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Schwarzweiß-Bild von der jungen Pianistin in einem Probenraum am Flügel. Das Foto wirft einen Blick durch im vordergrund verschwommene Stangen hindurch.

Annique Göttler (27) entdeckte während des Corona-Lockdowns die Sozialen Medien für sich. Mit Erfolg – ihre Online-Community füllt regelmäßig auch ihre Konzertsäle.

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Wie sich mit YouTube Konzertsäle füllen lassen

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Ein Gespräch mit der Pianistin Annique Göttler über die Möglichkeiten digitaler Plattformen
Vorspann / Teaser

Berührungsängste mit Social Media und KI? Nein, die hat Annique Göttler nicht. Im Gegenteil. Als sie 2020 ihr Studium zum Konzertexamen beginnt und zeitgleich wegen der Corona-Pandemie die Konzertsäle schließen, verlagert sie  ihre Auftritte ins Internet und hat drei Jahre später  allein auf Instagram mehr als 100.000 Follower. Und wenn sie jetzt, seit die Spielstätten wieder geöffnet sind, Konzerte spielt, dann vor einem Publikum, das im Schnitt nicht älter als 30 ist. Und die Säle sind voll. Wir sprachen mit der 27-jährigen Pianistin aus Baden-Württemberg über die Möglichkeiten, die soziale Medien Musiker*innen und der klassischen Musik eröffnen können.

Das Gespräch führte Stephanie Schiller.

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Stephanie Schiller:  Wie wichtig sind digitale Medien für (nicht nur) junge Musikerinnen?

Annique Göttler: Wenn man junge Leute erreichen möchte, dann kommt man um soziale Medien nicht herum. Mit Flyern erreichen wir heute einfach niemanden mehr. Aber wenn man von sich sagen kann, ich habe meine Karriere und mein Image, ich brauche das alles nicht unbedingt, dann ist das in meinen Augen auch okay. Allerdings darf man sich dann nicht wundern, wenn es im eigenen Konzertsaal nicht so voll ist wie in anderen…

Schiller: Haben Sie die Erfahrung gemacht, dass über Ihre Präsenz auf Internet-Plattformen tatsächlich eine Community entsteht, aus der heraus auch Tickets für Konzerte gekauft werden?

Göttler: Das ist genau meine Erfahrung. Vor allem auf YouTube entsteht so etwas wie eine Community. Im Gegensatz zu Instagram, wo die Posts höchstens eine Minute lang sind, entsteht über die längeren Videos auf YouTube bei den Zuschauern auch so ein Gefühl, dass sie mich, also die Person, die da spielt, gut kennen. Nach meinen Konzerten erzählen viele Zuschauer, was sie von mir schon alles auf YouTube gesehen haben.

Schiller: Das heißt, Sie schaffen, wovon Kulturvermittler träumen –  junge Menschen für klassische Musik zu begeistern…

Göttler: Ich denke ja, die Musik spricht sehr gut für sich. Schließlich wurde sie von Menschen komponiert, die damals genauso jung waren wie wir jetzt. Wir empfinden ähnlich, wir sind in ähnlichen Lebenssituationen. Jeder hat mal Liebeskummer, jeder ist mal kurz vor Verzweiflung, weil er keinen Job bekommt, das ging Mozart auch nicht anders. Ich möchte zeigen, dass klassische Musik nicht von alten Männern komponiert wurde, sondern mitten aus dem Leben kommt. Man kann nicht viel falsch machen, wenn man diese Musik hört und spielt.

Schiller: Wie wichtig ist dabei die Performance? Braucht man ein gewisses Talent, sich zu präsentieren? Oder gibt es auch andere handwerkliche Dinge, die man beachten kann?

Göttler: Natürlichen hängt der Erfolg auf Social Media ganz viel damit zusammen, wie man sich selbst vor der Kamera präsentiert, und was für eine Ausstrahlung man hat. Wenn ich mit monotoner Stimme eine Power-Point-Präsentation vorlese, dann mag der Inhalt interessant sein, aber die Performance nimmt nicht wirklich jemanden mit. Auf den Social Media Plattformen stehen wir eben nicht nur in Konkurrenz zum Beispiel mit anderen Pianisten, sondern mit allem, was es auf YouTube gibt. Zum Beispiel mit einer Million Katzenvideos, die alle viel lieber angucken wollen, als mir dabei zuzuhören, wie ich meine Power-Point-Präsentation vorlese. Die Viewer entscheiden in einem Bruchteil von einer Sekunde, was sie schauen wollen. Deshalb ist wichtig, dass mein Teaser-Foto aus all den anderen Fotos, die man sonst so vorgeschlagen bekommt, raussticht. Auch der Titel ist wichtig. Und dann sind die ersten 30 Sekunden extrem wichtig, weil sich jetzt entscheidet, ob die Leute dranbleiben oder auf ein anderes Video klicken. Deshalb sollte in den ersten 30 Sekunden im Video möglichst viel passieren.

Schiller: Und das kann jede*r?

Göttler: Wichtig ist, anzufangen. Es hat mich am Anfang auch viel Zeit gekostet, mich zu überwinden, das erste Video hochzuladen und zu veröffentlichen. Das ist ein wichtiger Schritt, vor dem viele Angst haben. Aber sobald ein Video hochgeladen ist, merkt man, dass das gar nicht schlimm ist. Am Anfang schauen nicht besonders viele Leute zu, und deshalb hat man Zeit, zu sehen, was man verbessern kann. Auch ich musste mich erst einmal reinfinden. Ich hatte nicht einmal ein ordentliches Equipment. Ich hatte mein Handy für Kamera und Mikrofon. Das reichte.

Schiller: Über 100.000 Follower zu bekommen, das wird aber sicherlich nicht jeder erreichen, der mit klassischer Musik ins Internet geht.

Göttler: Vor allem sollte man nicht damit rechnen, dass man sofort abhebt. Man sollte aber auch nicht zu früh aufgeben. Der wichtigste Schritt ist, einfach mal anzufangen. Und man sollte sich nicht selbst verlieren in dem Ganzen. Ich kann mir gut vorstellen, dass sich viele Leute meine Sachen angucken, und sagen, oh je, was macht die da! Das ist okay. Ich stehe dazu, und ich denke, das, was ich poste, das passt zu mir und zu meinem Charakter. Ich verbiege mich dafür nicht extra.

Schiller: Ist das eines Ihrer Ziele – nicht nur auf potenzielle Klassik-Zuhörerinnen Einfluss zu nehmen, sondern auch auf den klassischen Musikbetrieb?

Göttler: Meine Hauptzielgruppe sind erst einmal jüngere Zuschauer, also diejenigen, die auf den verschiedenen Plattformen auch unterwegs sind. Aber im Endeffekt würde ich gern alle damit ansprechen. Wichtig ist es, einen Zugang zu bekommen.  Gerade die jüngere Generation braucht eine Art von Türöffner zur klassischen Musik. Auch ich habe den Musikunterricht in der Schule als stumpf und langweilig erlebt. Ich wusste, 99 % meiner Mitschülerinnen würden sich nie für klassische Musik begeistern können. Außer es kommt eben jemand, der ihnen zeigt, was daran so toll ist. Klar, jeder kennt den Türkischen Marsch von Mozart oder die Moldau, aber wenn alle denken, das ist klassische Musik ... (lacht). Aber klassische Musik ist viel mehr. Und ich möchte Leute für diese klassische Musik begeistern. Aber ich denke, die Welt der klassischen Musik muss sich dafür auch verändern, näher am Publikum sein, offener. Ich glaube, die Zeiten sind vorbei, in denen ein mysteriöses Wesen auf der Bühne ganz weit entfernt vom Publikum Magie erzeugt. Es geht eben auch darum, zu zeigen, wer dieser Mensch ist, der da vorne spielt.

 

 

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Bildcollage von Screenshots und Thumbnails von Social-Media-Postings von Annique Göttler.

112.000 Follower hat Annique Göttler auf Instagram. Ihr Rat an alle, die online gehen wollen: Einfach anfangen!

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Schiller: Woher nehmen Sie über die mittlerweile drei Jahre als Klassik Influencer ihre Inhalte? Wie fing das bei Ihnen an?

Göttler: Ja, das ist das Schwierigste: guten Content finden. Also überhaupt auf Ideen zu kommen, was andere Menschen interessieren könnte. Man muss immer auf der Suche bleiben, gucken, was ist gerade im Trend. Alle Videos, die ich am Anfang von anderen Künstlerinnen gesehen hatte, waren hochprofessionell. Ich hatte weder eine tolle Bühne noch ein tolles Instrument. Und ich wusste anfangs auch nicht, was ich posten soll. Ich wusste nur, dass es wichtig war, dranzubleiben. Man muss regelmäßig posten. Und das einzige, was ich regelmäßig posten konnte, war, wie ich übe. Also habe ich mich dabei mit dem Handy aufgenommen. Und mit der Zeit habe ich dann gemerkt, dass das tatsächlich etwas ist, was die Leute interessiert. Mal einen Blick hinter die Kulissen zu bekommen, zu sehen, wie viel Arbeit da drin steckt, einfach mal nicht nur das perfekte Endergebnis auf der Bühne sehen.

Schiller: Apropos perfektes Endergebnis... Was halten Sie von Künstlicher Intelligenz?

Göttler: Tatsächlich benutze ich selbst einige Softwares, die KI benutzen. KI hilft mir beim Editieren von Videos oder dabei, neue Ideen zu finden. Manchmal frage ich ChatGPT zum Beispiel, ob er mir helfen kann, eine Präsentation oder ein YouTube-Video zu einem bestimmten Thema zusammenzustellen. KI ist wie ein Mitarbeiter, ein zweites Gehirn. Das erleichtert das Leben schon sehr. Jetzt bin ich gespannt, was die KI musikalisch noch bringt. Es gibt ja schon einige Kompositionsversuche. Und wenn es irgendwann mal eine KI gibt, die besser Klavier spielen kann als ich, dann wird mir das nicht den Spaß am Klavierspielen verderben. Im Schach gibt es schließlich schon lange Computer, die den Menschen besiegen. Und trotzdem spielen wir weiter Schach. Warum? Weil wir es gerne tun. Und das Gleiche gilt für‘s Musizieren.

Annique Göttler (27) begann ihre Ausbildung am Klavier an der Musikschule Herrenberg bei Frau Nicola Hollenbach und der Musikschule Stuttgart, wo sie in der Begabtenklasse von Herrn Romuald Noll unterrichtet wurde. Sie studierte an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart, wo sie mittlerweile den Bachelor (2017), den Master of Music (2020) und das Konzertexamen absolvierte. Sie erhielt zahlreiche Preise und gab Konzerte in ganz Deutschland und im Ausland, u.a. in Italien, Frankreich, Österreich und Russland. Sie ist Beisitzerin im Vorstand des DTKV Baden-Würtemberg und leitet das Referat Online-Marketing für Musiker- und KünsterInnen.

Mehr Infos: https://www.annique-piano.com

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