Mitte der 80er-Jahre sprach ich einmal über Wettbewerbe mit Hans-Peter Schmitz, dem ehemaligen Soloflötisten der Berliner Philharmoniker sowie Flötenprofessor in Detmold und Berlin, der häufig zu Jurys internationaler Wettbewerbe eingeladen wurde. Er sagte damals: „Ich gehe nicht mehr in die Wettbewerbe, weil hier keine Künstler hervorgehen. Ein Künstler muss den Teufel in sich haben und wer den Teufel in sich hat, bei dem kiekst es da und dort, ist es mal zu hoch, mal zu tief. Die fliegen alle im 2. Durchgang raus und übrig bleiben unbefriedigende 2. Preise.“
Mehr Risikofreude und individuelle Qualitäten
Das klingt drastisch, aber etwas Wahres ist daran. In der klassischen Musikausbildung wie auch in der kritischen Beurteilung scheinen die Vermeidung von Fehlern und die Perfektion der Ausführung im Vordergrund zu stehen, während originär künstlerische Kategorien wie Spontaneität, Individualität, Kreativität oder Phantasie zu kurz kommen. Unweigerlich führt dies zu der viel beklagten Nivellierung, und die künstlerischen Alleinstellungsmerkmale, die wir an den großen Interpreten der Vergangenheit schätzen und die auch ihren Erfolg ausmachten, vermissen wir schmerzlich. Auffallende Frisuren und Kleidung, Covertauglichkeit, darstellerische Extravaganzen und Klatschgeschichten sind kein Ersatz! Vielleicht sollten wir in allen Ausbildungsstufen, ohne die Perfektion zu vernachlässigen, wieder mehr Risikofreude vermitteln und individuelle Qualitäten herausstellen, so wie wir das beispielsweise in der Alte-Musik-Szene finden oder auch im Jazz, bei dem allerdings seit seiner Akademisierung auch Nivellierungstendenzen zu beobachten sind. Klar, auch die Beurteilung künstlerischer Leistung hat ihre Berechtigung, kann Ansporn sein ebenso wie Kriterium für eine weitere Förderung, solange auch Individualität und künstlerische Freiheit ihren Platz haben. In dem Sinn halte ich „Jugend musiziert“ beziehungsweise „Prima la musica“ für ein Erfolgsmodell.
Wenn, wie 2012 (letzte Statistik MIZ), deutsche Musikhochschulen über 2200 Absolventen in künstlerischen Instrumentalfächern entlassen (mit steigender Tendenz), muss die Frage erlaubt sein: Wie viele Musiker braucht das Land? Weniger als 200 freie Orchesterstellen jährlich stehen dem gegenüber (Tendenz sinkend). Kammerkonzertreihen, die es vor 30 Jahren in jeder Kleinstadt und auf jedem Schloss gab, sind fast alle eingestellt, Kirchenkonzerte sind sehr und Studio-Muggen fast auf Null reduziert. Wenn man eine CD-Produktion nicht selbst finanzieren muss, kann man froh sein, Rundfunkanstalten machen sowieso kaum noch eigene Aufnahmen… Sollten wir angesichts der lähmenden Berufsaussichten nicht etwas vorsichtiger ausbilden? Hochschulen und ihre Professoren, Musikschulen und ihre Lehrer, wie auch selbständige Musikpädagogen leben von ihrem Ruf, und der definiert sich größtenteils durch die Erfolge der Schüler, besonders durch Wettbewerbs- und Probespielgewinne oder durch Bestehen einer Eignungsprüfung und so werden wir sicher nicht freiwillig unsere „Hochbegabten“ reduzieren.
Der Pädagoge ist der Künstler
Aber ich glaube, wir brauchen sie alle, vor allem auch als Musikpädagogen mit künstlerischem Anspruch in dem Sinn, wie einer meiner Lehrer – Hermann Gschwendtner –, der Schlagzeuger bei den Münchner Philharmonikern war, sagte: „Der Pädagoge ist der Künstler.“ Und tatsächlich vereint ein guter Pädagoge künstlerische Attribute wie Kreativität, Spontaneität, Einfühlungsvermögen, Leidenschaft, Charisma und so weiter in besonderem Maß.
Nur müsste der künstlerische Pädagoge beziehungsweise der pädagogische Künstler die entsprechende Anerkennung finden in der Politik sowie in der breiten Öffentlichkeit. Das geht los bei der angemessenen Bezahlung eines Musikschullehrers oder eines freiberuflichen Musikpädagogen. Da müssten die Hochschulen sich umorientieren und die pädagogische Ausbildung aufwerten. Das könnte schon damit beginnen, dass auf den Websites und in den Jahresberichten nicht nur Wettbewerbserfolge und bestandene Probespiele der Studenten gefeiert werden, sondern gleichwertig auch der Erhalt einer Musikschulstelle. (Sarkastisch könnte man sagen: Heute ist es leichter, bei einem der zahlreichen Wettbewerbe einen Preis zu erhalten, als eine feste Musikschulstelle.)
Unterrichten als Notnagel für eine missratene Karriere darf es nicht mehr geben, dafür ist das Potential der Kinder und Jugendlichen zu wertvoll. Und auch eine erträumte Virtuosen-Karriere mit weltweiten Auftritten wird immer Wenigeren vorbehalten bleiben. Offenheit und kreatives Selbstmanagement in jeder Richtung wird mehr und mehr gefragt sein: pädagogisch und vermittelnd – neue Präsentationsformen unter Einbeziehung neuer Medien – stilistische Flexibilität – musikwissenschaftliche Auseinandersetzung – erweitertes Repertoire…
Vielleicht male ich ein zu düsteres Bild von Hindernissen und Hürden auf dem Weg zu einer steilen Karriere. Damit will ich keinesfalls den Elan engagierter Jugendlicher bremsen und Visionen zerstören. Es gibt sie ja, Gott sei Dank, trotzdem, die Kinder und Jugendlichen, die scheinbar unbeschwert „in der Musik vortrefflich werden und alle bey dieser Lebensart vorkommenden Beschwerlichkeiten standhaft ertragen“. Sie meistern problemlos Schule und Jungstudium nebeneinander, pflegen Kontakte zu ihren Freunden und finden nach ihrem Abschluss wie selbstverständlich ihren Platz im Musikleben. Vielleicht gibt es also doch Wunderkinder!