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Sei mein Genie!

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Zur Langlebigkeit eines überkommenen Rezeptionsparadigmas im Musikjournalismus
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Es sind kultische Insignien der Verehrung, der Huldigung, sogar der Anbetung. Sie schlagen einem überall entgegen, wo von klassischer Musik die Rede ist: aus Gesprächen mit dem Publikumsnachbarn und der Studienkollegin, aus wortgewaltigen Konzertankündigungen, Pressemeldungen und Künstlerbiographien, aus Rezensionen in den einschlägigen Feuilletons. Im Musikjournalismus und im Werbejargon der Agenturen und Konzertveranstalter wimmelt es geradezu von Meisterwerken, Wunderkindern, Genies, Jahrhundert- und Weltklassekünstlern; kein Superlativ ist drastisch genug.

Aber wozu dient dieses reflexhafte Idealisieren der Akteur*innen auf den Podien und Opernbühnen? Der verbale Beifall scheint häufig ein Hierarchiegefälle zu implizieren, denn gelobt wird vorwiegend von unten nach oben – der Normalsterbliche verneigt sich vor der Diva, die ‚irdischen‘ Texteschmieden kultivieren einen devoten Verherrlichungsgestus gegenüber den ‚göttlichen‘ Solist*innen und Dirigenten. Dieser Essay versucht Psychologie und Ursachen der genannten Mechanismen zu ergründen und sucht nach möglichen Auswegen aus einer rezeptionsästhetischen Sackgasse.

Das Genie als Idealtyp

Der emphatische Geniebegriff, wurzelnd in der romantisch-verklärenden Weltanschauung des 19. Jahrhunderts und deren Rezeptionsstereotypen, hat in der nichtwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Musik noch immer Hochkonjunktur. Der Idealtyp des künstlerischen Genies ist eine schöpferische Person, deren Originalität und kreative Leistungen mit besonderer Hochachtung gewürdigt werden – „geniale“ Musiker im eigentlichen Sinne sind also Komponisten. Sobald das Etikett allerdings auf Musikinterpreten, also nachschaffende Künstler, übertragen wird (fast immer sind es Männer), findet bereits eine Verzerrung statt: Hervorgehoben und gefeiert wird nicht mehr die idealisierte schöpferische Leistung, sondern das Wieder-Hervorbringen eines Kunstwerks auf eine vermeintlich einzigartige Weise; die Interpretation wird dem Kunstschaffen ästhetisch gleichgestellt oder sogar höher bewertet.

Meinungen und Urteile

In der öffentlichen Wahrnehmung scheinen vor allem Dirigenten und Pianisten dem Typus des ‚genialen‘ Musikers zu entsprechen. Gleich mehrere Bücher über den kanadischen Pianisten Glenn Gould tragen das ‚Genie‘ im Titel, etwa Peter Ostwalds Biographie The Ecstasy and Tragic of Genius. Die Dirigentin Marin Alsop schreibt über Leonard Bernstein: „[He] was impossibly brilliant in so many different areas: a genius conductor, composer, author, pianist, thinker, activist, educator and entertainer“, während The Independent in ähnlich euphorischen Worten von Carlos Kleiber schwärmt: „There are not very many really superb conductors; [...] there was only one who could plausibly be described as a genius.“ Unter den lebenden Dirigenten ist es vor allem Teodor Currentzis, dessen polarisierende Selbstinszenierung die Musikkritik zwischen Bewertungen als Genie oder Scharlatan oszillieren lässt. Der französische Komponist Philippe Hersant hat seine Zusammenarbeit mit Currentzis folgendermaßen beschrieben: „Teodor ist ein Genie. Er versteht sofort alles. Das habe ich noch nie erlebt.“ Wenn die Kategorie des Genies nicht auszureichen scheint, werden sogar noch weiter Superlativen bemüht; so ist man beim Bayerischen Rundfunk der Meinung, Igor Levit sei „nicht nur ein genialer Pianist, sondern auch ein leidenschaftlicher Humanist“, und der französischen Zeitung Le Figaro ist ein vielzitiertes, an Pathos kaum zu übertreffendes Bonmot über Fazıl Say zu verdanken: „Ce n’est pas seulement un pianiste génial; il sera sans aucun doute un des grands artistes du XXIe siècle.“

Fehlbare Genies?

Gelegentlich wird vermeintliche Genialität sogar als implizite Rechtfertigung für in anderen Belangen kritikwürdige Personen gebraucht. Die Stuttgarter Zeitung hat die Missbrauchsvorwürfe gegenüber James Levine als „Angriff auf einen genialen Dirigenten“ beschrieben, was verdächtig abwiegelnd klingt.
Die Unfähigkeit oder gar Weigerung, zwischen den lobenswerten und den verwerflichen Anteilen des Handelns einer verehrten Person zu differenzieren, stilisiert den Betreffenden entgegen der Beweislage als Opfer von Kampagnen und Zeitgeist; so manches Mal ist die Hypothese, künstlerische Größe würde Fehlverhalten entschuldigen oder sogar unmöglich machen, als Generalargument der das ‚Genie‘ verteidigenden Fraktionen proklamiert worden.

Den zitierten Äußerungen über als Genies erkannte Musikerpersönlichkeiten haftet ein mehr oder weniger deutlich artikulierter Gültigkeitsanspruch an und damit das Bedürfnis, die eigene Urteilskompetenz zu demonstrieren. Dahinter steckt ein selbstberufenes Richtertum, dessen kaum verhohlene Subjektivität den ergangenen Befund zugleich relativiert – letztlich handelt es sich um Einzelmeinungen, die den Anspruch, darüber zu befinden, wer ein Genie sei und wer keines, nur mit Hilfe von unwiderlegbaren Geschmacksurteilen aufrechterhalten können.

Als Perspektive der Musikrezeption erscheint ein Geniekult, der die Person eines Interpreten in den Mittelpunkt stellt, wenig hilfreich oder sogar kontraproduktiv, da durch die starke Fokussierung eines nachschöpferischen Aktes andere Aspekte der Musikausübung, insbesondere die Würdigung der Kreativleistung einer Komponistin oder eines Komponisten, tendenziell abgewertet werden. Problematisch ist zudem, gerade bei den jüngeren #metoo-Fällen innerhalb der Musikszene, der geradezu zwanghaft exkulpierende Charakter, der manchen der Zuschreibungen anhaftet. Obwohl die künstlerischen Verdienste der Betreffenden von den meisten Kritiker*innen überhaupt nicht in Abrede gestellt oder sogar explizit betont werden, heben etliche Entgegnungen auf das Mantra ab, dass man ‚genialen Künstlern‘ ihre Launen und Eitelkeiten doch nachsehen müsse.

Dieser Verteidigungsreflex ist selbst Teil des Problems: Nach Art eines whataboutism werden Faktoren ins Feld geführt, die sich vom Kern der Kritik wieder entfernen, um zu deren Berechtigung oder Stichhaltigkeit selbst nicht Stellung nehmen zu müssen.

Fazit und Ausblick

Wenn Musiker*innen sich untereinander als genial bezeichnen, mag man geneigt sein, ihnen die Deutungshoheit über das Gebiet, in dem sie sich äußern, zuzugestehen. Hingegen machen sich Musikjournalistinnen und Kritiker, die sich in der Berichterstattung über nachschaffende Künstler*innen des Geniebegriffs bedienen, in der Regel angreifbar, da ihre Diagnosen kaum anders denn als Ausweis der selbst zuerkannten Fachkompetenz interpretiert werden können. Der Subtext lautet: Seht, ich kenne den Musikbetrieb gut genug, um ein solches Urteil fällen zu dürfen; ich weiß, wer ein Genie und wer keines ist, und mir steht es an, das höchste verfügbare Lob zu zollen.

Indem das Etikett also letztlich weniger Auskunft gibt über die Person, auf die es gemünzt ist, als über die Anmaßung desjenigen Menschen, der es gebraucht, wird der Befund bereits entkräftet. Zudem kann es riskant sein, den Eindruck zu erwecken, dass für ein künstlerisches ‚Genie‘ andere Regeln gälten als für Normalsterbliche, und es deshalb über Kritik erhaben sei. Hieraus folgt nur allzu leicht der Schluss, dass das Vorhandensein von Genialität ein Fehlverhalten in bestimmten Bereichen rechtfertige, was als Preis für den ästhetisch hochwertigen Kunstgenuss, den das ‚Genie‘ uns zuteil werden lässt, in Kauf genommen werden müsse.

Man verwende die besagten Huldigungsattribute also lieber nicht für Persönlichkeiten, sondern – wenn es überhaupt sein muss – für ihr Wirken. Verbale Alternativen sind in ausreichendem Maße verfügbar; eine Leistung kann auch als ‚originell‘, ‚innovativ‘ oder ‚bemerkenswert‘ beschrieben werden, ohne dass man sie gleich ins Übermenschliche hochstilisieren muss. Ohnehin handelt es sich hier um ästhetische Wertungen und keine Sachurteile, sodass die anachronistischen, der Genieästhetik vergangener Jahrhunderte entstammenden kultischen Epitheta absolut verzichtbar erscheinen. Denken mag man sie durchaus, und der Reflex, sie zu äußern, mag manchmal kaum zu unterdrücken sein – aber beim publizistischen Schreiben darf man die ‚Genies‘ und ihre Verehrung getrost beiseite lassen.

Dieser Text ist die gekürzte Fassung eines zuerst im VAN Magazin erschienenen Artikels:
www.van-magazin.de/mag/genie

 

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