Carlo Domeniconi, lange in Berlin, jetzt in Klein-Machnow bei Berlin lebend, weltbekannter Gitarrist und Komponist, studierte Gitarre bei Erich Bürger (Städtisches Konservatorium Berlin) und Komposition bei Heinz Friedrich Hartig (Hochschule der Künste Berlin), wo er 1969-1992 selbst Professor für Gitarre war. Drei Jahre lehrte er am Staatlichen Konservatorium Istanbul, was seine Kompositionen beeinflusste.
Domeniconi hörte Annika Hinsche auf einer ihrer CDs. Er war von ihrer Spielweise wie über die Kompositionskunst von Raffaele Calace (italienischer Virtuose und Mandolinenbauer) so begeistert, dass er beschloss, ein gleichwertiges modernes Stück für Mandoline zu komponieren. Er erwarb eine Mandoline, um die Techniken besser verstehen zu können, und ging später mit der Solistin die Stücke durch, um ihre Ideen mit aufzunehmen. Das ist der Idealfall für die Entstehung bahnbrechender Werke.
Seine 12 Preludes für Mandoline Solo bilden ein Jahrhundertwerk in der Musik für Mandoline. Verglichen mit der Klaviermusik, ist dieses Werk inhaltlich und im Schwierigkeitsgrad gleichzusetzen mit der von Pianisten gefürchteten orientalischen Fantasie „Islamej“ von A. Balakirev, dem „Gaspard de la nuit“ von Maurice Ravel oder der Bedeutungsfülle der 24 Präludien op. 87 von Dmitrij Schostakowitsch. Annika Hinsche als international gefragte Interpretin war dem Komponisten eine kongeniale Partnerin für die endgültige Ausformung dieser Präludien.
Die Titel der Stücke sind so fantastisch wie die Musik: Es gibt die Worte nicht, trotzdem erinnern sie an etwas: „cha-man“, da denkt man an „Schamane“, und wirklich hört man beschwörende Gesten, meint Masken zu sehen, einen Regentanz. Beeindruckend das „nam-dost“, ein motorischer Ground mit einer langgezogenen einsamen Melodie darüber. Der gesamte Zyklus dauert beglückende 80 Minuten.
Calace (1863–1934) war der virtuoseste Vertreter der Mandoline um 1900. Domeniconi hat nun ebenbürtig komponiert, ohne das Instrument selbst zu spielen. Er erschafft lange Melodiebögen und eine für das kleine Instrument faszinierend reichhaltige Harmonik. Die Anforderungen an die Solistin sind äußerst virtuos. Annika Hinsche meistert das mit bewundernswerter Akrobatik und perfekter Klanggestaltung.
Möglich geworden ist dieser Höhenflug der Mandolinenmusik durch Prof. Marga Wilden-Hüsgen, die die weltweit erste Universitätsprofessur für Mandoline in Köln/Wuppertal erhielt. Sie begann 1980 mit der Entwicklung eines Plektrums aus neuem Material, mit der Anregung, klangvollere Mandolinen zu bauen. Ihr Perfektionsdrang führte zu hervorragenden Studenten, zu denen Annika Hinsche gehörte, bis im Jahre 2007 die Professur auf Caterina Lichtenberg überging, bei der Annika Hinsche ihr Konzertexamen absolvierte und neben der sie seit 2018 einen künstlerischen Lehrauftrag im Hauptfach Mandoline und Ensemblespiel inne hat.
Ich nenne das die „Neue Deutsche Schule“ in der Mandolinistik, weltweit einzigartig. Das dreifache Piano, das Annika Hinsche im Tremolo anbietet, ist so geheimnisvoll, wie es mit den gängigen Plektren aus aller Welt nicht ausführbar ist. Die diffizilen Aufgaben der tonerzeugenden rechten Hand sind den vertracktesten Bogentechniken der Streicher gleichzusetzen. Die Aufnahmetechnik ist hervorragend, dem Tonmeister zur Seite standen der Komponist selbst und Fabian Hinsche, als Gitarrist auch Lehrbeauftragter an der Hochschule für Musik Hanns Eisler, Berlin.
Michael Kubik, Vorstandsmitglied im Verein zur Förderung der Zupfmusik in Berlin (www.vzfz.eu), beantragt seit 2014, die Mandoline zum „Instrument des Jahres“ zu machen. Er gehörte 1979 zu den drei für die Professur in Köln/Wuppertal angefragten Kandidaten, verzichtete aber. Er würde die 12 Preludes im Jahr 2023 gerne in Berlin aufgeführt hören.
CD-Tipp
Carlo Domeniconi: 12 Preludes for Solo Mandolin, Solistin: Annika Hinsche, POOL Music & Media Service GmbH, WW Records LC 23436