Derzeit bewirken der Beschluss des Verbots von geschlechtersensibler Sprache vom 19. März 2024 sowie die Ankündigung der bei einem Verstoß drohenden disziplinarrechtlichen Konsequenzen für Lehrkräfte und Beamte in Bayern Empörung in der Gesellschaft. Bereits zuvor sorgte gegen Ende Februar dieses Jahres ein weiterer Beschluss der Bayerischen Staatsregierung – die „PISA-Offensive“ – für Aufruhr und Proteste. Die Erhöhung der Anzahl der Deutsch- und Mathematikstunden sowie die Zusammenführung der Fächer Musik, Kunst und Werken zu einem Fächerverbund, in dem Stundenkontingente beliebig verteilt werden können, führt zur Kürzung von Unterrichtsstunden in den Kreativfächern für die Jahrgangsstufen 3 und 4. Zugleich wurde – paradoxerweise – Anfang März 2024 140 Grundschulen in Bayern vom Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus das Profil „Musikbegeisterte Grundschule“ verliehen. Die Auszeichnung erfolgte durch Kultusministerin Anna Stolz persönlich. Diese Schulen messen der Musik einen hohen Stellenwert zu, der sich durch ein breites Spektrum an Musiziermöglichkeiten (wie Klassenmusizieren, Liedprojekte, Einrichtungen des Musiklebens vor Ort etc.) äußere. Das sind paradoxe Entscheidungen, die für Verwirrung und Kritik sorgen.
Mathe statt Musik?
Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen: Stundentafel, Kontingente und Fächerverbunde
Bereits Ende des 18. Jahrhunderts wurde der schulische Musikunterricht eingeführt: Ehemals fand dieser als „Sing- oder Gesangsunterricht“ statt und wurde anschließend über mehrere Jahrzehnte hinweg durch musikpädagogische Reformen zum allgemeinen Musikunterricht im heutigen Sinne, der nicht nur das Singen und Musizieren, sondern auch das Hören, Reflektieren und Diskutieren über ästhetisch wahrnehmbare Erlebnisse sowie Interaktionen mit anderen Künsten umfasst, erweitert. Zusätzliche schulische Musikkurse findet man außerdem in Form von Profilklassen wie Streicher-, Bläser oder Chorklassen und Nachmittagsangeboten wie Schulorchester, Chöre oder Instrumental-AGs. Ziele des heutigen Musikunterrichts sind unter anderem die Förderung von kreativen Gestaltungsprozessen sowie von Kompetenzen im motorischen, instrumentalen, gesanglichen, aber auch sozialen, emotionalen und sprachlichen Bereich. Zugleich soll der Unterricht die individuelle Persönlichkeitsbildung sowie das kulturelle Bewusstsein unterstützen. Diese positiven Wirkungen der Musik rechtfertigen den Musikunterricht als „Pflichtteil“ des Fächerkanons einer allgemeinbildenden Schule. Wie viele Unterrichtsstunden in den jeweiligen schulischen Fächern hingegen zu erteilen sind, wird in Stundentafeln der jeweiligen Bundesländer festgelegt. Das deutsche Musikinformationszentrum des Deutschen Musikrats (DMR) berichtet, dass das Fach Musik in den Lehrplänen aller Länder in fast allen Klassenstufen zwischen den Jahrgängen 5 und 10 verankert sei (Stand Juli 2023). In Grundschulen sähe es allerdings anders aus: Je nach Bestimmungen des Bundeslands sei es möglich, dass der Musikunterricht als „ordentliches Schulfach“ im Fächerkanon aufgenommen wird, dennoch könne er auch Bestandteil sogenannter Fächerverbünde sein – auch dies sei je nach Klassenstufe unterschiedlich. Unter Fächerverbund versteht man mehrere einzelne Unterrichtsfächer, die zu einem Unterrichtsfach zusammengefügt werden. Häufig vertreten sind Fächerverbunde der Naturwissenschaften (Biologie, Chemie, Physik) sowie Gesellschaft beziehungsweise Wirtschaft und Politik beispielsweise in Sekundarstufe I. In der Regel werde ein bestimmtes Stundenkontingent für die jeweiligen Fächer oder Fächerpools vorgegeben, die Verteilung der Kontingentfächer obliege den jeweiligen Schulen. Auch die Entscheidung, ob die geschlossenen Fächerverbunde als neues Unterrichtsfach geführt oder die vorherigen Fächer trotz ihres Zusammenschlusses fachspezifisch unterrichtet werden, kann vom Bundesland festgelegt werden.
Kürzung von Kreativfächern in den Grundschulen Bayerns
Dass das Unterrichtsfach Musik an Grundschulen in Fächerverbunden auftritt, ist keine Seltenheit. Des Öfteren wird Musik mit den Fächern Kunst, Werken und/oder Sport variabel als „Kreativfächer“ zusammengefasst und diesen Fächern werden gemeinsame Stundenkontingente zugeteilt. War bis zum Schuljahr 2023/2024 das Fach Musik ein eigenständiges Fach in den Grundschulen Bayerns, in dem in den Jahrgangsstufen 3 und 4 ein wöchentlich zweistündiger Musikunterricht vorgesehen war, so wird Musik aufgrund des neuen Beschlusses der Bayerischen Staatsregierung mit den Fächern Kunst und Werken nun zu einem Fächerverbund zusammengefasst. Des Weiteren wird für die Jahrgangsstufen 3 und 4 das Stundenkontingent für diese Fächer auf insgesamt 4 Unterrichtsstunden pro Woche begrenzt. Der Beschluss sei nach dem Bayerischen Kultusministerium eine zukunftsorientierte Reaktion auf die Ergebnisse der PISA-Studie, in der ein starker Leistungsabfall in den Fächern Deutsch und Mathematik beobachtbar waren. Die PISA-Offensive Bayern habe das Ziel der Sicherung von Bildungserfolgen und Leistungen. Anhand dieser soll in den Jahrgangsstufen 1 bis 4 je eine Stunde mehr Deutschunterricht und in den Jahrgangsstufen 1 bis 3 je eine Stunde mehr Mathematik pro Woche stattfinden. Verteidigt wird die neue Stundentafel mit der Begründung, dass in den Klassen 1 und 2 je eine Stunde mehr Musik, Kunst oder Werken – also insgesamt 5 statt 4 Unterrichtsstunden – zum Verteilen vorgesehen sei. Kultusministerin Anna Stolz sagt hierzu, dass es in erster Linie darum ginge, „die Basiskompetenzen der Schülerinnen und Schüler zu stärken, also Lesen, Schreiben, Rechnen“. Zugleich betont sie – in widersprüchlicher Weise – die Wichtigkeit einer ganzheitlichen Bildung und erklärt in einem Interview mit BR-Klassik, dass das Musizieren Kreativität, Kommunikation sowie Kooperation fördere und somit „enorm positive Wirkung auf das Schulleben, auf das Miteinander“ habe, wovon die jüngeren Schüler*innen in ihrer späteren Lebenslaufbahn profitieren würden. Der neue Stundenplan diene einer verbesserten Förderung und nicht dazu, einzelne Fächer „gegeneinander auszuspielen“. In der Stundentafel an bayerischen Grundschulen sei zudem eine „Flexible Stunde“ vorgesehen, die für eine „flexible Förderung“ von Fächern mit entsprechendem Bedarf vorgegeben sei. Diese könne jedem Fach zugeordnet werden – so das Ministerium –, sodass sie auch für Musik genutzt werden dürfe.
Die Problematik, die bei der Diskussion über Zusammenlegungen der Kreativfächer zu Verbunden übersehen wird beziehungsweise unbeachtet bleibt, ist der bundesweit herrschende Mangel an Lehrkräften – insbesondere in musisch-kreativen Bereichen. Mehrfach wird berichtet, dass der Musikunterricht an Grundschulen, aber auch an weiterführenden Schulen, entweder nicht stattfinde oder von fachfremden Lehrpersonen aufgrund des Lehrkräftemangels nicht fachgerecht erteilt werde. In Bremen wurde das Fach Musik bereits kurzerhand in den Cluster „Ästhetische Fächer“ (Sport, Kunst, Musik) zusammengefasst: Sobald eines dieser drei Fächer unterrichtet wird, sei die Pflicht erfüllt gewesen. Man kann vorhersehen, dass hierbei das Fach Musik dasjenige sein wird, das dabei zu kurz kommt. Dabei stellt sich die Frage, ob dies zukünftig auch in anderen Bundesländern beobachtbar sein wird – die Kürzung der Stunden spricht leider dafür. Die Auszeichnung „Musikbegeisterte Grundschulen“ in Bayern als Würdigung für Schulen mit besonders musikalischem Schwerpunkt solle als Zeichen der Wertschätzung des Musikunterrichts dienen, denn laut Stolz gäbe es in Bayern bereits einen sehr hochwertigen Musikunterricht und toll ausgebildete Lehrkräfte. Während die mit diesem Titel ausgezeichneten Grundschulen eine einmalige Geldsumme in Höhe von 1000 Euro zur Finanzierung weiterer musikalischer Projekte und ein repräsentatives Profilschild erhalten, scheinen mehr als 2000 Grundschulen sowohl in der Ausstattung – das Personal inbegriffen – als auch in der Ausführung des Musikunterrichts eher auf dem Trockenen sitzen zu bleiben.
Relevanz des Musikunterrichts: Spielerisches Entdecken bis hin zur Unterstützung individueller Lernwege]
Zugunsten des Spracherwerbs bzw. des Erweiterns der Sprachfähigkeit den Musikunterricht zu kürzen, setzt die Widersprüchlichkeit der ganzen Argumentation fort, denn die Förderung des Spracherwerbs geschieht auch in der Musik: Beispielsweise unterstützt Singen, aber auch der ästhetische Diskurs im musisch-künstlerischen Bereich den sprachlichen Umgang sowie die Erweiterung des Wortschatzes. Musikalische Prozesse und sprachliche Syntax werden auf ähnliche Weise in vergleichbaren Hirnarealen verarbeitet. Zugleich wird über die kognitive Aktivierung, die beispielsweise durch Instrumentalspiel, Komposition oder analytisches Erfassen vom im Musikunterricht Gehörten hervorgerufen werden kann, auch der sozial-emotionale Bereich angeregt. Vielen ist hierbei nicht bewusst, dass das „musikalische Hören“ in allen Bereichen des Lebens eine Rolle spielt, denn dabei muss es nicht um das aktive Musizieren gehen. Musik begleitet in allen Lebenslagen, zum Beispiel wird man beim Einkaufen, Filmschauen, bei Sportfesten oder Demonstrationen mit musikalischen Klängen konfrontiert, die das Leben beeinflussen können. Bereits in der pränatalen Entwicklung ist der Klang durch die Fähigkeit der Wahrnehmung und Zuordnung im Vordergrund. Es sind ästhetische Wahrnehmungen, die dadurch wertvoller werden, indem sie im Laufe des Alters verbalisiert und ggf. mit Emotionen verbunden werden, die dann in der Musik auch ausgedrückt werden können. Soziale Kompetenzen entstehen durch das Miteinander-Musizieren in Klassengemeinschaften, Orchestern oder Chören: Kinder entdecken Freude und Zugehörigkeitsgefühl, aber auch ein gewisses Selbstvertrauen aus einer lernförderlichen Atmosphäre des Musikunterrichts, der einerseits einen explorativ-kreativen Raum bietet, in dem Kinder Musik auf entdeckerische Art und Weise erleben dürfen, und andererseits theoretische Grundlagen vermittelt, anhand derer das musikalische Wissen aufgebaut und erweitert werden kann.
Leider ist immer häufiger zu sehen, dass viele Kinder und junge Schüler*innen in Schulen wenig zum Singen kommen und die meisten Kinderlieder gar nicht mehr kennen. Dadurch kann den Kindern weder die Offenohrigkeit noch eine Repertoirevielfalt geboten werden, sodass die Aufrechterhaltung und Weiterführung der musikalischen Kultur nur bedingt stattfinden kann, wenn die zukünftigen Generationen hierbei nicht unterstützt werden. So wird die musikalische Bildung zukünftig hauptsächlich nur noch von der sozialen Herkunft abhängen, denn wenn die Schüler*innen nicht in Schulen mit Musik in Kontakt kommen, bleibt es in dem Fall die „Aufgabe“ der Familien. Die Kette an Problemen setzt sich aber dann weiterhin fort: Nicht alle Familien haben daheim die Möglichkeit des Zugangs zu einer musikalischen Erlebniswelt, das Musizieren im privaten Rahmen kann finanziell eine kostspielige Sache werden. Zudem nimmt das Kind das Musizieren daheim anders wahr, als wenn es in Schulen gemeinsam mit Gleichaltrigen musiziert.
Problematik an Schulen: Lehrkräftemangel
Der Mangel an Fachlehrkräften war bereits vor Corona sichtbar – insbesondere betraf dies die MINT-Fächer, aber auch die „Kreativfächer“ wie Musik oder Kunst, da es häufig mehr Stellenangebote als Absolvierende eines Lehramtsstudiums in diesen Fächern gab. Laut einer Prognose der KMK sollen bis 2035 68.000 Lehrkräfte an Schulen fehlen. Der Mangel an Lehrkräften begründet sich häufig daraus, dass viele Lehramtsstudierende während ihrer Studienzeit neue Interessen entdecken und einen anderen Weg einschlagen, unter anderem wegen der kritischen Aspekte der Lehrkräfteausbildung (z. B. schlechte Bedingungen im Referendariat) sowie wegen der kritischen Berufsperspektiven. Die Entscheidung des Bayerischen Kultusministeriums vereinfacht diese Perspektiven keineswegs: Die Kürzung von Musikunterrichtsstunden verschärft nur noch den Mangel, da die berufliche Laufbahn nicht attraktiver gemacht wird, sondern eine gewisse Verunsicherung hervorruft. Die Maßnahme, gegen die mangelhaften Ergebnisse der PISA-Studien anzugehen, sollte nicht sein, die als „unwichtig“ betrachteten Fächer zusammenzuschließen und dagegen Unterrichtsstunden von Fächern wie Mathematik und Deutsch, die laut Stolz scheinbar mehr „Grundkompetenzen“ vermitteln sollen als Musik oder Kunst, zu vermehren. Um optimistisch auf eine Behebung des Personalmangels blicken zu können, sollten die ersten Schritte nicht die Kürzung von Unterrichtsfächern, sondern eine Verbesserung der Ausbildungswege sowie der beruflichen Chancen für angehende Lehrkräfte aller Fächer sein, wovon auch die Unterrichtsqualität profitieren würde.
Proteste gegen das PISA-Paket
Die PISA-Offensive des Bayerischen Kultusministeriums sorgt für Empörung – unter anderem bei Lehrkräften, Musikverbänden und Musikräten. Bekannte Künstler*innen wie Anne-Sophie Mutter, Sir Simon Rattle und Julia Fischer unterzeichneten einen Brief an den Ministerpräsidenten und die Kultusministerin des Bundeslands Bayern als Protest gegen das PISA-Paket und für die Ermöglichung von Teilhabe an Kunst und Musik in schulischen Einrichtungen. Der Bayerische Musikrat kritisiert die Entscheidung des Kultusministeriums, die bereits länger befürchtet wurde, und versichert seine Bemühungen, die die Ausgestaltung der Lehrkräfteausbildung betreffen. Zudem läuft eine Online-Petition gegen die Zusammenlegung der Fächer Kunst, Musik und Werken in den Grundschulen Bayerns.
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