Man nehme eine Geige plus Bogen (oder ein anderes Musikinstrument), Notenständer, Noten und Bleistift. Mehr braucht es nicht für den Musikunterricht. Oder doch? Sollen die Handys aus dem Unterricht verbannt werden, weil ohnehin viel zu viel Zeit damit verrinnt, oder gibt es Möglichkeiten, sie sinnvoll und kreativ im Unterricht einzusetzen – Stichwort „Medienerziehung“?
Mit dem Handy tragen inzwischen fast alle Schüler*innen einen kleinen Computer mit sich herum und sind als „Digital Natives“ absolut versiert im Umgang damit. Das iPad hat in viele allgemeinbildende Schulen Einzug gehalten und kann also auch im Musikunterricht weit mehr genutzt werden, als lediglich Lebensdaten von Komponisten oder Ähnliches damit zu recherchieren. Die allermeisten Schüler*innen haben Zugang zu einem Laptop oder PC.
Ohne Frage: Auf die Pandemie hätten wir wohl alle gerne verzichtet. In Sachen Nutzung digitaler Medien haben vor allem die Lockdowns ein Umdenken im Bereich der Unterrichtsmethoden bewirkt, denn die Methoden aus dem analogen Musikunterricht führen am Bildschirm wohl eher zu Frustrationen. Wie wäre es, mit Lust die Möglichkeiten zu nutzen, die ein orts- und zeitunabhängiges Lernen mit Hilfe digitaler Medien ermöglicht? Wird es am Ende nicht sogar dem Lernenden besser gerecht als die einseitige Perspektive eines Lehrenden? Der Gedanke eines „offenen Unterrichts“ oder Freiarbeit in einer vorbereiteten Lernumgebung ist schließlich nicht neu.
Welche Möglichkeiten gibt es also, die digitalen Endgeräte im Unterricht einzusetzen? Ich möchte in zweierlei Hinsicht unterscheiden:
1. Einsatz digitaler Medien im individuellen Instrumentalunterricht versus Lerngruppe (Beispiel allgemeinbildende Schule – auch im Kooperationsbereich),
2. Einsatz verschiedener Tools und damit auch unterschiedlicher digitaler Endgeräte.
Zum ersten Aspekt sei gesagt, dass der Einsatz von digitalen Endgeräten insbesondere im Bereich der allgemeinbildenden Schulen eine wunderbare Möglichkeit bietet alle Schüler*innen mitzunehmen. Wer kennt es nicht: Da sitzt eine absolut inhomogene Lerngruppe, die sich gemeinhin danach gliedert, wer ein Musikinstrument spielt und wer nicht. Wie oft habe ich den Satz von Eltern (insbesondere Müttern) gehört: „Ich selbst bin nicht musikalisch. Ich kann keine Noten lesen“. Ist das wirklich so? Spielen in der Musik nicht vielmehr das Gehör und der kreative Umgang mit musikalischem Material eine zentrale Rolle? Nutzen wir die wunderbare Gelegenheit, im Rahmen eines Projektes mit Schüler*innen in Kleingruppenarbeit eigene Songs zu produzieren. Auf die verschiedenen DAWs (Digital Audio Workstations), die hier genutzt werden können, komme ich später noch – im Abschnitt zu den Tools – zu sprechen.
Aber auch im individuellen Einzelunterricht bieten sich wunderbare Möglichkeiten in puncto Organisation, Lernhelfer, Unterstützung beim Üben etc. Gerade beim Erlernen schwieriger Passagen ist es eine große Hilfe, wenn zur Vertiefung zu Hause ein Video Tutorial zur Verfügung steht, mit dessen Hilfe im Unterricht Besprochenes geübt werden kann.
Erstellen wir Videoaufnahmen von Schüler*innen, so ist dies auch für die Lernenden ein gutes Feedback, sich selbst beim Spielen zu erleben und die Perspektive von außen einnehmen zu können. Die – wenn auch aus der Not geborenen – digitalen Konzertformate hatten den charmanten Nebeneffekt, dass endlich auch die Tante aus Norwegen ihre Nichte zumindest aus der Ferne im Schülerkonzert erleben konnte.
Auch unsere täglichen Begleiter wie Stimmgerät oder Metronom lassen sich zumeist kostenneutral oder zu symbolischen Preisen auf dem Smartphone integrieren. Ebenso in puncto Gehörbildung gibt es zahlreiche Apps, mit denen trainiert werden kann, ohne auf die Anwesenheit einer zweiten Person angewiesen zu sein. Auf einige Schüler*innen wirkt sich der Aspekt der Gamification zusätzlich positiv auf die Motivation aus.
Über welche Tools sprechen wir? Im Zentrum mögen stehen:
• Apps bzw. webbasierte Tools
• DAWs (Digital Audio Workstations – siehe oben)
• Videoproduktion
• Audioaufnahmen
Nichts wandelt sich so schnell wie das Angebot der Apps. Manche verschwinden wieder vom Markt oder werden nicht zuverlässig gewartet. Auch die Preisgestaltung kann sich von jetzt auf gleich verändern, was eine App dann mehr oder weniger attraktiv gestaltet. Natürlich gibt es einige Klassiker auf die sicherlich niemand mehr verzichten möchte. Abgesehen davon sind die Geschmäcker verschieden, mit welcher App man gut zurechtkommt oder nicht. Dennoch seien einige Apps exemplarisch genannt, um die Beispiele konkreter werden zu lassen. Die Auswahl kann als subjektiv gewertet werden und ist weit entfernt von einem Anspruch auf Vollständigkeit. Dafür ist der Markt viel zu groß. Natürlich unterscheiden sich die Angebote zwischen iOS und Android erheblich.
Für den Instrumentalunterricht finde ich persönlich „Tempo“ (Metronom), „Soundcorset“ (Stimmgerät – kann aber viel mehr!), „Chord ai“ (automatische harmonische Analyse) wunderbar. Mit der Metronom App lassen sich mit etwas Geschick auch komplizierte Rhythmen nachbauen, um sie den Schüler*innen nicht nur kognitiv, sondern auch – über das eigene Vormachen hinaus – auditiv zu vermitteln. Alle genannten Apps eignen sich ergänzend für das Üben daheim. Dazu kommen als Trainingsmöglichkeiten noch „Das absolute Gehör“ zum Trainieren von Gehörbildung oder diverse Blattspiel Apps.
Handelt es sich bei den bislang erwähnten Anwendungen um klassische Lernhelfer in digitalem Gewand – sozusagen „alter Wein in neuen Schläuchen“ – so betreten wir beim Musizieren mit Apps ein Terrain mit völlig neuen Möglichkeiten und einer veränderten Ästhetik. Jeder Besitzer eines iPads hat mit „GarageBand“ eine kostenlose Software, die sich gleichermaßen zur Musikproduktion als auch zum freien Musizieren eignet und stilistisch eine große Bandbreite bietet. Eine Alternative bei Android ist „Walk Band“ - auch wenn sie leider nicht ganz mit dem Appleprodukt mithalten kann.
Wir betreten die beiden Felder „Musikproduktion“ und „Live musizieren“: Für die Musikproduktion sind „Cubase“ und „Ableton live“ sicherlich zwei Marktführer – neben dem einfachen, dafür aber kostenlosen „Audacity“. Spannend finde ich als DAW auch „Soundtrap“. Diese DAW ist servergesteuert und kann von verschiedenen Personen simultan oder sukzessiv genutzt werden. Gerade in Projekten mit Schüler*innen ist das sehr reizvoll, da ortsunabhängig gemeinsam an einer Produktion – Musik oder Podcast – gearbeitet werden kann.
Für iOS User ist auf alle Fälle die App „Koala“ zu empfehlen. Hier können verschiedene Klänge gesampelt und bearbeitet werden, anschließend gilt es, verschiedene Sequenzen daraus zu entwickeln und mit ihnen live zu musizieren. Insbesondere in der allgemeinbildenden Schule bietet diese App mit einem niederschwelligen Einstieg vielfältige Möglichkeiten.
Das digitale Musizieren hat sich inzwischen in sehr unterschiedlicher Form etabliert. Stellvertretend seien das klassisch geprägte „DigiEnsemble Berlin“ genannt, in dem ausgebildete Musiker Werke klassischer Konzertliteratur auf Tablets und Smartphones präsentieren.
Ebenfalls in Berlin beheimatet ist der Hersteller von „Playtronica“, einem System, bei dem durch Kontaktketten zwischen allen möglichen organischen Mitteln und der Berührung durch menschliche Körper Klänge hervorgerufen werden (siehe Foto). Einige Praxisbeispiele finden sich auf https://cantouchthis.studio/ Sicherlich spielt hier der kommunikative Aspekt verschiedener Personen eine große Rolle. Dabei bietet sich eine gute Möglichkeit, das Publikum aktiv in das Geschehen einzubinden. Auch die Rolle des Konzertpublikums befindet sich im Wandel.
Fazit: Es lohnt sich, auf digitale Entdeckungsreise zu gehen!