Hauptbild
CD-Cover: Rot mit in verschiedenen blau-grün stichigen Strichen. "Wolfgang Rihm. Grat | Edge. Works for and with violoncello"
Banner Full-Size

Von ganz tief innen heraus und immer anders

Untertitel
CD-Geschenk des Cellisten Friedrich Gauwerky an Wolfgang Rihm
Vorspann / Teaser

„Als Komponist macht er immer irgendetwas Unvorhergesehenes, Unerwartetes, Neues. Das mag auch damit zusammenhängen, dass er neugierig ist und sich umschaut, statt wie viele andere Komponisten, die einmal mit einem Stück Erfolg gehabt haben, einfach mit dieser Masche fortzufahren. Die Vielfalt seines Schaffens habe ich versucht, auch im Programm dieser CD abzubilden.“ Sagt der Cellist Friedrich Gauwerky. Zum 70. Geburtstag 2022 schenkt er seinem Freund Wolfgang Rihm eine CD mit dessen Werken. 

Publikationsdatum
Paragraphs
Text

Einzelne Töne, wie vorsichtige Schritte, gestrichen oder gezupft, langsam und behutsam: so ­beginnt diese musikalische Reise. Das Streichtrio Nr. 2 schreibt Wolfgang Rihm mit 17 Jahren während eines Sommerurlaubs im Schwarzwald. Eine Miniatur von etwa vier Minuten, die eine eigene Welt entstehen lässt. 
1968, ein Jahr vor der Entstehung dieses Werkes, treffen sich der Komponist und der Cellist Friedrich Gauwerky zum ersten Mal. Beim Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“ in Erlangen wohnen sie eine Woche lang nebeneinander. Die nächste Begegnung folgt dann Ende der 1970er Jahre, als der Cellist Rihms Solowerk „Grat“ einstudiert. Immer wieder hat Gauwerky Fragen dazu, die er Rihm stellt. Eine lebenslange Freundschaft entsteht daraus, zahlreiche Solo- und Kammermusikwerke für und mit Cello wird Gauwerky von nun an spielen, teilweise auch uraufführen.

Die CD „grat / edge“ enthält ausschließlich solche Kammermusikwerke. Ein Geschenk des Freundes an den Freund. Mit der Stückauswahl wandert Friedrich Gauwerky durch das junge Leben von Wolfgang Rihm. Den Rahmen bilden die beiden Streichtrios op. 2 und op. 9, das jüngste Werk auf der CD „von weit“ stammt von 1993. Da ist der Komponist gerade 41 Jahre alt. 
Wolfgang Rihm, der bereits als Kind zu komponieren beginnt und sein Komponisten-Examen zeitgleich mit dem Abitur ablegt, sagt: „Ich will bewegen und bewegt sein. Alles an Musik ist pathetisch.“ Ein Satz, der sich durchaus auf der CD widerspiegelt. Denn die Werke darauf sind alles Miniaturwelten, die einen auf spannende Entdeckungsreisen mitnehmen. Im ersten Stück, dem schon erwähnten Streichtrio Nr. 2, riecht es nach Sommer, dem Wald, durch den man geht, die Hügel, auf die man hinauf wandert, um hinab- und in die Ferne zu schauen. Und um durchzuatmen. 
Wolfgang Rihm orientiert sich hier noch an Arnold Schönbergs „Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“. Alban Berg und Anton Webern der Zweiten Wiener Schule als Vorbilder sind zu erahnen. 

„Die zwölf chromatischen Töne werden streng konstruktiv behandelt und mit jeweils anderer Dynamik, Spieltechnik und Artikulation differenziert.“ So heißt es im CD-Booklet. 
Die zu Beginn hörbar vorsichtigen Schritte verdichten sich zur Mitte, zum Zentrum hin. Aus einzelnen Tönen werden schneller werdende, sich verdichtende Klänge, bis hin zu kurzen Ausbrüchen, bevor sie sich wieder ausdünnen und zu einzelnen gestrichenen oder gezupften Klängen verflüchtigen. 

Kurze Zeit nach Vollendung des Streichtrios Nr. 2 verabschiedet sich Wolfgang Rihm von der Zwölftontechnik und sonstigen vorhandenen Theorien. Er möchte seinen eigenen Weg beschreiten und sich von innen heraus musikalisch äußern. 
Das 1972 komponierte „Grat“ für Violoncello solo ist solch ein Werk. Hier gibt es keine Taktstriche, dafür exakt notierte Tempo- und Dauerangaben. Dieses Stück beginnt wie aus dem Nichts: ein fünffaches Piano, dann ein Doppelgriff mit minimalem Tremolo, scheinbar ohne jede Bewegung. Immer wieder Stille zwischen den Klängen. Allmählich entwickelt sich das Werk mit kleinen Melodiefetzen, Glissandi und immer intensiveren Klängen. Der Tonraum wächst von ganz tief zu ganz hoch, manchmal tremoliert das Cello auf einem Ton. Es pendelt  innerhalb kürzester Zeit zwischen Extremen hin und her: eine Gratwanderung zwischen diffusen Abgründen, zwischen Sich-Aufbäumen und Sich-Zurückziehen. Zwischen Aufbruch und Innehalten. 

Der Solist muss mutig sein und vollen Körpereinsatz geben. Gegen Ende beginnt er zu schreien, zu stöhnen und zu schnaufen ­­ theatralisch und exaltiert, um sich am Ende wieder in sich hinein zu verkriechen. 
Ein mikroartistischer Drahtseilakt, den Friedrich Gauwerky scheinbar mühelos bewältigt.

Ganz anders ist das dritte Stück der CD „von weit“ für Cello und Klavier. Gauwerky und der Pianist Florian Uhlig bewegen sich innerhalb eines engen Tonrahmens, still und gedämpft. Das Klavier eröffnet mit zwei einzelnen Tönen, das Cello übernimmt, kommt nach. Beide Instrumente verschmelzen zart miteinander. Hier und da ein minimaler Aufschrei, dann ein sich sofortiges Zurücknehmen. „von weit“ spielt mit Obertönen und schafft eine sehr eigene Atmosphäre: etwas Jenseitiges, Fernes, Traumhaftes. Ab und zu kehren die Spieler kurz zurück oder öffnen ein Fenster, um sofort wieder wegzuschauen und in ihre ferne Welt hinabzutauchen. Wunderschön.
Die beiden letzten Werke auf der CD, „Duomonolog“ und das Streichtrio Nr. 9, sind zum ersten Mal eingespielt worden. „Im Gegensatz zum ‚Solodialog‘ der Barockmusik, wo ein Melodieinstrument durch schnelle Lagenwechsel eine imaginäre Zweistimmigkeit erzeugt, sprechen zwei Partien  gleichsam monologisch wie mit einer Stimme.“ So wird das Werk „Duomonolog“ im CD-Booklet erklärt.
Violine, gespielt von Alexandra Greffin-Klein, und Cello ziehen von Anfang mit aller Kraft aneinander. Sie treiben gemeinsam nach oben, reiben sich an- und miteinander. 

Kurze Pausen durchsetzen das Stück, die äußerst spannungs- und energiegeladen beendet werden wollen. Ein doppelter Monolog oder eine Auseinandersetzung zu zweit mit sich selbst. 

Ganz anders als das Streichtrio vom Anfang beginnt das Schluss-Trio mit dem größtmöglichen Ausbruch. Die Violine schreit in ihren höchsten Lagen, Viola und Violoncello folgen schmerzvoll und impulsiv. Die Ausbrüche klingen gehetzt, aufgeregt und starr zugleich. 
Als wollten sie fliehen, ohne genau zu wissen, wovor und wohin. In aufgeregten Akkorden kommen alle zusammen, zwischendurch erfolgt ein kurzes Abwarten, als suche einer der drei den richtigen Weg. Dann folgen die anderen beiden schnell und nervös. Bis zum Ende stolpert das Trio durch die Schroffheit des Werks, mit kurzen Haltepunkten und zwischen fast existentiellen Extremen.
Diese CD mit den Kammermusikwerken von Wolfgang Rihm ist wirklich ein Geschenk seines Freundes Friedrich Gauwerky. Auch an alle Hörerinnen und Hörer. Mit den musikalischen Partnerinnen und Partnern Alexandra Greffin-Klein (Violine), Axel Porath (Viola) und Florian Uhlig (Klavier) kreiert er Hörwelten, auf die man sich freilich einlassen muss und es auch kann. So entstehen Räume fernab von jeglicher Zeit. Jeder Ton, jede Pause, jeder Akkord und Klang ist so intensiv, dass diese körperlich zu spüren und zu erleben sind. 
Wolfgang Rihm bewegt und lässt Spielerinnen und Spieler sowie Hörerinnen und Hörer bewegen. Durch Welten von innen heraus genauso wie solche in komplett anderen Sphären. Jedesmal neu, jedesmal anders. Berührend sind sie in jedem Fall.

Print-Rubriken