Buffet!“

Vielen Dank allen, die sich an unserer Umfrage beteiligt haben!

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