„Das Einzige, was man empfehlen kann: offen sein“ – mit diesen Worten erzeugt der Komponist Spannung „auf das, was folgt“. Auf das Heute folgt immer ein Morgen, so wie auf das Gestern das Heute folgte. Wann die letzte Seite im Tagebuch des eigenen Lebens gefüllt ist, entzieht sich unserer Kenntnis. Georg Krölls „TAGEBUCH für Klavier“ könnte indessen angesichts seiner offenen formalen Konzeption durch den Komponisten, der in diesen Tagen sein achtzigstes Lebensjahr vollendet, auf unbestimmte Zeit fortgesetzt werden.
Die Spieldauer einer CD setzt der Offenheit hinsichtlich der zeitlichen Ausdehnung natürliche Grenzen, auch wenn es sich bei der Produktion der Telos Music Records in der Zusammenarbeit mit dem Deutschlandfunk Köln um eine Doppel- CD handelt. Damit die offene Form nicht in Beliebigkeit und ein beziehungsloses Nebeneinander von Klangereignissen abgleitet, hat Kröll mit den Worten des Interpreten „klare, feinstgeschliffene, immens facettenreiche, pianistisch höchst raffiniert“ angelegte Miniaturen geschaffen. Für den Düsseldorfer Pianisten Udo Falkner (1. Vorsitzender des DTKV-Bezirksverbands Düsseldorf/Mettmann), steht außer Frage, dass sich die von Kröll eingeforderte Offenheit lohnt: „Die reinste Freude ist es, wenn man Krölls Tagebuch spielt“, so kann man es im von Georg Beck lebendig formulierten Booklet-Text nachlesen. Diese Freude ist wie auch die Liebe zum präzise ausgefeilten Detail beim Hören von Falkners Spiel allgegenwärtig, obgleich der Spannungsbogen über die teilweise nur wenige Sekunden, aber auch schon mal mehrere Minuten langen Stücke hinaus niemals verloren geht. Eine Einspielung, die klanglich bis zur letzten Sekunde fesselt und auch bei selektivem Hören fasziniert, wobei ein Zurückscrollen im Interesse des Blicks nach vorne nicht erfolgen sollte, so wie sich die Zeiger der Uhr niemals zurückzudrehen pflegen.
Während ein Tagebuch der realen Welt erlebte Realität schriftlich dokumentiert, kommt es in Krölls Opus Apertum mit offenem Ausgang zu Begegnungen auf virtueller Ebene mit lebenden und verstorbenen Weggefährten, die oftmals in die Satzüberschriften Eingang gefunden haben. Viele Komponistennamen früherer Jahrhunderte (von Dufay über Beethoven bis Schönberg), die eigenen Lehrer und Kommilitonen aus der Kompositionsklasse von Bernd Alois Zimmermann sind namentlich genannt und musiksprachlich in das kompositorische Idiom Krölls eingearbeitet. Äußerste Anschlagsdifferenzierung und ein nuancenreiches Spiel sind gerade dann gefordert, wenn es sich bei den „Vorbildern“ um klanglich grundverschiedene Topoi etwa aus der Vokalliteratur handelt – selbst Anregungsmomente populärer Natur (Schuhplattler oder ein Stück wie „Vorwärts“, das von einem politischen Lied seinen Ausgang nimmt) sind in bezeichnender Weise mit Krölls kompositorischem Ansatz verschmolzen.
Neben Fachkollegen wie György Kurtág, der mit Kröll die Affinität zur Kleinform teilt, sind auch unzitierbare Persönlichkeiten aus dem Kulturleben präsent. Zu diesen zählt der Düsseldorfer Kunstmäzen Karl-Heinrich Müller, der die kulturellen Aktivitäten auf der Insel Hombroich (am Stadtrand von Neuss gelegen) auf den Weg gebracht hat. Am 1. Juni bringt Udo Falkner dort anlässlich des 15. Inselfestivals um 20 Uhr im Veranstaltungssaal nicht nur Stücke der besprochenen CD, sondern auch der Werkkonzeption entsprechende neue Sätze zur Aufführung. Es lohnt sich, offen zu sein für ein kulturelles Ereignis, bei dem man die sprichwörtliche Stecknadel live fallen hören kann.
Weitere Veröffentlichungen mit Udo Falkner bei Telos Music Records
Wolfgang Rihm: Klavierwerke 1966–2000 (TLS 108)
Karlheinz Stockhausen: Natürliche Dauern 1–24 (TLS 130)