Ute-Gabriela Schneppat: Liebe Heike, die Begleitumstände des Releases deiner fünften CD im Mai sind nahezu dramatisch. Wie hast du es geschafft, trotz deiner Erkrankung die Belastung einer CD-Produktion zu stemmen?
Heike Matthiesen: Die Jahre mit den vielen Operationen sind gottlob vorbei. Ich bin inzwischen gut eingestellt. Mein Leben hat sich durch den Krebs sehr gewandelt. Ich habe gelernt, mit den Grenzen, die mir meine Erkrankung auferlegt, zu leben und mich mit ihnen zu arrangieren. Ich akzeptiere, dass ich nur begrenzt Energie habe und teile sie mir gezielt ein. Ich bin gezwungen, effektiv zu arbeiten, Prioritäten zu setzen und mit meinen Kräften zu haushalten. Ich bin im Stadium 4 – und es geht mir gut. Ich tue aber natürlich auch etwas dafür, achte auf meine Ernährung, treibe so gut ich kann Sport und versuche, so optimistisch wie möglich mein Leben zu leben.
Gerade die Einstudierung und Produktion meiner CD war mir eine große mentale und emotionale Unterstützung: Ursprünglich wollte ich mich mit dem Thema Tod in der Stückauswahl beschäftigen. Nach der Diagnose Krebs Stadium 4 ist dies ja naheliegend. Aber ich habe sehr schnell gemerkt, dass mich dies zu sehr runterzieht. Ich brauchte Licht, Leichtigkeit – also E-Dur. Und so habe ich mich mit Stücken beschäftigt, die diesen Gegenentwurf zu meiner Diagnose zum Leben erwecken. Ich habe mir mit dieser CD meinen eigenen psychischen Anker geschaffen. Die CD ist zu meiner inneren Sonne geworden.
Schneppat: Gibt es Unterschiede bei der Produktion der neuen CD im Vergleich zu vergangenen CD-Produktionen?
Matthiesen: Ja einige. Zunächst hat die Produktion viel länger gebraucht als geplant. Durch meine Erkrankung hat sich alles um etwa ein Jahr nach hinten verschoben. Aber ich war einfach vorher durch die ganzen belastenden Behandlungen so erschöpft, dass ich teilweise nur eine Stunde am Tag üben konnte. Da habe ich dann ein sehr effektives Techniktraining durchgezogen. Das Ergebnis des Resettings meiner Technik: Ich bin technisch so fit, dass hochvirtuose Stücke wie auf der neuen CD überhaupt kein Problem für mich darstellen. Es ist einfach ein Vergnügen, die Finger tanzen zu lassen.
Mein neues Label hat sehr viel Verständnis für meine Situation. So war es kein Problem, dass sich die Produktion verschoben hat. Für mich war es eine große Überraschung, wie positiv auf meine Erkrankung reagiert wurde. Krankheit ist doch ein Tabu im Musikleben. Ich habe daher mit großen Bauchschmerzen meine Erkrankung publik gemacht. Ich bekomme aber trotzdem Konzertanfragen. Früher habe ich geglaubt, dass ich nicht mehr gebucht werden würde, wenn ich mal ein Konzert absagen muss. Aber das stimmt nicht. Ich würde mir wünschen, dass das Thema Krankheit bei Musiker*innen nicht mehr tabubehaftet ist. Der größte Unterschied zu den vergangenen CD-Produktionen ist, dass ich mir für die Vermarktung meiner CD Profis an Bord geholt habe. Das kostet natürlich, aber lohnt sich. Ich war zum Beispiel schon beim WDR und SWR für Interviews, und Rezensionen erscheinen auch in großen Zeitschriften und Magazinen. Zur Finanzierung habe ich ein Crowdfunding gemacht, das natürlich auch schon für erste Aufmerksamkeit gesorgt hat.
Schneppat: Bei deiner CD Guitar Ladies hast du Musik von Komponistinnen aus verschiedenen Jahrhunderten eingespielt. Diesmal gibt es Musik ausschließlich von Komponistinnen des 19. Jahrhunderts. Was hat dich an dieser Auswahl gereizt?
Matthiesen: Werke von Komponistinnen für Gitarre solo sind eine Nische. Ich war da Vorstreiterin mit meiner CD Guitar Ladies. Da habe ich Stücke von Komponistinnen ausgewählt, die mir einfach besonders gut gefallen haben. In der Zwischenzeit habe ich weiter geforscht. Seit geraumer Zeit pflege ich eine Datenbank mit Werken für Gitarre von Komponistinnen. Ich bekomme dafür Rückmeldungen rund um den Globus. Natürlich ist hier auch meine Tätigkeit für den Internationalen Arbeitskreis Frau und Musik und das Archiv Frau und Musik von Nutzen. Ich sitze sozusagen durch meine Vorstandstätigkeit an der Quelle. Das Thema Komponistinnen hat während der Pandemie einen regelrechten Boom erlebt. Viele Kolleg*innen haben die Zwangspause genutzt, sich mit neuen Themen auseinanderzusetzen. Die Anfragen an das Archiv haben deutlich zugenommen. Es sind etliche CDs mit Werken von Komponistinnen erschienen. Das neu nach der Pandemie erwachte Konzertleben widmet den Werken von Komponistinnen mehr Aufmerksamkeit.
Bei meinen Recherchen ist mir aufgefallen, dass es scheinbar wenige Stücke für Gitarre solo von Komponistinnen des 19. Jahrhunderts gibt. Die Gitarre war im 19. Jahrhundert ein Modeinstrument bei Gesellschaftsdamen. Es gibt unglaublich viele Portraits von Damen mit Gitarre. Und dass viele Frauen auch in vergangenen Jahrhunderten komponiert haben, ist durchaus bekannt. Von Komponistinnen verlegte Noten findet man aber wenig. Da ist richtige Detektivarbeit angesagt. Komponistinnen verlegten ihre Werke auch unter den Namen ihrer Ehemänner, unter Pseudonymen oder anonym. Nicht umsonst gibt es den Ausspruch: Herr Anonymus ist eine Frau.
Eine Frau wie Catherina Pratten, die in der damaligen Zeit selbst einen Verlag gründete, war da eine große Ausnahme. Aber auch sie hat zum Teil ihre Stücke unter dem Namen ihres Mannes als Madame Sidney Pratten herausgebracht. Andere Stücke trugen nur ihre Initialen, andere ihren Mädchennamen Pelzer. Da muss man erst einmal dahinterkommen, dass hinter diesen ganzen Namen ein und dieselbe Person steht! Und so geht es bei vielen Komponistinnen der vergangenen Jahrhunderte. Da ist noch sehr viel Forschungsarbeit zu leisten…
Schneppat: Kannst du uns etwas über die Komponistinnen erzählen, deren Stücke auf deiner CD zu hören sind?
Matthiesen: Da ist zum einen Catherina Josephina Pratten. Das war schon eine außergewöhnliche Frau: vom kölschen Mädchen zur gefeierten Gitarrenvirtuosin, Komponistin, Verlegerin und Pädagogin. Catherina Pratten hat den gesamten britischen Adel unterrichtet. Sogar die Kinder von Queen Victoria zählten zu ihren Schüler*innen. Sie hat zwei Gitarrenschulen herausgegeben. Bislang waren vor allem ihre „Lieder ohne Worte“ bekannt, die ich bereits bei den Guitar Ladies aufgenommen hatte. Ich habe mich sehr darüber gefreut, auch andere Stücke von ihr – darunter den hochvirtuosen Carneval de Venice – zu finden und aufzunehmen.
Das genaue Gegenteil zu Catherina Pratten ist Anne Catherine Emmerich, deren wunderbare sechs Variationen auf meiner CD zu hören sind. Von ihr gibt es nur dieses bezaubernde Stück. Sonst nichts. Außer einem fraglichen Geburtsjahr und ein paar Konzertkritiken ist über sie (noch) nichts bekannt. Emilia Giuliani-Guglielmi, eine uneheliche Tochter des Gitarrenvirtuosen Mauro Giuliani, war verheiratet mit dem Sänger und Komponisten Luigi Guglielmi. Sie trat seit ihrer Kindheit als umjubelte Solistin europaweit auf und gilt als Erfinderin des künstlichen Flageoletts, damals als Doppelflageolett bezeichnet.
Der zweite Carneval auf meiner CD wurde von der Spanierin Maria Dolores de Goni geschrieben. Sie feierte vor allem in den USA große Erfolge und verlegte ihre Werke unter dem Nachnamen ihres zweiten Ehemannes als Mrs. Knoop.
Schneppat: Gibt es Pläne für weitere CDs?
Matthiesen: Oh ja: Mit Ars Produktion sind noch drei weitere CDs geplant. Ich hoffe, dass meine Krankheit mir Zeit lässt, diese Pläne alle zu verwirklichen. 2030 soll ja von Biontech das für mich perfekte Heilmittel herauskommen. Ich hoffe, dass ich bis dahin den Krebs in Schach halten kann.
Schneppat: Wir wünschen dir von ganzem Herzen, dass dir das gelingt und wir noch viel wunderbare Gitarrenmusik durch dich erleben können!