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Singen verbindet Generationen und Kulturen

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Cornelius Hauptmann im Gespräch über lebendige Musikkultur
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Immaterielles Kulturerbe – was ist das überhaupt? Laut der Unesco-Kommission sind das Kulturformen, die „entscheidend von menschlichem Wissen und Können getragen“ sind, „Identität und Kontinuität“ vermitteln, „von Generation zu Generation weitergegeben“ und dabei „fortwährend neu gestaltet“ werden. Das Spektrum ist vielfältig: Zum immateriellen Kulturerbe zählt die Unesco neben Bräuchen, Handwerkskünsten und Festen natürlich auch Tanz, Theater, mündliche Überlieferung und Musik. Aber was ist besonders wertvoll und erhaltenswert?

Gelebte Kultur lässt sich eben nicht mit Händen greifen, anders als Bilder, Statuen und historische Gebäude oder Ortschaften, die zum materiellen Kulturerbe zählen. Ein Glücksfall, wenn sich das eine mit dem anderen verbindet, erzählt DTKV-Präsident Cornelius Hauptmann, etwa beim Weihnachtsmarkt in seinem Wohnort Esslingen, wo sich am Mittelalter orientiertes Markttreiben in der mittelalterlichen Altstadt abspielt. Für ihn gilt: „Immaterielles Kulturerbe muss, wie auch das materielle, gepflegt werden“.

Sauer stößt Hauptmann freilich auf, dass sich das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Kulturerbes zwar teilweise gewandelt hat – beispielsweise wenn es um den Erhalt historischer Gebäude geht –, dass aber gelebte Traditionen im Musikbereich nach wie vor durch mangelnde Praxis gefährdet sind. Tatsächlich hat es gerade hier in den letzten fünfzehn Jahren eine scheinbar paradoxe Entwicklung gegeben: Einerseits wird dank naturwissenschaftlicher und pädagogischer Erkenntnisse Singen und aktives Musizieren von frühester Kindheit an wieder zunehmend wertgeschätzt und empfohlen. Gleichzeitig hat die fortschreitende Digitalisierung Musik rund um die Uhr mühelos – und häufig kostenlos – verfügbar und damit für viele zu einem reinen Konsumartikel gemacht.

Cornelius Hauptmann kann und will die Uhr nicht zurückdrehen, aber das (all)tägliche Singen in der Familie sieht er durch CDs, Smartphones und das Internet zumindest gefährdet, und seiner Erfahrung nach findet an Schulen immer noch viel zu wenig Musikunterricht statt. In Alarmstimmung versetzen ihn regelmäßig Berichte wie der eines befreundeten Gymnasiallehrers: Dieser hatte in seiner 12. Klasse das Abendlied, also den Liedklassiker „Der Mond ist aufgegangen“ angesprochen – und nur fragende Blicke geerntet. Projekte, die diesem Trend entgegenwirken, wie das Liederprojekt des Carus-Verlags, die Website „Ganz Ohr!“ der Musikhochschule Hannover oder Initiativen einzelner Städte und Kommunen sind Hauptmann nicht genug: „Es gibt eine große Einsicht, aber es fehlen kulturpolitische Impulse, sie auch umzusetzen, dass man etwa festlegt, dass jedes Kind ein Instrument lernt und in der Schule mindestens zwei Stunden Musikunterricht pro Woche haben muss.“ Singen gehöre als tägliche Praxis in jede Grundschule, und schon für Kita-Erzieherinnen müsse eine musikalische Grundausbildung verbindlich sein.

Damit benennt er ein weiteres Paradoxon: Deutschland pflegt mit seinen 24 Musikhochschulen, 131 Kulturorchestern und Zehntausenden von Chören eine reiche Musiktradition, die internationale Spitzenmusiker anlockt und im Amateurbereich für sozialen Zusammenhalt sorgt. Besonders unter Kindern können neben musikalischen Fähigkeiten durch das gemeinsame, nicht von Wettbewerbsgedanken beeinträchtigte Musizieren Empathie und interkultureller Dialog entstehen. Hauptmann zitiert dazu den Psychologen und Psychiater Manfred Spitzer, der sich für mehr künstlerische und motorische Praxis einsetzt: „Die wichtigsten Schulfächer sind Musik, Sport, Theaterspielen, Kunst und Handarbeiten, da alle andern Fächern davon profitieren.“

Aber gerade die Jüngsten werden musikalisch zu wenig gefördert. Viele Politiker, moniert Hauptmann, dächten beim Thema Kultur vor allem an Einsparungen, aber sie koste, frei nach Richard von Weizsäcker, nun einmal Geld. Sein Fazit: „Die Kulturpolitik lässt die Musikalisierung schleifen.“

Dabei können besonders Volkslieder generationenübergreifende Wirkung entfalten. Hauptmann hat beobachtet, dass selbst Menschen mit fortgeschrittener Demenz, die sich teilweise nicht mehr an den eigenen Namen erinnern, alle Strophen eines Liedes mitsingen, das sie in der Kindheit gelernt haben: „Ich plädiere zum Beispiel sehr für den Erhalt und das Singen von Weihnachtsliedern, denn zum Teil sind sie 500 Jahre alt und spiegeln unsere Geschichte wider.“

Die Vermittlung von Kulturformen sei aber nicht nur für hier Geborene oder Alteingesessene wichtig, sondern auch für die Neuankömmlinge und deren Kinder. Von der mancherorts angedachten Idee, an Schulen auf Weihnachts- oder andere Volkslieder zu verzichten, um etwa muslimische Kinder nicht zu verunsichern, hält er gar nichts: „Ich rede mit muslimischen Gruppen, die mir sagen, das sei Quatsch. Natürlich feiern Muslime nicht Weihnachten, aber in der Schule können Kinder christliche, muslimische oder jüdische Lieder singen. Singen verbindet Kulturen. Man braucht eben immer Vorreiter, die ein gutes Beispiel geben.“ Doch bei aller Liebe zum Volkslied liegt dem Opern-, Konzert- und Liedsänger Cornelius Hauptmann keineswegs an einem eng gefassten Kulturbegriff. Schon früher haben Elemente anderer Kulturen Eingang in die Musik gefunden, bei Haydn etwa aus der ungarischen Musik, bei Mozart aus der türkischen. Und auch Jazz oder Pop haben die Kultur hierzulande geprägt. Zu Hauptmanns persönlichem musikalischen Kulturerbe gehören die Beatles genauso wie die Klassik, er selbst hat in jungen Jahren in einer Krautrockband mitgespielt: „Das waren englische Musikeinflüsse, aber wir haben als eine der ersten Gruppen deutsche Texte verwendet. Mittlerweile ist das etabliert, doch bis dahin hat es vierzig Jahre gedauert. Und was sich durchsetzt und in hundert oder zweihundert Jahren zum musikalischen Erbe gehört, lässt sich sowieso erst im nächsten Leben sagen.“ Schließlich kann die Unesco-Liste des immateriellen Kulturerbes immer nur eine vorläufige sein.

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