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Neue Musik eröffnet Horizonte und setzt Emotionen frei

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Ein Gespräch mit Julia Habiger-Prause, Interpretin für neue Musik, die engagiert im Landesvorstand mitarbeitet
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neue musikzeitung: Sie sind seit Jahren Mitglied im Vorstand des DTKV-Landesverbandes Niedersachsen und auch die 2. Vorsitzende.

Julia Habiger-Prause: Trotz fehlender Erfahrung haben mich viele Menschen 2009 ermutigt, im Vorstand mitzuarbeiten, als eine Stellvertretung gesucht wurde. Ich wollte helfen und stellte mich zur Wahl. Nach elf Jahren Ehrenamt kann ich nur bestätigen, dass die Arbeit den eigenen Horizont erweitert. Man lernt stetig dazu. In drei Jahren sind wieder Wahlen. Ich kann nur jeden ermutigen, sich zur Wahl zu stellen. Neue Ideen, Gedanken und Sichtweisen bereichern. Immerhin vertritt der Verband einen ganzen Berufsstand! Es gehört mehr als ein Musikstudium dazu. Keineswegs soll es aber Willige abschrecken, in einem Amt mitzuarbeiten und sich einzubringen.

Zurzeit sind die Herausforderungen während der Pandemie natürlich größer als sonst. Dank der unermüdlichen Vorsitzenden, Friederike Leithner, der gewissenhaften Schatzmeisterin Friederike Gäbel, dem neuen, geschätzten Schriftführer Ulrich Roscher und einer mutigen, fleißigen Mirjam Büsselmann in der Geschäftsstelle arbeitet der Vorstand effektiv. Dennoch wünsche ich mir für die Zukunft eine Professionalisierung.

nmz: Nun zur neuen Musik. Wie haben Sie als Kind den Kontakt zur Musik gefunden?

Habiger-Prause: In der kleinen Stadt Dschambul (heute Taras) in Kasachstan begann meine musikalische Ausbildung in einer multikulturellen Musikschule. Zusätzlich besuchte ich eine Tanzschule, in der ich kindgerecht Standard- und Lateinamerikanische Tänze und später Volkstanz mit Ballettunterricht erhielt. All diese musikalischen Stilrichtungen beeinflussten mich. Ich fand es als Kind spannend, dass es so viele Kulturen mit dazugehöriger Musik gab. Zuhause herrschte die deutsch-katholische Mentalität mit deutscher Volksmusik und Traditionen, Sowjetschlagern und etwas Popmusik aus dem Westen.

In Deutschland 1990 angekommen, gab es viele Hürden zu überwinden. Als nach neun Monaten unser völlig verstimmtes Klavier ankam, spielte ich ununterbrochen. Trotz finanziell angespannter Lage ließen meine Eltern das Klavier stimmen und meldeten mich an der städtischen Musikschule in Osnabrück an. Dort begegnete ich Menschen wie zum Beispiel Gaswan Zerik­ly (syrischer Pianist, lebt zurzeit in Deutschland), die meine Fähigkeiten erkannten, mir Chancen gaben und mich förderten. Der Osnabrücker Komponistenkreis, der Konzerte mit zeitgenössischer Musik organisierte, gewährte mir oft als Schülerin freien Eintritt. Für all die kleinen Hilfen bin ich heute noch dankbar. Das Studium begann ich 1999 in Osnabrück (damals Zweigstelle von Hannover) bei Peter Florian, später in Detmold.

nmz: Ihr Kontakt mit der neuen Musik …

Habiger-Prause: … gehörte in Osnabrück ganz selbstverständlich zum Studium. Sei es in der Musiktheorie mit Prof. Irmgard Brockmann oder im Hauptfach bei Prof. Peter Florian. Werke unter anderem von Alfred Schnittke oder Maurice Kagel wurden ohne Zwang gehört, analysiert und studiert. Die Dozenten haben sich stets um persönlichen Kontakt zu zeitgenössischen Komponist*innen bemüht, die wir so live kennenlernten. Wir haben mit ihnen über Musik diskutiert, philosophiert und dabei eine Menge gelernt. Es war in jeder Hinsicht trotz der vielen Mühen, allein schon das Notenbild zu begreifen, sehr angenehm, und wir hatten viel zu lachen. Ich blicke mit positivem Gefühl zurück und versuche das Gleiche als Pädagogin weiterzugeben.

nmz: Wie eingreifend ist die Beschäftigung mit neuer Musik für Sie?

Habiger-Prause: Die Beschäftigung mit neu komponierter Musik ist immer ein Dazulernen. Es ist wie sich in ein neues Buch hineinzulesen, bevor man ein intuitives Gefühl für die musikalische Sprache entwickelt. Oft muss man neue Vokabeln trainieren, andere Notationen und Begriffe lernen. Das Neue bereichert, eröffnet Horizonte und setzt Emotionen frei: von Verlegenheitslachen, Freudenrufen bis hin in die letzte Faser getroffen oder berührt zu sein, ist alles dabei. Diese Erfahrung berichten mir auch Studierende und Schüler*innen. Wer sich mit neuer Musik beschäftig macht das auch mit dem nötigen Ernst und guter Ausdrucksfähigkeit. Für diese Musik gibt es naturgemäß nur wenig verbreitete Aufführungstraditionen, das birgt für die eigene Interpretation Chancen und Risiken zugleich. Vor allem sind Ur-Aufführung eine spannende Aufgabe mit großer Verantwortung.

nmz: Gehört die Interpretation von neuer Musik zu Ihrem Repertoire?

Habiger-Prause:  Die Beschäftigung mit neuer Musik fing in der Tat 2010 wieder an. Ich habe zwar immer neue Musik neugierig verfolgt und gehört, habe kleine Stückchen unterrichtet, selbst gespielt aber eher nicht. Das aktive Spielen wurde mit dem ersten Komponistenkonzert des DTKV Nie­dersachsen 2010 in Hannover angestoßen und seitdem sind diese Konzerte meine Termine mit neuer Musik. Darüber hinaus spiele ich Kammermusik und begleite Sänger. Da sind neue Kompositionen öfter im Programm, auch Frauenkompositionen. So gibt es viel zu entdecken!

Mit dem Klaviertrio „TriOSarte“ gibt es ein Konzertprogramm „Living Composers“ mit ausschließlich neuer Musik für Klaviertrio. Dafür haben wir den in Osnabrück lebenden Jazzkomponisten Peter Witte angefragt. Es entstanden „Tres Danzas“, die wir im Oktober 2020 beim Komponistenkonzert in Lüneburg gespielt haben. Die Konzerte sind eine ausgezeichnete Gelegenheit zur Begegnung zwischen Komponist und Interpret. Außerdem werden in Zusammenarbeit mit der Engelbert-Humperdinck-Stiftung Siegburg bundesländerübergreifend Manuskript­archiv-Konzerte organisiert, in denen Stücke aus deren Fundus nicht veröffentlichter neuer Musik gespielt werden. Inzwischen hat sich auch eine Kooperation mit der „Internationalen Studienwoche für zeitgenössische Musik“ in Lüneburg entwickelt. Es wäre wünschenswert, weitere fruchtbare Kooperationen eingehen zu können.

Die neue Musik begleitet mich im Alltag stetig, gehört zu meinem musikalischen Leben, dennoch bin ich keine ausgesprochene Expertin. Ich befasse mich gerne mit Neuem, neu komponierter oder neu entdeckter Musik. Mich bereichert die Vielfalt sehr. Ich möchte nichts missen.

nmz: Welche Chancen sehen Sie für Interpretierende und Komponierende?

Habiger-Prause: Das ist eine sehr schwierige Frage. Ich denke, es bieten sich viele Chancen, je nachdem aus welcher Perspektive man das Konzertleben betrachtet. Die Neue-Musik-Szene ist groß und wird gefördert. Es gibt Festivals der neuen Musik, Verbände, Vereine. Wir, Interpretierende und Komponierende, können uns gut vernetzen. Corona hat zwar einiges kaputt gemacht, jedoch glaube ich daran, dass vieles danach besser wird. Jedoch müssen wir diese schwere Kriese der Pandemie erst einmal überstehen.
Die Erfahrung zeigt, dass Zuhörer in klassischen Konzerten Vorbehalte gegen neue Musik haben: zu komplex, schwer zu verstehen. Das ist schwer zu ändern, deshalb wäre es optimal, in Live-Konzerten eine kleine Dosis der neuen Musik anzubieten. Das Aufklären des Publikums ist ebenso wichtig wie eine authentische und emotionale Interpretation. Oft sind Zuhörer danach dankbar.

nmz: Haben Sie selbst schon einmal komponiert?

Habiger-Prause: Nein, bis jetzt habe ich bei mir keinen Drang zum Komponieren verspüren können. Das sollte man haben, sonst wird es nicht gut. Als „Medium“ zur Verbreitung der Musik fühle ich mich bis jetzt wohl.

Das Gespräch führte Gunter Sokolowsky

 

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