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Die Cappella Nova, Leitung: Raphael Immoos. Foto: Krause-Pichler
Die Cappella Nova, Leitung: Raphael Immoos. Foto: Krause-Pichler
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„Musik und Gehirn“ als Publikumsmagnet

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Zur D-A-C-H-Tagung 2008 in Zürich
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Selbst der Veranstalter, der SMPV (Schweizerischer Musikpädagogischer Verband), war sichtlich überrascht über den enormen Andrang an der Tagungskasse zur 39. D-A-CH-Tagung an der Musikhochschule Zürich. Das Thema „Musik und Gehirn“ zog sowohl Musikstudierende als auch Lehrer, Hobbymusiker sowie etliche Mediziner, die sich über dieses neue Forschungsgebiet informieren wollten, an.

Zu den Referenten gehörten die Spitzenforscher auf diesem Gebiet zwischen Musik und Neurologie, wie Prof. Lutz Jäncke, der in seinem Einführungsvortrag „Musik als Motor der Hirnplastizität“ mit neuesten Erkenntnissen aufwarten konnte: Die Gehirne von Musikern unterscheiden sich deutlich von denen der Menschen, die nicht Musik ausüben. Jäncke trug sehr anschaulich und mit viel Esprit die Zusammenhänge zwischen Musikausübung und Gedächtnistraining, plastisch dargestellt durch Grafiken und Bilder, vor. Nicht zuletzt verwies er auf sein neues Buch: „Macht Musik schlau?“, das demnächst im Buber-Verlag erscheinen wird. Prof. Jäncke, der seit 2002 Ordinarius für Neurologie an der Universität Zürich ist, hat bereits mehr als 150 wissenschaftliche Arbeiten verfasst.

Dr. Oliver Graber dagegen ist als Komponist, Pianist und Forscher tätig. Sein Vortrag stellte die aktuellsten Entwicklungen auf dem Gebiet der aus musiktheoretischer Anwendersicht bedeutendsten Verfahren wie MEG, PET, fMRI und NIRS vor und präsentierte auf dieser Basis ausgewählte neurowissenschaftliche Forschungsergebnisse zu den Themen Musik und Sprache, Dissonanz sowie „loudness-war“.

Die Pianistin Prof. Heide Görtz, die an der Universität der Künste in Berlin nicht nur Klavier und Klaviermethodik unterrichtet, sondern viele Jahre das Institut für Musikergesundheit leitete, erläuterte den anwesenden Musikern theoretisch und mit Gruppenübungen, „wie der Finger das Gehirn erreicht“. Falsche Übungshaltungen und schlechte Fingerpositionen beeinträchtigen nicht nur das musikalische Ergebnis, sondern können zu ernsthaften gesundheitlichen Schäden führen.

Übungen zur Erkundung des Zusammenspiels von Geist und Körper bot die Baseler Psychotherapeutin Johanna Gutzwiller an. Als erste Frau ihres Faches baute sie nach 1987 am Konservatorium Luzern den Bereich „Musik und Körper – Prävention und Schulung“ auf. Ihr Leitsatz heißt: „Mentales Trainieren bedingt, dass die Ausübenden in der Lage sind, vor dem mentalen Teil zu entspannen, um so die Ausgangslage dafür zu schaffen, effizient zu üben und zu speichern. Mentales Trainieren bedeutet nebst dem Vorstellenkönnen der musikalischen Inhalte das exakte Vorstellen der körperlichen Vorgänge beim Instrumentalspiel und Singen. Mentales Training bedeutet immer auch die Klangvorstellung.“

Die Workshops von Prof. Heide Görtz, Johanna Gutzwiller und Prof. Angelika Hauser wurden von den Tagungsteilnehmern engagiert angenommen. Die Rhythmikerin Hauser, die an der Universität Wien Bewegungsimprovisation und -gestaltung unterrichtet, zeigte in ihrem Kurs, wie die angeborene Musikalität als Grundlage der Kommunikation genutzt werden kann. „Musikalische Sinneswahrnehmung und musikalisches Auffassungsvermögen wird uns buchstäblich in die Wiege gelegt, und das aus gutem Grund. Musikalität befähigt uns, nonverbal Informationen aufzunehmen und auf dieser Basis Sprache zu erlernen. Letzten Endes benötigen wir Musikalität, um zu überleben, das Leben zu bewältigen und es zu gestalten.“

Prof. Anton Haefeli, Lehrer und promovierter Musikwissenschaftler, führte das Auditorium wieder in die Welt der Theorien und der Kritik zurück. Sein Beitrag beleuchtete auf besonders engagierte Weise Geschichte und Legitimation von Musikerziehung und setzte eine deutliche Gegenposition zum Thema „Musik und Gehirn“. Haefeli sieht hierin auch eine Gefahr durch Transferwirkungen der Forschung, zudem weist er auf die unnötige Legitimitierungssucht der Schulmusiker hin, die sich offensichtlich ihren anderen Fachkollegen unterlegen fühlen.

Ein unkonventionelles Konzert der „Cappella Nova“ mit dem Titel „Shakespeare plus a Sax“ entspann-te und erbaute die Teilnehmer gleichermaßen. Mit Werken von Boris Blacher (Vokalisen für Kammerchor), Mauricio Kagel (Burleske für Saxophon und Chor), Thomas Kessler (UA Shakespeare Sonette) und Frank Martin (Songs of Ariel from Shakespeares Tempest) überzeugte das fabelhaft professionelle 16-stimmige Vokalensemble unter der Leitung von Raphael Immoos und der Saxophonist Marcus Weiss.

Prof. Dr. Eckart Altenmüller, der Direktor des Institutes für Musikphysiologie und Musiker-Medizin an der Hochschule für Musik und Theater Hannover, erläuterte in seinem Vortrag beeindruckend, wie und warum Musizieren zu den schwierigsten menschlichen Leistungen gehört. Gleichzeitig werden beim Üben der Gehörsinn, die Motorik, die Körperwahrnehmung und die Hirnzentren, die Emotionen verarbeiten, beansprucht. Allein für die Verarbeitung der beim Musikhören entstehenden Eindrücke benötigen wir ungefähr 100 Milliarden Nervenzellen. Jahrelanges Training führt daher zu charakteristischen Anpassungsvorgängen der Gehirnvernetzung und sogar der Gehirnstruktur.

Diese Thematik nahm auch Dr. Emmerich Frühwirt, Musikpädagoge aus Bayern, auf und demonstrierte in Filmbeispielen eindrucksvoll seine musiktherapeutische Arbeit mit behinderten Kindern, die mit seiner Methode erstaunliche Fortschritte sowohl in ihrer motorischen Entwicklung als auch in einer erweiterten Konzentrationsfähigkeit machen.

Schlussendlich konnte Dr. Oliver Grewe die Tagungsteilnehmer mit großer Kenntnis und guter Ausstrahlung über den Gänsehauteffekt aufklären. In der Forschung heißt dieser Schauer, der sich bei emotionaler Erregung und besonders bei bestimmter Musik einstellt, „Chill“. „In welcher Beziehung stehen Gefühle mit körperlichen Reaktionen wie Gänsehaut, Schauer über dem Rücken, Tränen oder Herzklopfen? Wie sind Emotionen messbar? Im Rahmen des interdisziplinären Forschungsprojekts „Musik und Emotionen“ am Institut für Musikphysiologie werden diese Fragen von Dr. Grewe bearbeitet.

Die D-A-CH-Tagung in Zürich hat wiederum bewiesen, wie außerordentlich wichtig und fruchtbar ein Austausch von Experten aus den drei Ländern Deutschland, Österreich und Schweiz ist. Da auch die Teilnehmer aus den verschiedenen Ländern angereist waren, ergaben sich auch hier vielfältige Kommunikationsmöglichkeiten.

Zu danken ist dem Organisator Prof. Dr. Bernhard Billeter, der mit größter Umsicht und viel persönlichem Einsatz die Vorbereitung der Tagung geleitet hat, sowie der Hochschule für Musik in Zürich, dessen Direktor Prof. Michael Eidenbenz nicht nur Begrüßungsworte sprach, sondern selbst am dreitägigen Geschehen interessiert teilnahm.

Mit welchem politischen Interesse eine solche Spezialistentagung verfolgt wird, unterstrichen die Worte der Ständerätin Christine Egerszegi-Obrist.

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