In den vergangenen Jahren habe ich als Musikerin und Alexandertechnik-Lehrerin deutschlandweit Workshops an Musikschulen gegeben. Neben konkreten Fragen zu Haltung oder Atmung kamen immer wieder auch dringende Fragen aus dem Unterrichtsalltag auf: Wie sollen wir mit der abnehmenden Konzentrationsfähigkeit der Schüler*innen umgehen? Und wie mit dem wachsenden Stress als Lehrkraft? Und dem wachsenden Gestresstsein der Schüler*innen?
Plädoyer für eine vernachlässigte Superkraft
Die Antwort auf diese Fragen hängt meiner Erfahrung nach mit einem Thema zusammen, das unsere Lehrer*innen uns früher im Instrumentalunterricht nicht vermittelt haben. Das wir als so selbstverständlich erachten, dass wir oft gar nicht auf die Idee kommen, es in den Unterricht zu integrieren. Und das gerade in Zeiten von Digitalisierung und Social Media immer wichtiger und wertvoller werden sollte für uns: Das Spüren und Wahrnehmen als Teil des Instrumentalunterrichts.
Spüren heißt präsent sein beim Spielen
Wir alle, Lehrkräfte wie Schülerinnen und Schüler fühlen uns oft gestresst in unserem Alltag. Also versuchen wir die Zeit so effektiv wie möglich zu nutzen und hören Podcasts beim Joggen oder schicken schnell noch eine Nachricht, während wir an der Supermarktkasse warten.
Wie wertvoll, tatsächlich fast schon luxuriös ist also heutzutage ein Ort, an dem man lernen kann, ganz im Moment zu sein. Nur Musikmachen, verbunden mit sich, dem Instrument, dem Klang, dem Raum und den Mitspieler*innen. Aber es ist für uns gar nicht immer so leicht, in diesen Zustand zu kommen.
Spüren und Wahrnehmen kann als eine Schleuse betrachtet werden, in die wir aus unserem pulsierenden Alltag eintreten und in der wir die Aufmerksamkeit und Ruhe finden, die wir zum Musikmachen brauchen. Alles, was mit Spüren, Wahrnehmen und Lauschen zu tun hat, unterstützt unsere Schüler*innen dabei, in der Gegenwart anzukommen und wirklich präsent zu sein. Den Atem wahrnehmen während der Einspielübung. Den Kontakt der Füße auf dem Boden spüren. Oder den Raum wahrnehmen, in dem man ist. Kann ich spielen und gleichzeitig wahrnehmen, wie weit es noch bis an die Decke und bis in die Ecken des Raumes ist? Kann ich meine Töne bis in die Ecken des Raumes schicken? Einfache kleine Übungen, die sich ganz natürlich ins Musikmachen integrieren lassen.
Spüren heißt Sicherheit auf der Bühne
Spüren und Wahrnehmen ist ja nichts neues. Es ist keine Innovation, die man zusätzlich zu allem anderen auch noch in den 30minütigen Unterrichtsslot integrieren muss, sondern etwas, was schon immer ein natürlicher Teil von Musikmachen ist. Und was passiert bei Lampenfieber? Wenn Angst, Adrenalin und negative Gedanken sich in unserem Körper ausbreiten, ziehen sie uns sprichwörtlich den Boden unter den Füßen weg.
Wenn ich aber in Vorbereitung auf den Auftritt meine Aufmerksamkeit auf meinen Atem lenke, auf den Boden unter meinen Füßen und den Raum um mich herum, kann die Angst zwar auftauchen, aber sie hat keine Möglichkeit, mich aus der Bahn zu werfen oder mir den Atem zu rauben. Ich rate meinen Schüler*innen immer, die Angst zu begrüßen: Es ist ok, dass Du da bist, aber ich mache Dir nicht den Weg frei. Ich bleibe bei meiner ruhigen Atmung und im Kontakt mit mir und dem Raum. So kommt die Aufregung zwar dazu, wird aber nur ein Teil des Ganzen und dominiert nicht den gesamten Körper und Geist. Eine simple Methode, die Empowerment verleiht und Sicherheit gibt.
Es ist keine Lösung, auf die man einfach direkt zugreifen kann, wenn man das Konzept verstanden hat. Es ist eher ein Weg, den man geht und auf dem man durch Übung und Erfahrung immer weiter vorankommen und sicherer werden kann.
Spüren heißt jenseits von richtig oder falsch sein
Im Instrumentalunterricht gibt es jede Menge Parameter. Es geht um den richtigen Rhythmus, die richtigen Töne, die richtige Lautstärke und die richtige Handhaltung. So entsteht die Gefahr, dass wir als Lehrkräfte beim Unterrichten hauptsächlich damit beschäftigt sind, Fehler zu verbessern. Hier ein Beispiel für einen Lernansatz, der darauf abzielt, Fehler aufzuzeigen und zu korrigieren:
„Drück deine Finger nicht so auf die Klappen!“ Stattdessen wäre „Probiere mal aus, wie sich Flötespielen anfühlt und anhört, wenn Du ganz stark mit den Fingern drückst oder wenn Du mit ganz schlappen Fingern spielst. Was ist der Unterschied? Und kannst Du die Mitte finden, einen Kontakt, bei dem Deine Finger nicht zu schlapp und nicht zu fest sind? Wie fühlt und hört sich das an?“ ein eher erforschender Lernansatz.
Hier können die Schüler*innen selbst verschiedene Erfahrungen und Entdeckungen machen und vergleichen. So können sie einen Bewegungs- und Berührungsmodus finden, der für sie persönlich stimmig und meiner Erfahrung nach deshalb zukünftig viel leichter abrufbar ist.
Spüren heißt Spannung loslassen
Um wirklich spüren zu können, brauchen wir durchlässige Muskulatur, das bedeutet Muskulatur, die weder zu fest noch zu schlaff ist.
Das Experiment dazu ist ganz einfach. Nehmen Sie sich einen Moment Zeit und ertasten Sie mit Ihrem Zeigefinger eine Oberfläche. Dann spannen Sie Arm und Schulter an und versuchen das Gleiche nochmal. Ein ganz anderes Gefühl, oder? Im Umkehrschluss bedeutet das, dass wir über das Spüren Spannungen loslassen können.
Ich arbeite gerne mit der Idee, dass das Instrument auch ein Nervensystem hat. Wie würde sich unsere Berührung für das Instrument anfühlen? Dieser kleine Perspektivwechsel hilft ganz spielerisch, in den Spürmodus zu kommen und angespannte Fingerbewegungen besser wahrzunehmen und loszulassen. Und da im Körper alles mit allem verbunden ist, lässt nicht nur die Spannung in den Fingern los, sondern der Muskeltonus im gesamten Arm-, Schulter- und Nackenbereich verändert sich.
Gerade am Anfang der Unterrichtsstunde ist es lohnenswert, sich fürs Spüren einen Moment Zeit zu nehmen. Das können die Füße am Boden im Stehen, der Kontakt zum Stuhl im Sitzen oder eben die Finger am Instrument sein. Das hilft den Schüler*innen dabei anzukommen und die mitgebrachte Anspannung loszulassen. Und wir als Lehrkräfte profitieren ebenfalls enorm davon: Je öfter wir an einem Unterrichtstag mit den Schüler*innen zusammen ins Spüren kommen, desto besser sorgen wir dafür, dass unser Körper durchlässig bleibt und es auch nach langen Unterrichtstagen nicht zu totaler Erschöpfung oder chronischen Verspannungen kommt.
Die Autorin ist Blockflötistin und Alexandertechnik-Lehrerin, lebt in Köln und gibt unter dem Titel „Der Körper spielt mit“ deutschlandweit Workshops für Musiker*innen.
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