Die stilistische Breite des Bestands spiegelt die Vielfalt des Musikschaffens und der Musikkultur in der ehemaligen Bundesrepublik, der ehemaligen DDR und im vereinten Deutschland. Außer handschriftlichen und gedruckten Noten befinden sich im Bestand auch Tonträger, Filme und Fotos, Plakate, Programmhefte und Zeitungskritiken sowie Korrespondenz mit Verlagen, Regisseuren, Intendanten und Musikerkollegen, Skizzen, GEMA-Meldungen und -Abrechnungen. Damit ist das Deutsche Komponistenarchiv nicht nur für Musikerinnen und Musiker eine Fundgrube, sondern auch für Forschende in den Bereichen Musikwissenschaft, jüngste Musikgeschichte, Musiksoziologie und -ökonomie.
Bis hierhin liest sich das Beschriebene wie eine großartige Erfolgsgeschichte. Tatsächlich konnte sich das DKA bis ungefähr zu seinem 10-jährigen Jubiläum, das im Herbst 2015 in Hellerau mit Sektempfang, einem Festvortrag des jüngst verstorbenen Komponisten Siegfried Matthus und einem bunten Strauß von Musikaufführungen aus dem Notenmaterial des Archivs begangen wurde, einer halbwegs gesicherten Finanzierung und einer steten Erweiterung erfreuen. Ein erster Schatten legte sich auf das Archiv, als auf Betreiben von Dieter Jaenicke, Nachfolger des Gründungsintendanten von HELLERAU Prof. Udo Zimmermann, die Archivbestände ihre Räumlichkeiten im Europäischen Zentrum wegen Eigenbedarfs einbüßten. Da die Landeshauptstadt Dresden diesbezügliche vertragliche Verpflichtungen eingegangen war, konnten die Archivmaterialien in das Zwischenarchiv des Dresdner Stadtarchivs umziehen. An diesem unter archivarischen Gesichtspunkten prinzipiell hervorragend geeigneten Standort werden sie aber als „Fremdbestand“ nur geduldet. Die Gefahr, dass sie eines Tages im Endarchiv des Stadtarchivs verdichtet eingelagert werden und nicht mehr öffentlich zugänglich sind, droht wie ein Damoklesschwert.
Die Krise verschärfte sich, als anstelle einer Halbtagskraft nur noch eine freie Mitarbeiterin für das DKA eingesetzt werden konnte. Der Grund dafür war, dass die GEMA-Stiftung ihre bis 2010 sehr großzügigen finanziellen Zuweisungen zunächst reduzierte und schließlich 2018 ganz einstellte, ohne dass die Suche nach Alternativen für die Finanzierung von Erfolg gekrönt gewesen wäre. Wegen der unsicheren Zukunftsperspektive, des sukzessiven Rückzugs des Hauptgeldgebers und der begrenzten räumlichen Kapazitäten im Zwischenarchiv musste der Beirat des DKA unter Vorsitz von Prof. Dr. Michael Karbaum auf seiner bis heute letzten Sitzung im Herbst 2018 einen allgemeinen Aufnahmestopp verhängen. Seither konnten trotz zahlreicher Anfragen keine Zusagen mehr für die Neuaufnahme weiterer Komponist*innen gegeben werden. Die unsichere Situation des DKA führt auch dazu, dass einige Nachlässe nicht mehr vollständig in das DKA gelangen oder auch von dort zurückgefordert werden, mit der durchaus nachvollziehbaren Begründung, dass die Landeshauptstadt Dresden, vertreten durch HELLERAU, ihren Verpflichtungen aus dem Schenkungsvertrag nicht ausreichend nachkomme. Der Verpflichtung, die Archivmaterialien im Rahmen von Benutzungsbestimmungen öffentlich zugänglich zu machen, wurde und wird derzeit nur eingeschränkt entsprochen.
Der absolute Tiefpunkt in der Geschichte des DKA wurde im Spätsommer 2019 erreicht, als die finanziellen Reserven zur Neige gingen. Der damalige Geschäftsführer von HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste kündigte ohne vorherige Konsultation mit dem Beirat die Zusammenarbeit mit der freien Mitarbeiterin auf, wohl aus Angst vor dem Verdacht auf „Scheinselbständigkeit“. Die offizielle Begründung, dass keine finanziellen Mittel mehr vorhanden gewesen seien, traf so nicht vollumfänglich zu. Es gab noch zweckgebundene Spendenmittel auf dem Konto des Fördervereins deutscher Komponisten e. V. in Berlin, die nur hätten abgerufen werden müssen und einen eingeschränkten Weiterbetrieb mindestens bis zum Jahresende ermöglicht hätten. Für den Beirat überhaupt nicht nachvollziehbar war, dass der freien Mitarbeiterin sogar eine ehrenamtliche Weiterarbeit, zu der sie bereit gewesen wäre, und der Zutritt zu ihrem Computerarbeitsplatz in HELLERAU untersagt wurde. Es wurde somit sozusagen ein – sachlich nicht nachvollziehbarer – „Lockdown“ zu einem Zeitpunkt verhängt, als es Corona noch gar nicht gab.
Der Beirat und weitere Persönlichkeiten des Musiklebens – genannt sei beispielhaft die Berliner Komponistin Dr. Charlotte Seither, Vorstandsmitglied des Deutschen Komponistenverbands und GEMA-Aufsichtsratsmitglied – bemühten sich seither um eine dauerhafte Perspektive für das DKA innerhalb Dresdens (Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek, Musikabteilung der Städtischen Bibliotheken), aber auch deutschlandweit, leider bislang ohne Ergebnis. Gründe für die zahlreichen Absagen sind die zu erwartenden Personalkosten, der beträchtliche Platzbedarf – nach derzeitigem Stand ca. 250 Regalmeter -, aber auch, dass die im Archiv versammelten Komponisten „zu unbedeutend“ seien. Genau dieses angebliche Manko charakterisiert aber das Profil des DKA, dass es nämlich nicht nur die „Leuchttürme“ präsentieren, sondern auch dem „Mittelbau der GEMA“ die Möglichkeit der dauerhaften Archivierung von Vor- und Nachlässen einräumen möchte. Wissenschaftliche Musikbibliotheken in den einzelnen Bundesländern, die sich vielleicht als Alternativen anbieten würden, wären wohl meist zur Annahme der Vor- und Nachlässe kulturell bedeutsamer E-Musik-Komponist*innen ihrer Region bereit. Diejenigen, die das weite Feld der U-Musik, der Filmmusik usw. bearbeiten, würden aber von diesen Einrichtungen in der Regel Absagen erhalten.
Um die noch vorhandenen und weiter dankenswerterweise zuverlässig fließenden Spendenmittel vereinnahmen und auszahlen und so einen Minimalbetrieb des DKA wieder in Gang bringen zu können, erwies sich schließlich die Gründung eines gemeinnützigen Vereins vor Ort in Dresden als geradezu unumgänglich. Das DKA hatte als eine Einrichtung von HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste ja keine eigene Rechtsform, und der Beirat des DKA war nur ein beratendes Gremium ohne Durchsetzungskraft und eigenen Haushalt, während der Träger HELLERAU kein messbares Engagement für die Weiterentwicklung des DKA erkennen ließ.
Am 28. September 2020 fand die Gründungsversammlung des „Vereins der Freunde und Förderer des Deutschen Komponistenarchivs e. V.“ im Dresdner Stadtarchiv statt. Zu den sieben anwesenden Gründungsmitgliedern gehören u. a. Dr. Werner Barlmeyer (ehemaliger Kulturamtsleiter in Dresden), Prof. Thomas Kübler (Leiter des Dresdner Stadtarchivs) und Juliane Linke (Leiterin der Musikabteilung der Dresdner Stadtbibliothek). Als Vereinsvorsitzender wurde Prof. Matthias Drude (Vorsitzender des Landesverbands Sachsen/Sachsen-Anhalt im Deutschen Komponistenverband) gewählt. Sein Stellvertreter ist Frank Geißler (HELLERAU - Europäisches Zentrum der Künste), der dankenswerterweise die Verbindung zum Träger sicherstellt und dessen Engagement personell abbildet. Mit dem Polster eines Spendenaufkommens in mittlerer vierstelliger Höhe war es möglich, ab Januar 2021 einen kleinen Minijob im Umfang von fünf Stunden pro Woche zu vergeben und die Arbeit im DKA wieder anzuschieben. Damit ist in bescheidenem Umfang eine Nutzung des Archivs durch die interessierte Öffentlichkeit wieder möglich. Inzwischen hat der Verein 13 Mitglieder. Er sucht weitere Unterstützer*innen, die sein Anliegen mit einmaligen Spenden oder auch regelmäßig unterstützen und würde gern auch zur Verstetigung der Arbeit des Archivs einen Stiftungsfonds unter dem Dach einer größeren, rechtsfähigen Stiftung errichten, wenn entsprechende Zustiftungen zu erwarten sind.
Die Nutzung des DKA trug bereits kurz nach Überwindung des Stillstands reiche Früchte. So wird am 27. März 2022 das MDR-Sinfonieorchester im Rahmen eines Familienkonzerts „Die Abenteuer der kleinen Trompete“, von Hans Sandig, dessen Nachlass das DKA aufbewahrt, aufführen. Auf einen Hinweis des Mitteldeutschen Rundfunks hin wurden im bislang noch nicht erschlossenen Nachlass Sandigs die handschriftlichen Aufführungsmaterialien des Werkes gefunden. Die Veröffentlichung einer neuen Ausgabe der Partitur ist geplant. Wie der MDR-Website (Konzertkalender, Abrufdatum: 23.09.2021) zu entnehmen ist, gehört die klingende Instrumentenkunde «Die Abenteuer der kleinen Trompete» zu den Klassikern der für Kinder produzierten Schallplatten in der DDR und ist eng mit der Geschichte der MDR-Klangkörper verbunden. Hans Sandig war Gründer und langjähriger Leiter des MDR-Kinderchores, das Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig (heute: MDR-Sinfonieorchester) besorgte 1967 die Einspielung unter Sandigs Leitung. Identifikationsfigur der unterhaltsamen Geschichte, die gänzlich ohne erhobenen Zeigefinger und belehrende Langeweile auskommt, ist eine kleine Trompete. Sie bricht aus ihrer engen Turmstube aus, wo sie mit anderen Blechblasinstrumenten lebt. Auf ihrer Suche nach Abenteuern begegnet sie nacheinander vielen anderen Musikinstrumenten, bevor sich am Ende alle zusammenfinden, um ein großes Konzert zu geben. Auf einen Hinweis des Mitteldeutschen Rundfunks hin wurden im bislang noch nicht erschlossenen Nachlass Sandigs die handschriftlichen Aufführungsmaterialien der Originalfassung des Werkes gefunden. Bisherige Aufführungen basierten stets auf einer gekürzten, im Verlag Neue Musik erschienenen Fassung. In diesem Fall konnte das DKA ganz konkret helfen und zur Wiederentdeckung eines Werkes für Familien mit Kindern beitragen, das sich vielleicht einmal als reizvolle Alternative neben Serge Prokofjews „Peter und der Wolf“ und Benjamin Brittens „The Young Person’s Guide to the Orchestra“ etablieren wird. Weitere aktuelle Anfragen an das Archiv etwa aus Hamburg, München und Wien betreffen ebenfalls die Ermöglichung und Vorbereitung von Aufführungen, die wissenschaftliche Forschung zu einzelnen Komponisten oder auch die Leihgabe von Exponaten für eine Ausstellung, wie sie – nach zweimaliger coronabedingter Verschiebung – 2022 im Andenken an den „Zaubergeiger“ und Komponisten Helmut Zacharias in Hamburg geplant ist.
Es besteht also ein tatsächliches öffentliches Interesse am DKA, wenn auch die Zahl der Nutzeranfragen begrenzt und während der Corona-Krise weiter zurückgegangen ist. Leider muss man sich eingestehen, dass der riesige Berg an Arbeit sich mit den derzeitigen personellen Ressourcen nur in winzigen Schritten erledigen lässt. Selbst eine Vollzeitkraft wäre damit über Jahre ausgelastet. Zahlreiche Archivmaterialien insbesondere der Komponist*innen, deren Vor- oder Nachlässe erst später zum DKA gelangt sind, liegen noch ungesichtet in Kartons und harren ihrer Erschließung. Um das DKA zukunftsfähig aufzustellen, erwies es sich als notwendig, sich von der veralteten, nicht internetfähigen Bibliothekssoftware „Allegro C“ zu verabschieden und der Datenbank des Kalliope-Verbunds (https://kalliope-verbund.info) beizutreten. Für die von dort gewährte Unterstützung inklusive einer kostenfreien Online-Schulung ist das DKA sehr dankbar. Die beiden Systeme sind jedoch aufgrund unterschiedlicher Parameter nur begrenzt kompatibel. Ein Datentransfer der mehr als 10.000 Datensätze von „Allegro C“ zu „Kalliope“ ist nicht einfach per Mausklick möglich, jedenfalls nicht, wenn man ein akzeptables, brauchbares Ergebnis anstrebt, bei dem die Zuordnung der einzelnen Parameter mit denen der Ursprungsdatensätze übereinstimmt. Als erforderlich hat sich die Unterstützung durch einen mit „Allegro C“ vertrauten IT-Experten erwiesen. Nach dessen Beauftragung sind noch umfangreiche Zusatz- und Nacharbeiten zu erwarten, bis die Datensätze nach und nach online gestellt und so der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden können. Der erwähnte aus Spendenmitteln finanzierte Minijob lief leider im Mai aus. Derzeit ruht die Arbeit weitgehend, weil der Stelleninhaber einen Forschungsaufenthalt im Ausland wahrnimmt. Nach seiner Rückkehr ist für März 2022 ein Neustart geplant, vorübergehend sogar im Rahmen einer befristeten Festanstellung im Umfang von 32 Stunden/Woche. Gern würde der Verein zur Erledigung der vielfältigen Aufgaben eine/n wissenschaftliche/n Mitarbeiter/in unbefristet und in Vollzeit einstellen, wozu aber die finanziellen Mittel fehlen.
Die Tätigkeit des DKA, die ja nicht auf die Realisierung einzelner künstlerischer Projekte hin ausgerichtet ist, wird von den Förderrichtlinien praktisch aller potentieller Geldgeber nicht erfasst. Der Verein ist daher dankbar für jeden Hinweis, der zu einer dauerhaften Perspektive für das DKA in finanzieller und institutioneller Hinsicht führen könnte. Nichts wäre dem Verein lieber, als sich selbst, zumindest in seiner gegenwärtigen Aufgabenstellung, überflüssig zu machen. Vielleicht ist es ja möglich, nach einer zwischenzeitlichen Durststrecke 2025 das nächste Jubiläum des DKA wieder voller Zuversicht zu begehen, in Dresden oder auch an seinem neuen Standort sowie unter einem neuen Träger, der die Zeit der Unsicherheit beendet, dem DKA eine sichere Zukunft eröffnet und es endlich zu dem Archiv von deutschlandweiter Bedeutung macht, die seine Gründer ihm schon in den Namen gelegt haben.