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Respekt vor der Kinderseele erweitert den Horizont

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Über das Üben: ein Gespräch mit Benjamín Ramírez und Georg Kugler
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Der Geiger Benjamín Ramírez unterrichtet leidenschaftlich gerne. Neben seiner umfangreichen pädagogischen Tätigkeit gilt ein besonderer Arbeitsschwerpunkt der Instrumentalwissenschaft: Untersuchung, Darstellung und Ordnung von formalen, funktionalen, expressiven und methodischen Aspekten des Instrumentalspiels. Weitere Informationen: musikwissenschaft. ramirezmaro.org Georg Kugler ist Instrumentalpädagoge und unterrichtet in freiberuflicher Praxis Kinder, Jugendliche und Erwachsene auf den Instrumenten Klavier und Violoncello. Besondere Anliegen sind ihm die Förderung der Musizierfreude auf allen Ebenen sowie die Stärkung des Berufsstandes. Er ist Vorsitzender des DTKV-Bezirksverbands Köln-Aachen und 1. stellvertretender Vorsitzender des DTKV NRW. Felix Krause moderierte das Gespräch.

Felix Krause: Wie gut haben Ihre Schüler diese Woche geübt?

Benjamín Ramírez: Vor dem Hintergrund der anstehenden Wettbewerbe „Auswahlspiele“ des DTKV und „Jugend Musiziert“ muss ich sagen, dass die meisten Schüler hervorragend geübt haben. Diejenigen, die an den Wettbewerben nicht teilnehmen werden, haben teils sehr gut, teils aber auch mäßig bis schwach gearbeitet, manche überhaupt nicht. Darüber sind alle Beteiligten, Schüler, Eltern und ich als Lehrer nicht glücklich und das bewegt mich, eine neue Initiative zu schaffen.

Georg Kugler: Wenn ich diese Woche Revue passieren lasse, muss ich sagen, dass in der Summe sehr gut geübt wurde. Die Kinder und Jugendlichen, die sich auf die oben genannten Wettbewerbe vorbereiten, sind hochmotiviert, freuen sich über Sonderproben und die Zeit vergeht wie im Fluge. Aber auch die weniger ambitionierten Schüler haben in den meisten Fällen beim Üben selbstständig weitergeführt, was Thema der letzten Unterrichtsstunden war.

Krause: Herr Ramírez, Sie planen, ein Buch zum Thema „Üben“. Was bewegt Sie und wie sieht Ihre Konzeption aus?

Ramírez: Aufgrund jahrzehntelanger Lehrerfahrung merke ich, dass es verschiedene Aspekte des Übens gibt, die wissenschaftlich noch nicht gelöst sind. Da sollen neue Impulse und Akzente gesetzt werden. Schließlich findet der quantitativ größte Teil der Beschäftigung mit dem Instrument beim Üben daheim statt. Trotzdem soll das Buch keine wissenschaftliche Studie werden, womöglich mit Trockenheit überfrachtet, sondern ganz besonders auch emotional ansprechen. Es soll gelacht werden über kleine Szenen oder Geschichten, die sich beim Üben ereignet haben. Das bleibt bei Schülern und Eltern besser haften und regt die Kommunikation an, zwischen Elternteilen aber auch zwischen Eltern und Kindern. So soll sich das Buch abschnittsweise auch zum Vorlesen eignen, Abbildungen und Zeichnungen werden dies ergänzen. Letztere können sowohl von Lehrern als auch von Eltern kommen, denn beide haben oft kreative Ideen, wie das Üben anregend und sinnvoll gestaltet und unterstützt werden kann. Das Buch wird also drei Zielgruppen haben: Schüler, Eltern und Lehrer. Im Vorfeld wird es Fragebögen geben, die sich, jeweils differenziert formuliert, an die oben genannte Gruppen richten. Diese sind sinnfälligerweise mit einem persönlichen Gespräch oder Vorgespräch verbunden und sollen anonym gehalten werden. Den „Pool“ von Informationen und Geschichten werde ich dann ordnen, zum Beispiel nach Schüler-, Eltern- und Lehrertypen. Es gibt typische Muster von Verhaltens- und Lernweisen bei Schülern, die jeder Pädagoge kennt, jeweils aber unterschiedlich erlebt werden und immer wieder nach sinnvollen Lösungen etwaiger Schwierigkeiten oder Schwachstellen rufen. Nehmen wir das Beispiel der emotionalen Lethargie, die bei manchen Schülern häufiger auftritt. Hier steht der Instrumentalpädagoge immer wieder vor der Herausforderung, das „Sich-Mitteilen“ des Schülers anzuregen, etwas zum Blühen zu bringen, was als Knospe im Inneren gespürt wird, aber noch nicht den Weg nach außen findet. Eltern denken häufig, solche Blockaden träten nur bei ihrem Kind auf, was natürlich nicht so ist. Darum werden Hinweise und Anregungen von Eltern ein wichtiger Bestandteil des Buches sein. Von zahlreichen Gesprächen mit Pädagogenkollegen weiß ich, dass wir in der Unterrichtszeit häufig sehr stark mit der Vermittlung der zu spielenden Literatur, mit Haltungs- und Bewegungsübungen, mit der Arbeit am Ausdruck et cetera beschäftigt sind. Das Zeitfenster für die Frage, wie dies alles zu Hause sinnvoll zu üben ist, ist dabei oft zu klein.

Krause: Das Üben ist ein, wenn nicht der zentrale Aspekt beim Erlernen eines Instrumentes. Welche Rolle spielt dabei der Instrumentalpädagoge?

Kugler: Der Instrumentallehrer ist der Hauptverantwortliche dafür, dass Üben gelernt und auch erfahrbar werden kann als etwas, was den Schüler weiterbringt. Wichtig dabei ist, dass das Üben eine flexible Gestalt erhält, derart, dass der Lernende einfach in den Prozess hinein- und auch wieder herausfinden kann, ohne nach statischen Festlegungen oder Sachzwängen handeln zu müssen. Der lernende Instrumentalschüler ist eingeladen, sich dauernd in einem fließenden Prozess zu fühlen, der Schritt für Schritt mehr Kompetenzen und auch Eigenverantwortungen wachsen lässt. Die große Klavierpädagogin Margit Varró hat es meines Erachtens auf den Punkt gebracht, indem sie sinngemäß formulierte, dass es der größte Erfolg des Instrumentallehrers ist, sich entbehrlich zu machen. Den Schüler dies genießen, im positven Sinne und wahrsten Sinne des Wortes daran teilhaben zu lassen, darin sehe ich die größte Kunst und zugleich Verantwortung des Instrumentallehrers.

Ramírez: Ich bin von diesen Ausführungen sehr angetan. Ganz wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass wir Instrumentallehrer voneinander lernen können. Für wie kompetent und erfahren der einzelne Pädagoge sich halten mag, im gemeinsamen Diskurs gibt es mannigfaltige Ideen, Erfahrungen und Anregungen auszutauschen und auszuprobieren. Hier besteht so viel Entwicklungspotential. Gerade für diesen so ausbaufähigen Themenbereich soll auch mein Buch ein impulsgebender Ratgeber werden.

Die Rolle der Eltern

Krause: Welche Rolle sollte den Eltern beim Üben zukommen?

Ramírez: Das ist ein sehr interessantes Thema. Es gibt die unterschiedlichsten Typen von Eltern. Da sind diejenigen, die im Unterricht mit der Kamera dabei sind oder eifrig mitschreiben, es gibt sehr engagierte Eltern verschiedener Ausprägung. Aber es sind auch solche anzutreffen, die sich überhaupt nicht einmischen wollen und/oder der Meinung sind, dass die Übemotivation ausschließlich vom Kind selbst kommen muss. Das gibt es natürlich, es passiert aber auch, dass die Voraussetzungen dazu nicht gegeben sind. So hängt alles miteinander zusammen, beziehungsweise so entsteht das „Trio“ aus Schülern, Lehrern und Eltern, welches immer wieder austariert werden muss. Grundsätzlich betrachte ich es als sehr wünschenswert, wenn Eltern regelmäßig im Unterricht zugegen sind. Es gibt aber auch Konstellationen, in denen dies nicht sinnvoll ist, so dass ich dann davon abrate. Dies betrifft insbesondere überehrgeizige Eltern, die zum Beispiel die vermeintlichen Bedürfnisse ihres Kindes über alle musikpädagogischen Notwendigkeiten stellen. Der große Geiger Isaac Stern sagte, es müsste eigentlich Hochschulen für Eltern von Instrumentalschülern geben, wie es solche für Musikstudenten gibt. In dieser Aussage steckt meines Erachtens ein psychologisches und hochemotionales Potential. In Gesprächen mit Psychologen habe ich schon häufig angeregt, eine „Psychologie der Musiker“ zu initiieren (etwas ganz anderes als „Musikpsychologie“). So sehr ich ein Freund des reellen Beobachtens, Bewertens und Erarbeitens funktionalen Musizierens bin, denke ich, dass hier noch Brachlandschaften liegen, welche zu pflügen und zu bestellen eine unendliche Bereicherung für Instrumentalschüler und deren Eltern, Instrumentalpädagogen und natürlich ausführende Musiker wäre.

Kugler: Für mich besteht die Kernbedeutung der Eltern darin, volles Vertrauen in die Kompetenzen des Lehrers zu haben, von Anfang an. Darum spielen besonders die Vorgespräche mit den Eltern vor Aufnahme des Instrumentalunterrichts eine Schlüsselrolle. Je jünger das Kind zu Unterrichtsbeginn ist, umso schwerer wiegt die Bindung an und die Begleitung durch die Eltern, was aber nicht heißt, dass in jeder Unterrichtsstunde ein Elternteil anwesend sein muss. Wichtig ist meines Erachtens besonders bei jüngeren Kindern bis etwa zum Ende des zweiten Grundschuljahres der wenigstens einmal wöchentliche Austausch zwischen Lehrer und einem Elternteil, direkt nach der Unterrichtsstunde oder auch telefonisch. Ins Aufgabenheft geschriebene Übungen und Hinweise richten sich auch an die Eltern, die meisten nehmen diese auf und erinnern ihre Kinder ans Üben. Wenn dabei Schwierigkeiten oder Konflikte entstehen, berate ich telefonisch oder lade in eine Unterrichtsstunde ein, damit erfahren werden kann, welche pädagogischen „Kniffe“ zu sinn- und lustvollem Übeverhalten führen können. Je älter das Kind wird – und da verweise ich wieder auf Margit Varró – ist es nach meinen Erfahrungen am besten, wenn die Eltern sich weitgehend aus dem Unterrichtsgeschehen heraushalten. Es ist für mich schwer vorstellbar, zehnjährige Kinder von ihren Eltern begleitet zu unterrichten. Um Übevorgänge fortzuschreiben oder gar zu überwachen, ist für mich der Unterrichtsraum kein Ort. Dies sollen die Schüler selbst tun, an aus Eigeninitiative entwickelten Fortschritten wachsen, aus Irrtümern lernen, das wiederum in der nächsten Stunde mit dem Lehrer besprechen. So wird die eingangs erwähnte Selbstständigkeit in meinen Augen besonders gefördert. Es ist erfreulich, dass es trotz so mancher „Helikopter-Eltern“ der Mehrheit der Eltern gelingt, ihre Kinder Schritt für Schritt in die Selbstständigkeit wachsen zu lassen. Das ist für mich die Schlüsselqualifikation für erfolgreiches und lebenslanges Musizieren schlechthin. Dazu kommt, dass in der heutigen Zeit der immer stärkeren Dominanz der schulischen Anforderungen und schulischen Organisationsformen (Gruppenarbeit, Arbeitsgemeinschaften etc.) dem klassischen Instrumentalunterricht als Einzelunterweisung mehr Bedeutung denn je gebührt. Wo sonst ist ein Kind oder ein Jugendlicher in der exklusiven Situation, wöchentlich einen Pädagogen ganz für sich alleine beanspruchen zu dürfen? Das regelmäßige Dabeisein der Eltern könnte dies stören. Unter einer guten Elternmitarbeit bei älteren Kindern stelle ich mir vor, dass das Instrumentallernen mit Wohlwollen, ohne zu große Strenge und ohne zu lockere Einstellung begleitet wird. Wenn sich regelmäßig erkundigt wird, wie ich die Fortschritte sehe, wenn an Schülerkonzerten und Wettbewerben teilgenommen wird, dann ist das Wesentliche getan.

Ramírez: Grundsätzlich bin ich da anderer Ansicht. In meinem Violinunterricht gibt es so viele Haltungs- und Bewegungsanweisungen, die sich zum Beispiel auf Bogenhaltung, -führung, Vibrato und dergleichen beziehen, ebenso musikalische Anweisungen hinsichtlich dynamischer Spannung und emotionalem Ausdruck, dass ich die Eltern als wichtige Instanzen betrachte. Darum findet neben den Unterrichtsbesuchen der Eltern auch ein intensiver Telefon- und Mailkontakt mit diesen statt. So wie viele Sänger über Jahre hinweg einen Coach brauchen, sind die Eltern meiner Schüler bedeutend für die Entwicklung der Selbstkontrolle, um diese wirkungsvoll einzusetzen.

Krause: Sie unterrichten beide sehr erfolgreich, bereiten auf Wettbewerbe und Aufnahmeprüfungen vor, unterweisen aber auch weniger ambitionierte Schüler. Wo differenzieren Sie hinsichtlich Pädagogik und Methodik und wo bestehen Grundsätzlichkeiten, die für alle Begabungsprofile gelten?

Kugler: Natürlich gibt es Grundsätze für alle Begabungsprofile, was insbesondere darin begründet ist, dass Übung in erster Linie Wiederholung bedeutet. Gerade jüngere, aber auch ältere Kinder können sich oft nicht vorstellen, wie essentiell dies ist und wieviel an bewusster Wiederholung von Übeabschnitten sinnvoll ist. Wenn ich in seltenen Fällen während der Unterrichtszeit einmal ein unbeaufsichtigtes Üben eines Schülers mitbekomme, erlebe ich meistens ein ein oder zweimaliges Durchspielen einer „schweren“ Stelle, ohne dass sich eine spürbare Verfeinerung einstellt und das Gefühl für Metrum und Rhythmus oft auf der Strecke bleibt. Das ist bestimmt nicht repräsentativ für die gesamte Übewoche, kommt aber bei allen Schülertypen vor und in allen Altersgruppen. Hier zeigt sich auch wieder die Exklusivität des Instrument- Erlernens. Anders als zum Beispiel beim Malen oder Zeichnen, spielt beim Musizieren der Parameter Zeit eine ganz wesentliche Rolle. Den Sinn für zeitliche Proportionen zu wecken und zu schärfen, ist eine der Kernaufgaben eines guten Instrumentalunterrichts. Von dort ausgehend, kann gewinnbringend an Phrasierung, Artikulation, innerer und äußerer Bewegung et cetera gearbeitet werden, was auf allen Leistungsstufen immer wieder Bedeutung hat.

Intrinsische Motivation

Meines Erachtens tun Differenzierungen Not bezüglich der Quantität des Übematerials, besonders bei Schülern, die zeitlich so belastet sind, dass sie nicht zum täglichen Üben bereit sein können. Wenn jemand aber die Lust am Musizieren beim kleinschrittigen Üben nicht verliert, sie gegebenenfalls sogar steigern kann, ist mir das allemal lieber als ein Schüler, der dauernd von den Eltern zum Instrument gedrängt werden muss, sich womöglich vordergründig sehr gut entwickelt, aber bar jeder intrinsischen Motivation. Der große Luxus des Instrumentallehrers besteht doch auch darin, dass er auf jeden Schüler einen individuellen Lehrplan zuschneiden kann. Wenn sich daraus mittel- und langfristig entwickelt, möglichst viele Schüler das Glücksgefühl erleben zu lassen: „Ich kann üben, ich kann musizieren“, ist sehr viel erreicht.

Ramírez: Ich möchte mit einem kurzen Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit daran anknüpfen. An der Kronberger Musikwerkstatt ließ ich auf einem Symposion eine junge Geigenschülerin vor vollem Plenum eine kurze Vierton-Folge spielen, dazu lief eine Sanduhr, eine Minute lang. Diese eine Minute wurde allen zur Ewigkeit, im positiv erfahrenen Sinne. Ich bin sicher, dass dieses Kind durch diese eine Minute einen Riesenschritt nach vorne gemacht hat, die Zuhörer ebenso. Denn eine Minute erscheint uns in der Regel als „nichts“, aber wer übt schon eine Minute? Das Bewusstmachen von ganz reellen Dingen hat etwas Berauschendes, viel mehr als die Illusion. Ein guter Instrumentallehrer sollte für jeden Schüler die gleiche Liebe und Energie aufwenden, egal ob (hoch-)begabt, durchschnittlich, oder vielleicht auch mit auditiven, manuell-physiologischen oder kognitiven Einschränkungen. Für mich ist es fast spannender, wenn es mir gelingt, einem Kind ohne besonderen musikalischen Hintergrund und/ oder musikalisches Talent einen entscheidenden Entwicklungsschritt zu ermöglichen, als mit einem außergewöhnlichen Schüler am letzten Schliff einer Phrase in einem Konzertstück zu arbeiten. Der Respekt vor jeder Schülerseele erweitert den eigenen Horizont ungemein und kann dem Lehrenden wie dem Lernenden viel Glückserfahrung bescheren. Nicht zuletzt deshalb dürfen wir uns immer wieder bewusst machen, was wir als Instrumentalpädagogen für einen wunderbaren Beruf, wenn nicht den schönsten der Welt, ausüben dürfen.

Krause: In den letzten Jahren hat in NRW eine immense Schulzeitverdichtung durch das verpflichtende G 8 am Gymnasium sowie die immer mehr Raum einnehmende Ganztagsschule stattgefunden. Wie erleben Sie diese Veränderungen hinsichtlich der Übebereitschaft und Übemöglichkeiten Ihrer Schüler?

Kugler: Spätestens seitdem die ersten G8-Abiturjahrgänge in NRW ihre Reifeprüfungen absolviert haben, hat sich deutlich gezeigt, dass sich die alternativlos verordnete Schulzeitverkürzung generell negativ ausgewirkt hat auf die Bereitschaft und Möglichkeiten für Schüler, außerschulische Aktivitäten wahrzunehmen. Das Üben und Musizieren ist davon besonders betroffen. Die Zeitfenster sind einfach kleiner geworden und häufig gelingt es nur noch Überfliegern und Rossnaturen, bis in die Oberstufe hinein den Instrumentalunterricht fortzuführen und einigermaßen konstant zu üben. Dadurch hat sich die Diskrepanz zwischen sehr guten bis außergewöhnlichen Leistungen auf der einen Seite und oberflächlichen oder schwachen auf der anderen Seite deutlich verschärft. Die Mitte dünnt mehr und mehr aus, was sowohl für die musikalische Breitenbildung, als auch für die Weitergabe und Weiterentwicklung unseres musikalischen Erbes bedauerlich ist. Dies ist ein politikgemachtes Problem, welches die derzeit regierenden Parteien in NRW (noch) nicht wahrhaben wollen. Darum ist es sehr positiv, dass der DTKV NRW die Initiative „G9- jetzt-NRW“ unterstützt, welche sich für die Wahlfreiheit zwischen G9 und G8 einsetzt. Wir werden bei diesem wichtigen Thema am Ball bleiben.

Ramírez: Dem stimme ich inhaltlich voll zu. Ergänzen möchte ich, dass auch zum Beispiel die Wissenschaft von der Schulzeitverdichtung massiv betroffen ist. Deutschland ist ein Land mit vorzüglich ausgebildeten Naturund Geisteswissenschaftlern, die ihr frühes Interesse an ihren Metiers bis vor wenigen Jahren selbstverständlich spätestens als Oberstufenschüler in ihrer nachmittäglichen freien Zeit entwickelt und vertieft haben. Nun erleben wir eine Generation von 17- bis 18-jährigen Abiturienten, von denen die wenigsten wissen, was sie studieren möchten! Ganz klar ist, der Nachmittag muss für die persönlichen außerschulischen Aktivitäten freigehalten sein.

Krause: Welche Bedeutung haben heute Instrumentallehrer und als deren Interessenvertreter der DTKV, Üben und Musizieren nicht nur wertzuschätzen, sondern offen dafür zu werben?

Ramírez: Üben und Musizieren sind die Kulmination von mannigfaltigen Kulturaspekten, für die es sich immer zu kämpfen gelohnt hat und lohnen wird. Man kann nicht genug betonen, wie wertvoll das ist, was da alles zusammenkommt. Dass ein Geigenbogen den Wert eines Hauses haben kann, eine Schnecke ein Meisterwerk ist, dass im Instrumentenbau generell jede Menge Physik und naturwissenschaftliche Wunder stecken. Genauso bedeutend ist das physiologischneurologisch- psychische Zusammenspiel vieler Komponenten, die das Musizieren und Instrument-Erlernen so wertvoll machen. Es wird sich zu allen Zeiten lohnen, dies gebührend hochzuhalten.

Kugler: Instrumental- und Gesangspädagogen – und als deren Interessenvertreter selbstredend der DTKV – müssen und werden sich verstärkt dafür einsetzen, musikalischer Freizeitgestaltung und damit kultureller Bildung zu klaren Stellenwerten zu verhelfen in einer Zeit der Beliebigkeit des Umganges mit unserer Kultur und deren oft liebloser Vermittlung unter anderem durch Politik und Medien. Üben und Musizieren sind individuelle Tätigkeiten. Wenn politisch Verantwortliche immer wieder betonen, wie wichtig ihnen die kulturpolitische Verankerung von Musik- und Instrumentalförderung ist, müssen auch Taten eingefordert werden. Sonntagsreden dürfen wir nicht mehr durchgehen lassen. Ohne deutliche Steigerungen der Kulturhaushalte auf allen drei föderalen Ebenen bleiben das Lippenbekenntnisse, die mit Schlagworten wie „kulturelle Teilhabe“ zwar vordergründig verkleistert werden, ihren hohlen Nachhall und faden Geschmack aber behalten. Musikalische Förderung und Entfaltung von jungen Menschen brauchen ein anderes Klima. Lasst uns gemeinsam dafür arbeiten und kämpfen.

Krause: Vielen Dank für das intensive Gespräch.

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