Das Interview führte Franzpeter Messmer.
neue musikzeitung: Herr Rösch, welche Rolle spielt das Orff-Schulwerk in der Arbeit des Orff-Zentrums München?
Dr. Thomas Rösch: Durchaus eine wichtige Rolle. Wir haben hier fast den gesamten künstlerischen und dokumentarischen Nachlass von Carl Orff, ferner die Teilnachlässe von Gunild Keetman, die als Komponistin und Pädagogin am Schulwerk mitarbeitete, und von Dorothee Günther. Außerdem befinden sich hier Entwürfe zu den einzelnen Schulwerkausgaben, sowohl zum alten Schulwerk aus den 1930er-Jahren als auch zum neuen Schulwerk „Musik für Kinder“, alle Stücke in der Handschrift von Gunild Keetman und/oder Carl Orff, schließlich die gesammelte Korrespondenz zum Schulwerk. Das Orff-Zentrum bearbeitet zahlreiche Anfragen speziell zu Orffs Schulwerk und zur Musiktherapie, die Orffs zweite Ehefrau, Gertrud Orff, entwickelt hat. Hier wurden außerdem viele Magisterarbeiten, Dissertationen und sogar Habilitationen zum Orff-Schulwerk betreut. Mehrere Dissertationen wurden durch Stipendien der Carl Orff-Stiftung, vermittelt durch das Orff-Zentrum, unterstützt. Zum Carl Orff Institut an der Universität Mozarteum Salzburg besteht ein enger Kontakt. So halte ich dort gelegentlich Vorträge. Studierende des Orff Instituts besuchen ihrerseits regelmäßig das Orff-Zentrum München. Zum Orff- Schulwerk gab es immer wieder Veranstaltungen, wie jetzt im Jubiläumsjahr beim Tag der Offenen Tür, das Symposion 2004 zum 100. Geburtstag von Gunild Keetman, Konzertvorführungen der Studierenden und Dozenten des Orff Instituts oder die groß angelegte Tagung zur Günther-Schule 1998. In unseren Publikationen erschien, herausgegeben von Michael Kugler, das Buch: „Elementarer Tanz – Elementare Musik: Die Günther-Schule München 1924 bis 1944.“
nmz: Das Gebäude, in dem das Orff- Zentrum untergebracht ist, beherbergte 1936–44 die Günther-Schule. Welche Bedeutung hatte die Zusammenarbeit mit Dorothee Günther für das Orff-Schulwerk?
Rösch: Dorothee Günther absolvierte eine Ausbildung in Mensendieck-Gymnastik in Hamburg. Davon ausgehend gründete sie 1924 in München eine eigene Schule für Rhythmik, Gymnastik, Musik und Tanz, die sogenannte Günther-Schule. Dabei kam es zur Zusammenarbeit mit Carl Orff, der für die musikalische Ausbildung zuständig war. Der damals 28-Jährige war offen für Dorothee Günthers Ideen. Sie brauchte eine völlig neu strukturierte Musik, die zu ihren neuen tänzerischen Ideen passte. Ihr Ziel war, auf eine kurze Formel gebracht: Aus der Bewegung sollte Musik entstehen und umgekehrt aus der Musik Bewegung. Orff nannte als sein Ziel die „Regeneration der Musik aus der Bewegung, aus dem Tanz“. Diese gemeinsam angestrebte Einheit von Sprache, Musik und Bewegung war die Wurzel seines pädagogischen und künstlerischen Schaffens.
nmz: Was sind Carl Orffs zentrale musikpädagogische Ideen?
Rösch: Bei Orff steht, wie gesagt, die Einheit von Sprache, Musik und Bewegung im Vordergrund. Es ging ihm beim Schulwerk in erster Linie darum, die Kreativität, die bei allen Kindern vorhanden ist, durch die Erlernung und Anverwandlung elementarer musikalischer Strukturen zu erhalten und zu fördern. Deshalb schuf er die kleinen, in „Musik für Kinder“ abgedruckten Stücke. Diese Stücke sollten aber nicht – das ist ein großes Missverständnis – einfach nach den Noten abgespielt werden, vielmehr sind sie Modelle, die zur selbsttätigen Weiterarbeit durch Improvisation anregen sollen. Kinder sollten nämlich lernen, selbst Musik nach festgelegten Regeln durch Variieren und Improvisieren zu produzieren, und zwar auf einfach zu spielenden Instrumenten wie Xylophon oder Trommeln, deren Betätigung nahe an der tänzerischen Bewegung ist. Die Modelle gehen von einfachsten Formen der musikalischen Satztechnik wie dem Bordun oder parallel geführten Klängen aus. Das melodische Material besteht aus Pentatonik, modalen und diatonischen Durund Mollskalen. Sehr wichtig sind die sprachlichen Modelle, etwa einfache Namensnennungen, Kinderreime bis hin zu Sprüchen und Spielliedern oder Dichtungen von Goethe oder Hölderlin. Der Modellcharakter erleichtert auch die fremdsprachlichen Adaptionen. Das Fundament dafür ist, dass die musikalischen Modelle ihre Vorbilder in den elementaren Formen aller musikalischen Kulturen auf der ganzen Welt haben. Durch diese einfachen Strukturen kann das Schulwerk mit beachtlichen Ergebnissen auch in der Sozial- und Heilpädagogik und in der Musiktherapie verwendet werden.
nmz: Welche Bedeutung kommt dem Orff-Schulwerk in Deutschland und weltweit heute zu?
Rösch: Das Schulwerk spielte noch bis in die 1970er-Jahre hinein eine wichtige Rolle an deutschen Schulen. Doch dann wandte man sich davon ab. Dennoch werden die Grund-ideen des Schulwerks, ohne allerdings den Namen Orff noch zu nennen, weiter verwendet. Außerdem erfolgte die Schaffung eines neuen Studienfachs, der Elementaren Musikpädagogik. International ist das Orff-Schulwerk von Anfang an ein großer Erfolg gewesen. Es kam sehr schnell zu Gründungen sogenannter Orff-Schulwerk-Gesellschaften, zunächst in Europa, dann aber auch in Afrika, Japan, Nordamerika und Australien. Es gibt derzeit etwa 48 Orff-Schulwerk-Gesellschaften. In der ganzen Welt wird das Schulwerk also weitaus mehr geschätzt als im eigenen Land. Die Elementare Musikpädagogik ist in gewissem Sinn als Seitenzweig eine Weiterentwicklung des Orff-Schulwerks. Sie fördert gemeinsam mit dem Orff-Schulwerk nicht nur musikalische, sondern auch gesellschaftspolitische Fähigkeiten wie Selbstbewusstsein, Zuhören, Kreativität, Sensibilität, Teamgeist, Koordinationsfähigkeit, Sprachgefühl oder Respekt vor historischen Texten. Beispiele für eine erfolgreiche Anwendung heutzutage sind die Projekte „Rhythm Is It!“ des Choreografen Royston Maldoom und der Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle, die nicht nur Strawinskys „Sacre du Printemps“, sondern auch Orffs „Carmina Burana“ einstudierten, oder das Projekt „Resonanz und Akzeptanz“ in Essen mit Schülerinnen und Schülern aus Problemumfeldern oder mit Migrationshintergrund oder ähnliche Projekte für Schüler mit körperlichen oder geistigen Behinderungen.
nmz: Carl Orff gab den Anfangsimpuls für das heutige Studienfach der Elementaren Musikpädagogik. Welche Chancen sehen Sie für das Orff-Schulwerk und die Elementare Musikpädagogik in der Zukunft?
Rösch: Ein unschlagbarer Zukunftsaspekt ist, dass auf Rhythmus und Bewegung abgezielt und Text im Zusammenhang mit Rhythmus vorgetragen wird, was auch im Rap oder Hiphop eine Rolle spielt, und dass Perkussionsinstrumente aus der ganzen Welt eingesetzt werden. Dieses pädagogische Konzept kann überall ohne sogenannte kulturelle Vorbildung verstanden werden. Von Anfang an war es Carl Orffs Wunsch, dass das Schulwerk nicht so petrifiziert wird, wie es sich in den fünfziger Jahren entwickelt hatte, sondern dass es lebendig bleibt, sich immer an den jeweiligen Erfordernissen der Zeit orientiert. Ihm war es wichtig, dass die Grundideen bestehen bleiben, aber dass sein Schulwerk immer am Puls der Zeit bleibt und sich fortentwickelt.