Das vom Bundessozialgericht im Jahr 2022 getroffene Urteil zu Tätigkeiten der Musikschulen in der Stadt Herrenberg beschäftigt seit seiner Verkündung Musiker:innen in der ganzen Bundesrepublik: Eine Klägerin beantragte – nach 15 Jahren Mitarbeit an der kommunalen Musikschule Herrenberg – bei der Rentenversicherung ein „Statusfeststellungsverfahren“. Dieses führte zum Ergebnis, dass eine Beschäftigung von Musikschullehrkräften auf Honorarbasis rechtswidrig sei, da aufgrund der ortsgebundenen Arbeit sowie verwaltungstechnischer Regelungen seitens der Musikschule für den oder die Mitarbeiter:in keine unternehmerischen Freiheiten und somit keine „selbstständige Tätigkeit“ gegeben seien. Das aus einem Einzelfall entstandene Gerichtsurteil entfaltet nun auf etliche Honorarlehrkräfte in der Arbeitswelt Musikschule Auswirkungen. Prof. Christian Höppner, Präsident des Deutschen Tonkünstlerverbands, beschreibt im folgenden Gespräch die Folgen und Belastungen, die das Urteil mit sich bringt, sowie die Forderungen des DTKV und Maßnahmen, die nun getroffen werden müssen.
Scheinselbstständigkeit und Umsatzsteuer
Umbrüche in der Arbeitswelt Musikschule: das Herrenberg-Urteil und die Folgen
Häufig sind Lehrkräfte an musikalischen Bildungsinstitutionen wie kommunalen oder privaten Musikschulen als Honorarlehrkräfte tätig. Dies ermöglicht den Arbeitgebenden unter anderem die Einsparung von Sozialbeiträgen und den Arbeitnehmenden die Ausübung mehrerer freischaffender Tätigkeiten als Musiker:in – nicht nur in der Lehre, sondern auch in anderen Tätigkeitsfeldern wie dem des Konzertbetriebs. Für Mitarbeitende mit Honorarverträgen ist wiederum keine finanzielle beziehungdsweise versicherungsrechtliche Sicherheit gegeben. Zudem rückt aufgrund des Herrenberg-Urteils das Paradoxon in den Vordergrund, dass selbstständige Mitarbeitende an Musikschulen aufgrund der verwaltungstechnischen Bedingungen eben keine selbstständige Tätigkeit ausüben: Da Honorarlehrkräfte in die Organisationsabläufe der Musikschule integriert würden, komme es zu einer „Scheinselbstständigkeit“. Die dadurch entstehende Abhängigkeit von der arbeitgebenden Institution erfordere somit Festanstellungen in Musikschultätigkeiten. Auf diese Schärfung des Kriteriums der betrieblichen Eingliederung von Honorarlehrkräften im Herrenberg-Urteil reagierten die Spitzenorganisation der Sozialversicherung mit einer Neuausrichtung der Praxis von SV-Prüfungen (u.a. Statusfeststellungsverfahren), die ab dem 1. Juli 2023 Anwendung finden sollte. Die Umsetzung ist bisher nur an wenigen Musikschulen zu beobachten, beispielsweise an Musikschulen in Sankt Augustin, die ab August 2024 nur noch Lehrkräfte in Festanstellung beschäftigen würden. Auch die Städtische Musikschule „Johann Sebastian Bach“ in Leipzig werde alle 162 Honorarlehrkräfte festanstellen.
Das Urteil verspricht den Honorarlehrkräften Vieles, dennoch sind hierbei Musikschulen und ähnliche Institutionen sowie Lehrkräfte bei der Umsetzung – insbesondere in finanzieller Hinsicht – auf sich gestellt: Nur wenige Kommunen und Länder haben erhöhte Zuschüsse für eine finanzielle Ermöglichung der Festanstellungen bereitgestellt. Bereits im vergangenen Hauptartikel des DTKV-Buchs von Thomas Heyn wurden weitere Problematiken in der Berufsausübung sowohl seitens der Musikschulen als auch der freischaffenden Lehrkräfte, aber auch Folgen für den Nachwuchs der Musik-Branche ausführlich erläutert.
Die Umsatzsteuer für Musiker und das Jahressteuergesetz
Eine doppelte Bedrohung für die musikalische Bildung entsteht des Weiteren durch den Entfall der Befreiung von der Umsatzsteuer. Die im Referentenentwurf des Jahressteuergesetzes 2024 enthaltene Umsatzsteuerreform betrifft insbesondere die Umsatzsteuerbefreiung für Bildungsleistungen in § 4 Nr. 21a), bb) UStG: Private Musikschulen sowie selbstständige Musiker:innen konnten diese bislang durch eine Bescheinigung in den zuständigen Landesbehörden beantragen, nun gelte aber die Befreiung nur noch für gemeinnützige Institutionen, da der Unterricht einer selbstständigen Musiklehrkraft nicht als Schul- oder Hochschulunterricht einzuordnen sei. Eine Umsatzsteuerbefreiung für Bildungsdienstleistungen würde den Zugang zur musikalischen Bildung – insbesondere zur außerschulischen Musikausbildung – und die kulturelle Teilhabe erleichtern, andernfalls droht eine drastische Verteuerung des Musikunterrichts durch eine Änderung des Umsatzsteuergesetzes. Angesichts der Kürzungen im schulischen Musikunterricht ist die Ermöglichung eines Zugangs zu außerschulischen Unterrichtsangeboten in der aktuellen Situation besonders bedeutsam. Es stellt sich die Frage, ob und inwiefern nun ein gerechtes beziehungsweise geeignetes Modell für alle Parteien der Arbeitswelt Musikschule gefunden werden kann.
Gespräch mit Prof. Christian Höppner
Hye-Min Lee: Das Herrenbergurteil führt zu einem Anstieg von sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen – eine erfreuliche Entwicklung?
Christian Höppner: Der Deutsche Tonkünstlerverband begrüßt – auch unter sozialpolitischen Aspekten –die Zunahme von Festanstellungsverhältnissen. Allerdings wird mit der zeitlichen Umsetzung des Herrenbergurteils durch die Deutsche Rentenversicherung für einige Bereiche der bildungskulturellen Landschaft das Gegenteil erreicht werden, wenn es nicht mehr Zeit für die notwendigen Umstrukturierungs- und Anpassungsmaßnahmen gibt. Zudem wird diese Entwicklung auch gravierende Auswirkungen auf die Künstlersozialkasse haben.
Tausenden freiberuflichen Musikerinnen und Musikern droht deutschlandweit vor dem Hintergrund der Scheinselbstständigkeitsdebatte die Vernichtung ihrer Existenzgrundlage. Infolge des „Herrenberg-Urteils“ stehen viele private Musikschulen auf Grund des verschärften Kriterienkatalogs der Deutschen Rentenversicherung und der daraus folgenden horrenden Nachzahlungsforderungen von Sozialversicherungsbeiträgen vor der Insolvenz. Die Folgen wären neben den Belastungen für die Sozialkassen und dem volkswirtschaftlichen Schaden eine weitere Verringerung der kulturellen Teilhabe insbesondere für Kinder und Jugendliche und damit eine Reduzierung unserer kulturellen Vielfalt.
Lee: Was fordert der DTKV?
Höppner: Der DTKV hat Bundesarbeitsminister Hubertus Heil aufgefordert, sich für ein Moratorium bei der Umsetzung des „Herrenberg-Urteils“ zur Scheinselbstständigkeit mit einer Laufzeit bis zum Herbst 2025 einzusetzen, denn die Hütte brennt und die Situation erfordert jetzt eine politische Lösung. Das heißt zum einen, Verzicht von Rückforderungen durch die DRV bis dahin. Zum anderen muss der Kriterienkatalog der Deutschen Rentenversicherung zur Abgrenzung von angestellter und freiberuflicher Tätigkeit entsprechend angepasst werden. Deshalb sollte der vermeintliche Negativkatalog zu einem Positivkatalog entwickelt werden, der es rechtssicher erlaubt, bei seiner Beachtung nicht an der Hürde der Scheinselbstständigkeit zu scheitern. Dabei müssen auch branchenspezifische Gegebenheiten und Bedürfnisse mit beachtet werden.
Lee: Warum ist der Zeitfaktor so wichtig?
Höppner: Zum einen braucht ein solch gravierender Strukturwandel ausreichend Zeit, um einerseits den sozialpolitischen Intentionen des Gesetzgebers gerecht werden zu können und andererseits die völkerrechtlich verbindliche UNESCO Konvention zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen einzuhalten. Unser Land hat gute Erfahrungen mit der Kombination aus sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen und Selbständigkeit gemacht. Diese beiden Grundsäulen bilden das Fundament in der bildungskulturellen Aus-, Fort- und Weiterbildung. Auf diesem dualen Fundament steht auch die Arbeit der Hochschulen, Universitäten und Volkshochschulen. Die Eliminierung freiberuflicher Beschäftigungsverhältnisse im bildungskulturellen Bereich wäre realitätsfremd und hätte dramatische Folgen für die Bertoffenen wie für unser Land.
Jede Musikerin und jeder Musiker, die künstlerisch wie pädagogisch unser bildungskulturelles Leben bereichern und damit auch einen Beitrag zur kulturellen Vielfalt wie zum gesellschaftlichen Zusammenhalt leisten, dürfen mit ihrer hochqualifizierten und langjährigen Ausbildung und Erfahrung nicht durch den übereilten Vollzug des Urteils zur Scheinselbstständigkeit in die Wüste geschickt werden. Deshalb braucht es jetzt ein Moratorium zur stufenweisen Umsetzung des „Herrenberg-Urteils“ und den Verzicht auf alle Nachforderungen bis zum Herbst 2025.
Lee: Warum muss die Umsatzsteuerbefreiung für qualifizierten Musikunterricht erhalten bleiben?
Höppner: Weil die qualifizierte Musikausbildung von Anfang an nicht per se der Freizeitgestaltung dient. Der DTKV fordert die Beibehaltung des Bescheinigungsverfahrens und grundsätzlich Anerkennung, dass eine qualifizierte Musikausbildung eine gemeinwohlorientierte Bildungsdienstleistung ist.
Lee: Wie sehen die weiteren Schritte aus?
Höppner: Der DTKV steht seit Längerem in einem intensiven Austausch mit dem Finanzministerium und in sich anbahnenden Gesprächen mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales sowie der Clearingstelle der Deutschen Rentenversicherung. Ich bin sehr froh, dass wir uns bei diesem Dialog auf die profunden Kenntnisse und Erfahrungen unseres Justitiars Hans-Jürgen Werner verlassen können. Klar ist, dass die beiden Themenbereiche nur im Schulterschluss der Fachverbände und der Dachverbände, Deutscher Musikrat und Deutscher Kulturrat, zum Erfolg geführt werden können.
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