Im Radio spielen sie John Lennons „Give Peace a Chance“, zur gleichen Zeit, in ganz Deutschland. 4.000 Menschen treffen sich in Hamburg auf dem Rathausmarkt und singen gemeinsam für den Frieden, während an den Bussen des öffentlichen Nahverkehrs dort, wo sonst ihr Fahrtziel aufleuchtet, #StopptdenKrieg zu lesen ist. Und Isabell, die in einer Kleinstadt in Baden-Württemberg Klavier unterrichtet, nimmt kein Geld mehr von ihrer ukrainischen Schülerin. Deren Eltern brauchen jetzt jeden Euro, sagt sie. Weil die Großeltern gekommen sind, auch ein Cousin mit seiner Mutter, eine Tante. Es ist Krieg in der Ukraine, für viele ein Ausnahmezustand auch hierzulande. „Wir können als Menschen helfen“, sagt Isabell. „Aber wir müssen auch als Musikerinnen helfen, Musik ist ein wichtiger Bestandteil des Lebens.“ Seit dem 24. Februar helfen Musikerinnen und Musiker des DTKV überall in Deutschland - mit Worten und mit der Kraft ihrer Musik. Exemplarisch für das große Engagement der Kolleginnen und Kollegen berichten wir an dieser Stelle von einigen der Aktionen, wie sie in den vergangenen Wochen stattfanden und weiter stattfinden werden.
Berlin. „Ich bin wütend. Ich bin traurig. Ich schreie. Ich bin erschöpft, überfordert. Ich wache jeden Tag auf mit Angst. Ich bin motiviert zu helfen. Ich bin hilflos. Ich überwinde die Hilflosigkeit“, bringt die Sängerin und Sprecherin Mascha Raykhman, 1995 in Kiew geboren, ihre Verfasstheit angesichts des Krieges in einem Interview mit der Redaktion des DTKV-Landesverbandes Berlin (mehr auf der Länderseite), in Worte. „Ich sehe Fortschritte und glaube an die Tapferkeit und Stärke meines Geburtslandes. Ich versuche, andere zu erreichen, irgendetwas beizutragen, um den Menschen vor Ort zu helfen. Den Menschen, die hierher kommen.“
Buxtehude. Angesichts der unfassbaren militärischen Konfrontation zwischen Russland und der Ukraine ist die Hoffnung auf Versöhnung bei vielen groß, jede Geste, die darauf verweist, wird wahrgenommen. „Was mich in diesen Tagen besonders bewegt hat, war zu erfahren, dass der Komponist Valentin Silvestrov mit seiner Familie aus Kiew geflüchtet ist und von der ukrainisch-polnischen Grenze von dem weißrussischen Dirigenten Vitali Alekseenok nach Berlin gebracht wurde“, sagt Gudula Senftleben von der DTKV-Bezirksgruppe Cuxhaven/Stade. Überall in der Region hoch im Norden würden Musikerinnen an Hilfsaktionen und Mahnwachen teilnehmen. Gleichzeitig fanden im März in Bremerhaven (Stadthalle), in Bremen (Glocke) und Buxtehude (St. Petri) Benefizkonzerte statt. Die Musikschule An der Oste in Hemmoor spielte den Kanon „Dona nobis pacem“ ein und stellte ihn ins Internet. Gudula Senftleben selbst spielte für die Ukraine-Nothilfe im Kulturforum in Buxtehude ein Konzert mit Werken von Beethoven, Silvestrov und Dvorak.
Eifel. Die Cellistin Johanna Stein, wohnhaft in der Eifel, erinnert angesichts des Krieges in der Ukraine an das zur Friedenshymne gewordene Weihnachtslied „El Cant dels Ocells“, „Der Gesang der Vögel“. Die alte katalanische Melodie wurde durch den Cellisten Pablo „Pau“ Casals berühmt, der sie Zeit seines Lebens überall auf der Welt spielte, um an den Frieden zu gemahnen. Nein, nicht überall: Pau (ein Name, den Freunde ihn gaben, und der Frieden bedeutet) konzertierte bekanntermaßen nicht in Ländern, deren Regime gegen den Frieden waren – seit 1917 nicht mehr in Russland, seit 1933 nicht mehr in Deutschland, ab 1936 nicht mehr in seinem Heimatland Spanien, das er aus Protest gegen das Franco-Regime verließ. Pablo Casals nannte die Melodie ein Lied „der heimwehkranken spanischen Flüchtlinge“, für viele Cellistinnen und Cellisten nach ihm ist es bis heute ein Lied, mit dem sie ihre Stimme gegen den Krieg erheben. Ihre neu eingespielte Version dieser Friedenshymne hat Johanna Stein auf YouTube zur Verfügung gestellt (https://youtu.be/CY8sn6Er-yw). Das Original von Pablo Casals ist hier abrufbar: https://www.youtube.com/watch?v=COR3lMXKAfg&t=25s.
Lotte bei Osnabrück. Sich für Verständigung und Frieden einzusetzen liegt auch den beiden Pianistinnen Elizaveta Smirnova und Julia Schirjajew am Herzen. Ende März spielten sie auf Einladung der Kirchengemeinde Wersen-Büren und des Kulturbeauftragten des Ev. Kirchenkreises Tecklenburg, Pfarrer Dr. Norbert Ammermann, in Lotte bei Osnabrück ein Benefizkonzert mit Klaviermusik zu vier Händen vom deutschen Barock bis zur russischen Moderne mit Werken von J. S. Bach, G. Swiridow, A. Chatschaturjan und S. Rachmaninow. Was vor dem 24. Februar ganz selbstverständlich zum musikalischen Konzertalltag gehörte, wirkt – ähnlich wie die Grenzbegegnung von Valentin Silvestrov und Vitali Alekseenok – in Zeiten des Krieges wie eine Friedensbotschaft: Elizaveta Smirnova wurde in russischen Nowgorod geboren, Julia Schirjajew in der ukrainischen Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer.
München. Erinnerungen tauchen auch bei denjenigen auf, die den Krieg hinter sich haben. Oliver Fraenzke, nmz-Redakteur der Bayern-Seiten, etwa traf die in München lebende Violinistin Anna Kakutia: „Sie erinnert sich an ihre Jugend in Georgien, als das Land 1991 aus der Sowjetunion austrat, worauf die Ukraine nachfolgte. Der Schrecken, mitten in der Hauptstadt Panzer zu sehen, durch zerbombte Gebäude zu gehen, dazu in der Unsicherheit drohender Ereignisse zu leben, sitzt bis heute tief.“ Auch Anna Kakutia gab im März in München gemeinsam mit der japanisch-stämmigen Pianistin Masako Ohta ein Benefizkonzert gegen den Krieg. „Mir scheint der jetzige Krieg die Gewalt gegen Kultur zu demonstrieren“, sagt die Pianistin. „Wie kostbar ist es, dass wir in dieser Welt zusammen leben, zusammen sprechen und miteinander hören dürfen – unsere verschiedenen Kulturen ausüben und sie miteinander genießen! Halten wir zusammen und helfen miteinander für den Frieden.“
Auch wenn, so Oliver Fraenzke, Musik in den meisten Fällen der Politik fern stehe, appelliere sie „in ihrem Entschwinden noch während des Entstehens und ihrer im Umkehrschluss enormen Unmittelbarkeit der Wirkung in jedem Ton an die Einheit und Menschlichkeit. Wenn Musiker*innen aufstehen und ihre Klänge einem politischen Ereignis widmen, entsteht ein durchdringender Ruf. Er vermittelt nicht an ein System, positioniert sich nicht auf eine der Seiten, sondern er will auf den Menschen an sich einwirken, das eigene Handeln zu hinterfragen und sich dem Übergreifenden, dem Gemeinsamen hinzugeben.“ Das Ausmaß, das solch ein Ruf annehmen könne, so Fraenzke, werde gerade in der derzeitigen Lage durch die Vielzahl wie Vielfalt an Benefiz-Konzerten und ähnlichen musikalischen Hilfsappellen ersichtlich, wie sie aktuell allerorts stattfänden. Die Werkauswahl erweise sich dabei als „sehr persönlich“. Prof. Julius Berger (Augsburg) sagte dazu in seinem Musikalischen Gebet für die Menschen in der Ukraine: „Musik ist ein Dokument und ein Maßstab für ein Mensch-Sein, das sich der Grenzen und Endlichkeit menschlicher Reichweite bewusst ist.“
Einen gemeinsamen Auftritt mit Künstlerinnen und Künstlern des DTKV und den Musiker*innen Olha Babii, Vladimir Bonar und Olga Rogach, die aus der Ukraine flüchten konnten, haben auch die beiden Musikerinnen Anne Schätz und Barbara Hesse-Bachmaier in München organisiert. Auf dem Programm, das am 1. April im Steinway-Haus zu hören ist, stehen Werke von russischen und ukrainischen Komponisten, unter anderem von Igor Loboda, Reinhold Glière, Sergej Prokoview und Sergej Rachmaninow. Die Einnahmen kommen dem Verein “gorod e.V.” zugute. Darüber hinaus findet im Steinway-Haus München auch ein Jugendbenefizkonzert statt (13.5., 19.30 Uhr).
Köln-West. Mit einem Ausschnitt aus ihrem Programm „Haifisch, Taube, Tiger und Schwan“ wollten auch die Sängerin Daniela Bosenius und Julia Diedrich ein Zeichen gegen den Krieg setzen. Im Gemeindehaus Widdersdorf gastierten die beiden Musikerinnen mit Beiträgen von Brecht, Kreisler und Tucholsky.
Hamburg. Ein hörbares Zeichen setzen gegen den Krieg in der Ukraine wollen auch Cellospielende in Hamburg. Auf Initiativer der Cellistin Bettina Kramp tun sie sich in der Hansestadt gerade für ein besonderes Projekt zusammen: Gemeinsam wollen sie das Stück „Fratres“ von Arvo Pärt einstudieren, um es im Rahmen eines Benefizkonzerts zu spielen. Initiatorin Bettina Kramp: „Was können wir tun, außer fassungslos mit anzusehen, wie Millionen von Menschen ihre Heimat, ihr Leben und ihre Zukunft genommen wird, Tag für Tag immer mehr? Wir können, wir spielen Cello!“ Noch werden Mitspieler*innen und Spielorte gesucht, die Spendenadresse aber steht schon fest: „Das Geld“, so Bettina Kramp, „soll den Flüchtlingen, insbesondere den vielen Kindern aus der Ukraine zugute kommen.“
Baden-Württemberg. Die vielen Initiativen von Musikerinnen und Musikern überall im Land machen ganz praktisch deutlich, was DTKV-Präsident Prof. Christian Höppner in seiner Pressemitteilung nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine schrieb: „Die Musik ist nicht unpolitisch. Die Musik steht für das Wahre und Schöne. Die Musik steht für das Recht auf Leben. Jeder kann an seinem Platz einen Beitrag dazu leisten.“ Oder in den Worten von Isabell, der Klavierlehrerin aus Baden-Württemberg, die für ihren Unterricht von der Familie ihrer ukrainischen Schülerin kein Geld mehr nimmt: „Für mich ist es nur weniger Geld. Aber für die Familie ist die Musik überlebenswichtig. Die Situation ist so unheimlich schlimm! Wir hier bekommen davon nur die Reste mit...“
Eine aktuelle Übersicht zu Hilfsmaßnahme im Bereich Musik findet sich auch auf der Webseite des Deutschen Kulturrats unter https://www.kulturrat.de/ukraine/musik/.