Die derzeitige Situation des freischaffenden Musikers als Solist, Sänger oder Dirigent stand im Mittelpunkt der Fachtagung der Berufsverbände aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, zu der dieses Jahr vom 25.-27.09.2015 der Deutsche Tonkünstlerverband ins idyllisch gelegene Kloster Banz nahe Bamberg eingeladen hatte.
Mit der Hanns-Seidel-Stiftung als Kooperationspartner, die das Kloster als Bildungszentrum ausgebaut hat, war für die Thematik „Freischaffende Musiker und Solisten im Spannungsfeld zwischen Berufung und Existenz“ ein breites Informationsforum gewonnen. Vierzehn Fachleute aus Hochschule, Bühnenbetrieben, Sozialpolitik und Musikwirtschaft gaben Erfahrungsberichte über die sich verschlechternde Situation der freien Künstlerszene. Hierzu gehört nicht nur der weit verbreitete prekäre soziale Stand – es geht hier vor allem auch um Ausbildungsstandards, um den Sinn oder die Not von Patchwork-Tätigkeiten, in diesem Zusammenhang auch um Qualität der Leistung sowie um soziale Absicherung.
Opernkarriere: vielfältige Hürden
Der Einführungsvortrag des Präsidenten des Deutschen Tonkünstlerverbandes führte direkt in den Kern der Problematik. Cornelius Hauptmann, selbst Opern-, Lied- und Oratoriensänger mit einer internationalen Karriere, deutete in einem fiktiven Beratungsgespräch mit der 14-jährigen Jenny, die unbedingt Sängerin werden will, auf die vielfältigen Hürden dieser Laufbahn hin.
Er beschreibt zunächst den steinigen Weg über Privatunterricht, Musikgymnasium, Aufnahmeprüfung an der Hochschule, Studium und Examen. Dann folgen die Bewerbungen: „Hast Du’s, liebe Jenny, bis hierher geschafft? Gratuliere! Aber jetzt geht’s erst richtig los. Du hast vielleicht einen respektablen Master-Abschluss an Deiner Hochschule hingelegt. Super. Und nun? Tja, jetzt kommen Vorsingen oder Vorspielen. Du willst an die Oper? Da kriegst Du einen Vorsingtermin nur über eine Agentur. Und die freien Stellen werden auch nicht in der neuen musikzeitung ausgeschrieben. Hilfreich wäre es, liebe Jenny, wenn Du so gut bist, dass Du bei einem Gesangswettbewerb entdeckt wirst. Da sitzen nämlich Agentinnen und Agenten im Publikum. Vielleicht hast Du aber auch Glück und warst in einer Opernklasse in Verbindung mit einem Staatstheater oder in einem Opernstudio. Da konnte man Dich schon mal hören und auf der Bühne bewundern. Und vielleicht hat ein Zuhörer dank seiner Verbindungen einer Opernagentin gesteckt, dass es da eine auffällige Sängerin gibt, die mit einer Supertechnik, einer charismatischen Ausstrahlung, einer engelsgleichen Stimme und einem musikalischen Reichtum die Hörer vom Hocker reißt. Dann könnte das klappen mit einem Vorsingen an einem Staatstheater oder einer städtischen Bühne.
Selbstverständlich solltest Du schon längst eine ansprechende Homepage mit Super-Portraitfotos haben, auf der man was über Dich erfährt. Und falls Du einen komischen Namen haben solltest, könntest Du Dir auch einen Künstlernamen zulegen.
Und nun kommt das Vorsingen oder Vorspielen: Bist Du in der glücklichen Lage, eine Konzertagentin oder einen Opernagenten gefunden zu haben, so kriegst Du einen Vorsing- oder Vorspieltermin, darfst nun zunächst mal im Betriebsbüro Deine Unterlagen und Deine Repertoireliste abgeben und dann mit weichen Knien auf die Bühne. Deine Nerven sind eine einzige Schlabbermasse und Du denkst darüber nach, dass Du doch lieber hättest Ärztin werden sollen. Leere Bühne. Leerer Orchestergraben, obwohl …: immerhin steht da ein Klavier. Und an diesem sitzt ein Korrepetitor, den Du nur gerade kurz gesehen hast, als Du ihm die Noten übergeben hast. Nein, zum gemeinsamen Üben war keine Zeit. Das muss jetzt so klappen! Das ganze Opernhaus ist dunkel, nur ein Licht für Dich auf der Bühne und ein Lichtlein ans Klavier geklemmt. Was mache ich hier, fragst Du Dich. Doch nein, Du bist nicht alleine, aus dem Zuschauerraum tönt eine Stimme. ‚Ich begrüße Sie, was haben Sie denn mitgebracht? Aha. Womit wollen Sie anfangen? Gut, bitteschön.’ Und da stehst Du nun herum, schaust kompetent und wichtig ins Dunkel und singst um Dein Leben. Vom Klavier ist fast nichts zu hören. Irgendwie hast Du die Arie bewältigt. ‚Haben Sie auch was Schnelles, mit Koloraturen? Gut, bitteschön.’ Unterbrechung nach zwei Minuten: ‚Danke, jetzt noch ein Stück Verdi.’ Wieder Unterbrechung nach einer Minute: ‚Danke, danke, das genügt. Rufen Sie uns nicht an, wir rufen SIE an.’ Aha. Und tschüss.
Das, liebe Jenny, musst Du aushalten. Dranbleiben ist angesagt. Und Glück braucht man. Denn es kann dann auch mal passieren, dass plötzlich ein Herr auf die Bühne kommt, im Schlepptau noch drei weitere Personen, er stellt sich als Operndirektor oder GMD oder Intendant vor und bittet Dich in sein Büro. Zweijahresvertrag, wie wär’s? Soundso viele Vorstellungen pro Spielzeit, angemessene Urlaubstage für Gastspiele, Vertragsentwurf geht an die Agentur. Dafür bekommt sie eine Provision von Dir und vom Opernhaus. Du kannst das Ganze aber auch in den Teich setzen: Womöglich ist die falsche Agentur für Dich tätig, dann kriegst Du erst gar nicht einen Vorsingtermin.
Nehmen wir aber mal an, dass alles gut gelaufen ist. Willkommen im Ensemble des Opernhauses! Das schnellste, was Du findest, ist die Kantine. Was für ein Trost! Interessante Leute gibt’s hier: Beleuchter, Maskenbildner, Orchester- und Chormitglieder, Kolleginnen und Kollegen, Korrepetitoren, Pförtner, Hutmacherinnen, Waffenschmiede, Schumacher, Inspizienten, Leute in der Verwaltung. Die ersten Proben stehen an, noch mit Klavierbegleitung. Da sind auch ein Dirigent oder sein Assistent, ein Regisseur mit seiner Equipe. Du musst eine Opernpartie singen in italienischer Sprache. In sechs Wochen ist Premiere. Danach eine Rolle auf Deutsch, in vier Monaten eine auf Französisch. Ende der Saison ist eine Oper in Altägyptisch angesagt. Das ist Echnaton von Philipp Glass. Zwischendurch wurdest Du für ein Requiem in lateinischer Sprache von einem Kirchenchor gebucht. Ich hoffe, Du weißt dann, was Du singst. Auch den Messias mit einem anderen Chor solltest Du sprachlich beherrschen, der wird nämlich auf Englisch gesungen. Du siehst: Sprachen sind sehr wichtig. Das Altägyptische darfst Du danach wieder vergessen. Auf jeden Fall solltest Du aber Englisch, Italienisch, Französisch und Deutsch ziemlich gut beherrschen. Sonst wird das nix mit einer Karriere.
Es kann passieren, dass Du eine für Dich neue Rolle singen musst, für die Du nicht eine einzige Bühnenprobe hattest. Diese Oper wurde schon letzte Spielzeit aufgeführt, Du bist die einzige Neue, da gibt’s keine Zeit für Extraproben. Du irrst auf der Bühne herum wie in der Geisterbahn. Und nur Deinen Kollegen verdankst Du, dass sie Dich unauffällig durch die Szene jonglierten. Irgendeine Stimme ruft dauernd Deinen Text aus einem Loch, das ist die Souffleuse, von der Du keine Ahnung hattest, dass es die gibt. Du wirst interessante Kolleginnen und Kollegen kennen lernen. Die meisten sind ganz nette Leute und prinzipiell auch sehr solidarisch. Das kann aber auch anders sein. Du kannst einen grausamen Zickenalarm erleben. Da wird eine neidische Kollegin immer dann krank, wenn Du für ein Gastspiel oder ein Konzert beurlaubt bist, da musst Du dann doch in Deinem Theater singen. Sehr blöd sowas. Noch blöder ist es dann, wenn Du zum Beispiel bei den Salzburger Festspielen singen darfst und Du plötzlich Deine Tasche und Klamotten im Flur vor den Garderoben wiederfindest. Die hat eine Kollegin aus Deiner Garderobe geschmissen, weil sie glaubte, mehr Rechte zu haben auf Deine Garderobe als Du. Doch, das gibt’s tatsächlich. Zum Glück aber hast Du ja gute Nerven. Solche brauchst Du auch …“
Freischaffend und armutsgefährdet
Solcherart in das Leben des Sängers und Musikers, seine Arbeitssituation und seine psychische Belastung eingeführt, erfuhren die zahlreichen Berufskollegen mehr Details in vielen kompetenten Vorträgen.
Interessante und ernüchternde Erfahrungen waren aus Österreich von Prof. Mag. Walter Rehorska (Universitäts-Lektor an der Musikuniversität Graz) zu hören: „Mehr als die Hälfte der Studierenden der künstlerischen Instrumental- und Vokalfächer absolvieren zusätzlich ein pädagogisches Studium. In der späteren Berufspraxis erweitert sich das Beschäftigungsspektrum auch auf musikverwandte Berufsfelder und notgedrungen auch Tätigkeiten abseits der Musik. Unter diesen Rahmenbedingungen ist, abgesehen vom wirtschaftlichen Aspekt, die handwerklich-künstlerische Solistenkarriere schwer zu halten.“
Johannes Maria Schatz, der Vorsitzende des Vereins „art but fair“ in Deutschland, verwies auf umfangreiche Studien zur freiberuflichen Tätigkeit: „Für einen Großteil der Musiker ist ein finanzielles Auskommen allein aus künstlerischer Tätigkeit trotz jahrelanger Ausbildung und hoher Qualifikation nahezu unmöglich geworden. Die Zahl festangestellter Künstler sinkt stetig, gleichzeitig steigt die Zahl derer, die freischaffend tätig sind und als armutsgefährdet gelten.“
Ines Stricker, Mitglied im Beirat der deutschen Künstlersozialkasse, erklärte die soziale Struktur des 1983 in Kraft getretenen Künstlersozialgesetzes, das aufgrund der großen Zunahme wenig beschäftigter Musiker die Altersarmut nicht abwenden kann. Der größte Prozentsatz an freiberuflichen Musikern wird auf Grundsicherung durch den Staat angewiesen sein.
Aus der Schweiz erläuterte hierzu Roger Marty, Direktor der Ausgleichskasse VEROM, das Sozialgesetz. Die Kriterien der Anerkennung als „Selbständigerwerbender“ sowie die Definition des Begriffs und die Berechnung des Einkommens und der Abgabepflicht eines freien Musikers basieren hier auf anderen gesellschaftlichen Grundwerten.
Felix Heri und Thomas Wehry berichteten über die künstlerischen und organisatorischen Herausforderungen eines freien, demokratisch organisierten Orchesters: der Basler Sinfonietta. Der Rektor des Departements Musik an der Kalaidos Fachhochschule Büren gab wissenswerte Einblicke in die Schwerpunkte an seiner Hochschule, die eine praxisorientierte Ausbildung der Musikstudenten für eine zunehmend wichtige Aufgabe ansieht.
Dr. Eva Maria Stöckler von der Donau-Universität Krems sprach kompetent und überzeugend über den Stellenwert von Musikern in unserer Gesellschaft, ebenso wie die Vize-Präsidentin des Deutschen Tonkünstlerverbandes Dr. Adelheid Krause-Pichler, die diesen Punkt analysierte und die seit mehr als 150 Jahren währenden Bemühungen des Berufsverbandes für die Qualität und Wertigkeit von Musikern und Komponisten darstellte.
Von Seiten der Musikbetriebe gab es wichtige Erfahrungsberichte der Intendantin der internationalen Hugo-Wolf-Akademie Stuttgart Dr. Cornelia Weidner sowie durch Georg Steiner, den Tourismusdirektor der Stadt Linz.
Innovative Berufsgestaltung
Direkt in die Praxis innovativer Berufsgestaltung führten die „Twiolins“ mit der Darstellung des „Crossover composition award“, dessen großes Finale erst am Vorabend in Mannheim stattgefunden hatte. Marie-Luise und Christoph Dingler schreiben bereits seit Jahren diesen Kompositionswettbewerb für Violin-Duo aus, der in diesem Jahr zu 353 Einsendungen aus 44 Nationen geführt hat. Im finalen Live-Konzert wählen die Zuschauer die besten Kompositionen aus.
Am Abend konnten sich die Tagungsteilnehmer und viele weitere interessierte Besucher im imposanten Kaisersaal von Kloster Banz von der hohen Kunst des Geigen-Duos und der neuen Kompositionen erfreuen.
Die Abschlussrunde mit Resümee und Gedankenanstößen zu weiteren Verbesserungen der derzeitigen Situation leitete der Chefredakteur der neuen musikzeitung, Andreas Kolb.
Die D-A-CH–Tagung der Berufsverbände aus Deutschland, Österreich und der Schweiz gab auch 2015 wichtige neue Impulse, Austauschmöglichkeiten und Lösungsansätze für ein gemeinsames Ziel über die eigenen Grenzen hinaus. Zu danken ist hierbei nicht nur den Organisatoren, sondern vor allem den Kooperationspartnern und Sponsoren: dem Bundesministerium, dem bayerischen Staatsministerium, der Stiftung Bayerischer Musikfonds und der Hanns-Seidel-Stiftung, die durch ihre Unterstützung die Wichtigkeit einer Verbesserung der Musikersituation dokumentieren.