"Der Stellenwert der Musik ist höher, als es den Akteuren erscheint.“ Prof. Dr. Andreas Lehmann-Wermser unterrichtete als Musik- und Deutschlehrer an verschiedenen Gymnasien. Er war 1993 Mitbegründer einer Reformschule mit dem Schwerpunkt in den künstlerischen Fächern. 2004 beendete er sein Aufbaustudium mit der Promotion. Von 2004–2015 lehrte und forschte er, zuletzt als Direktor des Zentrums für Lehrerbildung an der Universität Bremen. Seit 2015 ist er Professor am Institut für musikpädagogischen Forschung der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover.
neue musikzeitung: Herr Lehmann-Wermser, Sie sind einerseits Schulmusiker und Flötist, andererseits als Professor zuerst in Bremen, nun in Hannover in der Bildungsforschung aktiv. Was sind Ihre zentralen Fragen zum Thema Ganztagsunterricht?
Lehmann-Wermser: Mich bewegen dabei zwei Dinge, und ich kann dabei gar nicht zwischen der Person des Schulmusikers, Musikers und Forschers trennen, nämlich erstens: Wie können wir in einer zunehmend heterogenen Gesellschaft möglichst vielen Kindern und Jugendlichen den Zugang zu musikalischer Bildung und intensiver Erfahrung eröffnen, wenn sie das wollen? Zweitens: Wie können wir mehr darüber erfahren, wie musikalisches Lernen abläuft? Wir wissen in anderen Fächern, in Fremdsprachen, in Mathematik ziemlich genau, was bei Kindern im Kopf vorgeht. Beim Lernen von Musik wissen wir das noch nicht. Das interessiert mich sehr und daraus könnte sich ergeben, wie wir die Qualität erfassen und gegebenenfalls verbessern können.
„Der Stellenwert der Musik ist höher, als es den Akteuren erscheint.“
nmz: Wenn Sie die pädagogische Praxis an den Schulen betrachten: Welchen Stellenwert hat Musik und wie kann er erhöht werden?
Lehmann-Wermser: Die Frage ist ja trickreich gestellt, da sie impliziert, der Stellenwert des Faches Musik sei niedrig. Das stimmt in einigen Teilbereichen. Es gibt Probleme mit der Kontinuität des Unterrichts, mit der Lehrerbildung, mit den Stundentafeln, auch mit der Struktur der zum Abitur führenden Kurse. Aber in vielerlei Hinsicht stimmt es auch nicht. In den letzten 15 Jahren sind bundesweit Tausende von Instrumentalklassen eingerichtet worden. Es gibt eine große Anzahl von Initiativen von privater oder staatlicher Seite und von Stiftungen. In letzter Zeit wird ein besonderes Augenmerk auf den Kita-, Vorschul- und Grundschulbereich gerichtet, wo die Grundlage für musikalische Bildung geschaffen wird. Deshalb würde ich sagen, der Stellenwert der Musik in den Schulen allgemein, nicht nur in den Ganztagsschulen, ist höher, als es den Akteuren oft erscheint.
nmz: Ab 2004 lehrten und forschten Sie an der Universität in Bremen. In diese Zeit fällt auch die „Studie zur musisch-kulturellen Bildung an Ganztagsschulen“ (MUKUS-Studie), die wichtige Erkenntnisse zur Musik im Ganztagsunterricht erbrachte. Kurz zusammengefasst: Was war das Ziel dieser Studie?
Lehmann-Wermser: MUKUS war Teil eines viel umfangreicheren Forschungsprofils, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanziert wurde und das erklärte Ziel hatte, zu schauen, ob das Investitionsprogramm Zukunft, Bildung und Betreuung (IZBB), das die Bundesregierung 2004 auf den Weg gebracht hatte, Auswirkung hätte. Es war das erste Mal, dass der Bund im Bildungsbereich, der ja eigentlich zur Kulturhoheit der Länder gehört, im großen Stil mehrere Milliarden inves-tierte, um den Aufbau der Ganztagsschule zu ermöglichen. Da gab es eine Vielzahl von Studien von allgemeiner Art, aber eben auch in den einzelnen Fächern. Eine zentrale Frage war: Wie veränderte sich die Struktur durch diese Initiative und was ändert sich für die Schülerinnen und Schüler, auch im Sinne von Bildungsgerechtigkeit? Wir haben zwei interessante Ergebnisse gefunden. Das eine ist wenig überraschend, aber vielleicht gut, es dokumentiert zu sehen: Keine zwei Schulen sind gleich! Die Rahmenbedingungen in den Bundesländern sind unterschiedlich; es gibt lokale Gegebenheiten; die Kollegien unterscheiden sich, auch die Schulleitungen. Die Tatsache, dass keine zwei Schulen gleich sind, kann man als ungeheure Stärke für den kulturellen Bereich sehen. Das zweite interessante Ergebnis war: Tatsächlich gelingt es den Ganztagsschulen etwas besser im Schnitt, Kinder mit Migrationshintergrund oder mit Bildungsbenachteiligung in künstlerische Aktivitäten, in Arbeitsgemeinschaften oder bei Projekten mit einzubeziehen.
nmz: Eine wichtige Chance des Ganztagsunterrichts liegt darin, dass soziale Schranken abgebaut werden können, zum Beispiel durch Klassenmusizieren. Können hier auch musikalische Begabungen entdeckt werden?
Lehmann-Wermser: Also ich glaube, wann immer man Breitenarbeit macht, steigt auch die Chance der Begabtenförderung. Das gilt für Mathematik, für Leichtathletik und ganz sicher auch für Musik. Man muss aber auch sagen, dass ab einem bestimmten Punkt die Förderung ergänzt werden muss durch andere Förderstrukturen und Angebote, die dann nicht mehr in den Bereich der Schule fallen.
nmz: Aber sind Formen gemeinsamen Musizierens wie das Klassenmusizieren auch nachhaltig in dem Sinn, dass die Schüler danach weiter machen, also sich zum Beispiel einem anspruchsvollen Unterricht widmen?
Lehmann-Wermser: Das ist eine interessante Frage. Aber wir haben dazu im Augenblick noch keine gesicherten Erkenntnisse. Es gibt in Niedersachen gerade ein Programm mit dem Titel „Wir machen die Musik“, bei dem es um musikalische Förderung im Kita- und Grundschulbereich geht. Da versuchen wir herauszufinden, wie hoch der Effekt ist, wenn Musikschulen das Angebot bereitstellen, dass Kinder tatsächlich in die normalen Förder- und Instrumentalangebote der Musikschulen wechseln. Die Ergebnisse liegen im Spätherbst vor.
nmz: Wie muss Ganztagsunterricht gestaltet werden, damit Musik erfolgsversprechend gepflegt werden kann?
Lehmann-Wermser: Im Grunde kann ich an das anschließen, was ich zuvor über die MUKUS-Studie gesagt habe. Keine zwei Schulen sind gleich. Die Schulen entwickeln sehr spezielle und oft auch erfolgreiche Gestaltungsmöglichkeiten. Das ist immer ein Wechselspiel zwischen dem, was die schulischen und außerschulischen pädagogischen Lehrkräfte anbieten können, was die Gegebenheiten der Schulen sind, auch wie die Möglichkeiten der Unterstützung durch Schulleitung oder Kommunen sind. Um es an einem Beispiel zu erläutern: Wir haben einen Film über ein Ganztagsgymnasium in Salzgitter gedreht. Salzgitter ist im Grunde ein Ort, der eine Ansammlung von einem guten Dutzend von kleineren oder größeren Dörfern ist, die aber schlecht miteinander verbunden sind. Da ist die Schule der einzige Ort jedenfalls für viele Kinder, wo ein kulturelles Angebot strukturiert angeboten werden kann. Die Schule muss wirklich selber ganz viel liefern. Wenn wir uns dagegen Ganztagsschulen in Großstädten angucken, wo es ein reichhaltiges kulturelles Angebot gibt, kommen wir zu einem anderen Ergebnis: Dort muss von den Schulen selber nicht so viel kommen, vielmehr ist es ihre Aufgabe, Angebote zu vernetzen und Kinder an die Angebote heranzuführen.
„Ab einem bestimmten Niveau wird es schwierig. Dieses Problem haben auch Fußball- oder Theaterspieler.“
nmz: Besteht beim Ganztagsunterricht die Gefahr, dass individuelle Interessen, zum Beispiel das anspruchsvolle Erlernen eines Musikinstruments, an den Rand gedrängt werden, also auf den Abend und das Wochenende? Nur noch die ganz von Musik erfüllten Jugendlichen werden dann weitermachen. Wie kann dem begegnet werden?
Lehmann-Wermser: Sie sprechen die große Angst der Musikschulen und der freiberuflichen Musikpädagogen an, und in der Tat gibt es da ein Problem. Dieses Problem gilt aber in ähnlicher Form für alle Schulen. Dazu gehört das Stichwort „G8“, also die Verdichtung von Lernzeiten, die hohen oder erhöhten Anforderungen, die an Schüler gestellt werden; dazu gehören aber auch die Veränderungen im familiären Freizeitverhalten.
Alles dies ist kein ganztagsspezifisches Problem, aber ein wichtiges Problem. An vielen Schulen gibt es interessante Modelle, wie Kleingruppen- oder Einzelunterricht, die in den Schulalltag integriert werden können, zum Beispiel die Drehtürenmodelle, wo Schüler aus dem normalen Unterricht herausgehen, um für eine halbe Stunde am Instrumentalunterricht teilzunehmen, danach wieder zurückkommen und ein anderer Schüler herausgeht. Es gibt also Möglichkeiten, wie das gemacht werden kann. Aber man muss natürlich auch sagen, dass es ab einem bestimmten Niveau immer schwierig wird. Wer bei „Jugend musiziert“ ganz vorne mitmacht, kann das nur mit großem Einsatz, mit familiärer Unterstützung und oft mit einem Tagesablauf, der über 8 Stunden hinausgeht, leisten. Dieses Problem haben natürlich auch Fußball- oder Theaterspieler.
nmz: Viele Musikpädagogen berichten, dass Jugendliche im Alter von 11 bis 14 den Instrumentalunterricht abbrechen. Sicherlich gibt es dafür auch viele andere Ursachen, aber eine ist doch auch die höhere schulische Belastung. Für den Musikunterricht ist es höchst unbefriedigend, wenn eine breitere Schülerschaft gerade dann aufhört, wenn sie kurz davor ist, zum Beispiel eine Mozart-Sonate spielen zu können. Wie kann dem begegnet werden?
Lehmann-Wermser: Diese Frage schließt an die vorhergehende an, spricht aber eine andere Facette an. Wenn Instrumentalunterricht anspruchsvoll, interessant und abwechslungsreich ist, ist das für die Kontinuität gut, also dafür, dass Jugendliche über diese pubertätsbedingten „Krisen“ hinauskommen. Musik erfüllt auch eine soziale Funktion für die Jugendlichen, die sehr wichtig ist. Ich bitte regelmäßig meine Schulmusikstudierenden, ihre musikalische Biografie aufzuschreiben. Da steht oft darin, wie wichtig in der Schulzeit das Ensemble und die Gruppe waren. Wenn Unterricht auch diese Bedürfnisse von Jugendlichen erfüllt, nicht nur Üben und Vorspielen ist, sondern auch als soziale Tatsache gewürdigt wird, dann ist das eine hervorragende Voraussetzung. Aber wir müssen Schülerinnen und Schülern auch zugestehen, dass sie in der Pubertät – und sei es vorübergehend – andere Interessen und Orientierungen entwickeln. Es gibt englische Studien über Lifelong Learning, also ein lebenslanges Engagement mit der Musik, die zeigen, dass nicht wenige zurückkommen. Schule kann dieser Krisenphase in der Pubertät nur begrenzt begegnen. Doch ich glaube, wir können da ganz gelassen sein.
nmz: Um ein Musikinstrument spielen zu lernen, muss man regelmäßig üben, und zwar, wenn man noch geistig fit ist, also nicht nach einem langen Schultag im Ganztagsunterricht. Wie kann das individuelle Üben in den Ganztag einbezogen werden?
Lehmann-Wermser: Wenn wir über grundlegende Fertigkeiten auf Instrumenten reden, ist das sicherlich auch im Unterricht und im Schulalltag unterzubringen. Doch wenn wir wirklich über ein individuelles, konzentriertes und zielgerichtetes Üben sprechen, dann ist das nur sehr begrenzt in den Ganztagsschulalltag integrierbar. Also wenn wir – ich deutete es bereits an – von einem hohen Niveau sprechen, dann gibt es Grenzen. Auch das ist kein neues Problem.
„Die prekären Verhältnisse, in denen viele Musikpädagogen leben, sind in dieser Form auf die Dauer nicht hinnehmbar.“
nmz: Musikschulen und freiberufliche Musikpädagogen haben die Angst, dass durch den Ganztagsunterricht der außerschulische Musikunterricht an den Rand gedrängt oder sogar in seiner Existenz gefährdet ist. Was sagen Ihre Untersuchungen hierzu?
Lehmann-Wermser: Die Ängste hierzu sind verständlich. Aber viele Musikschulen haben sich entwickelt und sich in Förderprogrammen oder in einem dieser zahlreichen Kooperationsmodelle zwischen einer Musikschule und allgemein bildenden Schulen engagiert.
In manchen Bereichen gibt es viel versprechende Entwicklungen, weil die Musikschulen eine Chance haben, eine zukünftige Klientel überhaupt an ihre Angebote heranzuführen, die zwar in bildungsbürgerlichen Familien immer, aber vielen anderen nicht bekannt waren. Man muss allerdings sicherlich auch sagen, dass es für die Musikschulen im Augenblick in manchen Bereichen ein Qualitätsproblem in dem Sinne gibt, dass die Musikschullehrer oft nicht wirklich für die neuen Unterrichtsformen ausgebildet worden sind.
Es gibt für die Lehrkräfte die Notwendigkeit der Fortbildung, sei es im Bereich der Elementaren Musikpädagogik, wenn sie im Grund- oder Vorschulbereich arbeiten wollen, oder im Bereich von Gruppenunterricht und Ensemble-Tätigkeit. Da ist noch ein Nachholbedarf. Dann haben Musikschulen und freiberufliche Musikpädagogen gute Chancen, diesen neuen Herausforderungen zu begegnen.
nmz: Die Honorierung von außerschulischen Musikpädagogen im Ganztagsunterricht ist nicht gut, oft sogar prekär. Haben Sie berechnet, wie hoch die Mittel sein müssten, um Musik im Ganztagsunterricht so anbieten zu können, dass die pädagogische Qualität hoch und die Bezahlung der Ausbildung der Musikpädagogen angemessen ist?
Lehmann-Wermser: Wir haben das nicht berechnet. Ich muss leider sagen, dass uns dafür grundlegende Zahlen fehlen; es gibt keine solide Berechnung des Bedarfs; es gibt keinen soliden Überblick über die Struktur des Arbeitsmarktes. In Nordrhein-Westfalen sind zum Beispiel durch JeKi oder neuerdings JeKits Instrumentalpädagogen qualifizierter Art eher knapp auf dem Arbeitsmarkt vorhanden und es wurden ganz viele andere eingestellt. Doch es verbirgt sich dahinter das umfassende Problem: Was sind uns Bildung allgemein und Kunst und Musik eigentlich wert? Dazu gehört auch die Bezahlung in B-Orchestern oder die Auseinandersetzung über die Entlohnung von Erzieherinnen und Erziehern in diesem Frühjahr. Es geht um die Frage, was wir denn eigentlich für eine angemessene Honorierung von Menschen halten, die, wie die Instrumentalpädagogen, nun wirklich eine lange und schwierige Qualifikation haben. Hierzu muss noch eine eindeutigere Antwort gefunden werden. Ich gebe Ihnen Recht, die prekären Verhältnisse, in denen viele leben, sind in dieser Form auf die Dauer nicht hinnehmbar.
„Muse und Muße würden eigentlich in den Schulunterricht gehören.“
nmz: Was sollte von Seiten der Politik und Gesellschaft unternommen werden, damit kulturelle Bildung, insbesondere die Musik so in den Ganztagsunterricht einbezogen werden kann, dass eine individuelle, nachhaltige Ausbildung gewährleistet werden kann?
Lehmann-Wermser: Auch wenn die Wahrnehmung vieler Musikpädagoginnen und -pädagogen anders ist, ich finde, die Politik hat in den letzten 10 bis 15 Jahren sehr viel gemacht. Es sind hohe Millionenbeträge in diesen Bereich gewandert, sowohl in den schulischen, als auch in den außerschulischen Bereich. Ich würde das provokant so formulieren, dass jetzt eigentlich die Schulen und Musikschulen gefordert sind. Die müssen nun zeigen, dass sie diese neuen Möglichkeiten, die sich eröffnet haben, nutzen können, dass sie qualitätsvolle, spannende Angebote machen. Da scheint mir doch noch viel zu tun zu sein.
nmz: Zum Schluss eine musikalische Frage: Geht durch die Ganztagsschule das verloren, was man früher als „Muße“ und „Muse“ bezeichnete? „Träumen“, das wissen wir von Schubert oder Schumann, kann ja durchaus wichtig sein, insbesondere für Jugendliche, die musisch begabt sind. Können „Ruhezonen“, in die man sich zurückziehen kann, wo man auch einmal allein sein kann, im Ganztagsunterricht verwirklicht werden?
Lehmann-Wermser: Sie sprechen ein wichtiges Problem an: Die Schulen sind sehr unruhig. Es gibt interessante Untersuchungen darüber, dass dies bereits mit der Akustik beginnt, dass die Klassenzimmer so gebaut sind, dass sie viel zu laut sind. Muse und Muße sind klanglich dicht beieinander. Beides würde eigentlich in den Schulunterricht gehören. Für beides ist im Augenblick zu wenig Raum da. Das hängt natürlich auch mit massenmedialen Verhaltensweisen zusammen. Es gibt Schulen, die sich dem aktiv zuwenden, und sagen, ja wir wollen solche Ruhezonen schaffen für das Lernen, aber auch für den Rückzug, für konzentriertes Musikhören, individuelles und alleiniges Hören. Doch das ist bei vielen Schulen noch nicht wirklich angekommen. Ich glaube, das ist prinzipiell integrierbar, nicht nur an den Ganztagsschulen, auch an allen anderen Schulen. Aber da muss noch viel gemacht werden.