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Zu wenig Zeit zum Komponieren

Untertitel
Zum 80. Geburtstag von Prof. Rolf Hempel – Ein Gespräch
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Rolf Hempel ist Komponist und Musiktheoretiker, Rektor emeritus der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart, Lehrbeauftragter für Musiktheorie an der Hochschule für Kirchenmusik Tübingen sowie langjähriger Präsident, heute Ehrenpräsident des Deutschen Tonkünstlerverbandes. In diesem Jahr wird er 80 Jahre alt. Reichlich Stoff für ein Interview!

neue musikzeitung: Sie sind sieben Jahre vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Reichenbach im sächsischen Vogtland geboren. Ihre Kindheit fiel also voll in die Kriegsjahre. Schwere Zeiten, um ein musikalisches Talent zu entfalten! Trotzdem haben Sie schon als Gymnasiast parallel zur Schule an der Robert-Schumann-Akademie in Zwickau Klavier und Trompete studiert. Daneben nahmen Sie Privatunterricht in Komposition. Waren Sie ein musikalisches Wunderkind?
Rolf Hempel: Nein! Wir hatten ja nur so etwa drei Mal pro Woche am Gymnasium Unterricht, weil sich mehrere Schulen ein einziges Schulgebäude teilen mussten und aufgrund des Krieges ein akuter Lehrermangel herrschte. Und so stand genügend Zeit zur Verfügung, sich verschiedenen Dingen nach freier Wahl widmen zu können. Bei mir war das die Musik. Mein Vater spielte Geige, meine Mutter Klavier. Zu Hause wurde viel musiziert. Ich begann schon in jungen Jahren mit dem Klavierspiel und lernte später die Trompete zu blasen, weil ich gerne auch ein Instrument können wollte, mit dem man sich in ein Orchester einbringen kann. Und was ganz wichtig war: Man kannte die guten Lehrkräfte der Region! Außerdem nahm ich Privatunterricht in Tonsatz und Komposition bei einem seinerzeit auch als Komponist anerkannten Kirchenmusiker meiner Heimatstadt, einem strengen Lehrmeister alter Schule!
nmz: Sie hatten also bereits als Jugendlicher drei musikalische Standbeine: das Klavier, die Trompete und die Komposition. Wann schlug für Sie das Pendel in Richtung Komposition aus?
Hempel: Die Leidenschaft für’s Komponieren wuchs, je mehr ich darüber wusste. Bei meinem Kompositionslehrer habe ich die Grundlagen des Tonsatzes – damals in der DDR noch immer Harmonielehre und Kontrapunkt – aus dem Effeff gelernt. Und das war zunächst das Wichtigste, denn wissen Sie, 80 Prozent der Musik sind Handwerk, und im Rest verbergen sich, wenn man Glück hat, maximal 10 Prozent Originalität...
Studium bei Thiessen,
Blacher, Pepping und Rufer
nmz: Sie studierten nach dem Krieg Komposition bei Boris Blacher, Heinz-Friedrich Hartig, Ernst Pepping und Josef Rufer in Berlin.
Hempel: Ja, aber der Weg dorthin war steinig. Im Gymnasium habe ich mich geweigert, dem sozialistischen Jugendverband Freie Deutsche Jugend (FDJ) beizutreten – und das hatte Folgen. Zunächst habe ich am berühmten Konservatorium in Leipzig die Aufnahmeprüfung für Musiktheorie und Komposition abgelegt und auch bestanden. Jedoch wurde ich zur Immatrikulation nicht vorgeschlagen – aufgrund „mangelnder Teilnahme am Aufbau der DDR“, wie es damals im offiziellen Absagebrief hieß. Ein Semester später dann ließ man mich ich in Dresden und Weimar nicht mal zur Aufnahmeprüfung zu. Daraufhin sagte mein Kompositionslehrer, es gäbe wohl keinen anderen Weg, ich müsse in den Westen gehen. Da traf es sich gut, dass meine Mutter Verwandte in Berlin hatte. Wir besuchten diese, und ich nutzte die Gelegenheit, an der Musikhochschule in Berlin-Charlottenburg vorzusprechen. Ich hatte Glück und konnte mich an diesem Tag dem damaligen Leiter der Abteilung für Komposition und Theorie an der Berliner Musikhochschule, Prof. Heinz Thiessen, vorstellen. Thiessen lud mich zur Aufnahmeprüfung ein, ich bestand – und so kam ich nach Berlin. Die ersten Semester waren im Wesentlichen damit ausgefüllt, mich in den verschiedenen Stilrichtungen der nun Neuen Musik kundig zu machen. Noch von Berlin aus, aber auch nach Beendigung des Studiums, habe ich regelmäßig die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik und die Donaueschinger Tage für zeitgenössische Tonkunst besucht und dabei wichtige Impulse für mein eigenes Schaffen sammeln können. Ich habe dort Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez erlebt – das waren beeindruckende Begegnungen!
Musikhochschule Stuttgart:
Gutes Arbeitsklima
nmz: Nach Ihrem Studium hat es Sie in den Süden verschlagen: an die Hochschule für Kirchenmusik in Tübingen, der sie bis heute verbunden sind. 1971 gingen Sie gleichzeitig noch an die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart, wo sie 1980 zum Professor ernannt wurden. 
Hempel: Mein Vater hat nach dem Krieg schließlich eine Stelle als Betriebsprüfer beim Finanzamt Esslingen ausüben können. In Esslingen lernte ich Hans-Arnold Metzger kennen, den Gründer und damaligen Leiter der Kirchenmusikschule der Evangelischen Landeskirche Württemberg. Er bot mir eine Unterrichtstätigkeit an – und seither, das war 1957, habe ich dort einen Lehrauftrag für Musiktheorie, den ich auch behielt, als die Kirchenmusikschule zur Hochschule ausgebaut und nach Tübingen verlegt wurde. In Stuttgart, wo ich in den 70er-Jahren zu unterrichten begann, wurde es 1980 noch einmal so richtig spannend. Ich wurde dort zum Professor ernannt, hatte mich aber gleichzeitig bereits auf eine Professur für Musiktheorie in München beworben und kam tatsächlich auf Platz eins. Jetzt wusste ich nicht, was ich tun sollte – und habe erst einmal zwei Semester lang parallel in München und in Stuttgart gelehrt. Aber dann musste ich mich entscheiden. Da machte mir Wolfgang Gönnenwein, damals Rektor der Stuttgarter Musikhochschule, ein mindestens ebenso gutes Angebot wie die Münchener – und so blieb ich in Stuttgart als Professor für Komposition und Musiktheorie, später auch als Prorektor und schließlich als Rektor dieser großen Hochschule mit einem eigenen Theaterbetrieb, dem Wilhelma-Theater in Stuttgart-Bad Cannstatt.
nmz: Mit der Wahl zum Rektor im Jahr 1990 übernahmen Sie eine schwierige Aufgabe. In Ihre Amtszeit fiel der Neubau des Hochschulgebäudes...
Hempel: Das war in der Tat nicht ganz einfach. So ein Bau ist ja eine Riesenaufgabe. Der britische Architekt James Stirling und das mit diesem Neubau betraute Finanzministerium hatten hierfür natürlich spezielle Abteilungen  einrichten können – nur bei uns an der Hochschule gab es kein extra Büro. Da musste dieses Mammutprojekt quasi nebenher bewältigt werden. Und das von Menschen, die zwar qualifiziert ausgebildete Musiker waren, aber eben keine Bau-Experten.
nmz: Was sind für Sie – im Rückblick – die wichtigsten Erfolge Ihrer Zeit als Rektor? Was war Ihnen besonders wichtig?
Hempel: Natürlich, dass wir diese erste Bauphase des neuen imposanten Hochschulgebäudes erfolgreich über die Runden gebracht haben – ohne auffällige Beeinträchtigung des weiter zu führenden Hochschulbetriebs. Zum anderen war mir eine gute Beziehung zu den Mitgliedern des Lehrkörpers und zu den Studierenden immer ein besonderes Anliegen. Zudem eine möglichst glückliche Hand bei Neuberufungen. Ich denke, die hatte ich: beispielsweise mit Sergio Azzolini (Fagott), Natalia Gutman (Violoncello), Hannes Läubin (Trompete), Ingolf Turban (Violine) und mit einigen anderen. 
nmz: Immer wieder wird die angenehme Arbeitsatmosphäre gelobt, die während Ihres Rektorats an der Musikhochschule herrschte. Worin liegt für Sie das Geheimnis eines guten Führungsstils?
Hempel: In gegenseitigem Respekt und totalem Vertrauen. Und in einer gewissen Fähigkeit zu diplomatischen Vorgehensweisen. Manchmal muss man eben das, von dessen Güte man überzeugt ist, versuchen auf Wegen  zu erreichen, auf denen man ohne kleine Tricksereien niemals vorankäme (lacht schelmisch).
nmz: Die Situation für junge Musikerinnen und Musiker hat sich in den letzten Jahrzehnten verschärft. Wie beurteilen Sie als langjähriger Hochschullehrer die Lage?
Hempel: Nun, die Situation ist für die Absolventen heute viel unsicherer als sie es je gewesen ist. Gute Stellen sind rar, im Zuge der Sparzwänge werden Orchester zusammengelegt, Stellen gestrichen... Erschwerend kommt hinzu, dass viele ausländische Studentinnen und Studenten zusätzlich auf den Markt drängen, vor allem aus den asiatischen Ländern. Und diese Konkurrenz ist oft verdammt gut.
nmz: Woran liegt’s?
Hempel: Auch an der Disziplin! Keine Frage.
nmz: Haben Sie einen Tipp für die heutigen Studierenden?
Hempel: So gut wie möglich und sehr beweglich werden!
Chorleiter und preisgekrönter
Komponist
nmz: Neben Ihrer Hochschul-Karriere waren sie auch immer schon in anderen Feldern aktiv: als Leiter der Schauspielmusiken an der Württembergischen Landesbühne Esslingen, als Gründer und Leiter einer Jugendmusikschule und viele Jahrzehnte als Chorleiter der Liederkreise in Esslingen und Kirchheim/Teck.
Hempel: Tja, wenn man an der Hochschule immer nur theoretisch vertieft arbeitet, hat die Arbeit in der Praxis natürlich ihren ganz besonderen Reiz für einen Musiker. Und in der Arbeit mit meinen Chören konnte ich viele reizvolle Konzerte realisieren, auch mit hervorragenden Solisten und großen Orchestern. 
nmz: Aber blieb da überhaupt noch Zeit zum Komponieren?
Hempel: Ja, sehen Sie, da treffen Sie einen wunden Punkt. (Lange Pause). Wenn mich heute einer fragen würde, was ich in meiner Laufbahn falsch gemacht habe, dann müsste ich sagen: zu wenig Zeit frei gelassen zum Komponieren.
nmz: Dennoch umfasst Ihr Œuvre immerhin rund 50 Werke  – für Stimme, Soloinstrumente, unterschiedliche Kammermusikbesetzungen, Chor, Orchester und Orchester mit Soloinstrumenten. Dafür sind Sie auch mehrfach ausgezeichnet worden, beispielsweise mit dem Förderpreis der Stadt Stuttgart, dem 1. Preis der Musikalischen Jugend Deutschland, dem Johann-Wenzel-Stamitz-Preis (1969), dem 1. Preis des Mozartvereins Darmstadt (1985) und dem Esslinger Kulturpreis (2008).
Hempel: Erstaunlicherweise findet man für das, was einem wirklicheinzelnen Verbänden und Institutionen die allergrößte Unterstützung erhalte. Dort arbeiten sehr engagierte, wissende Mitstreiter, die das gesamte operative Geschäft erledigen. Zum anderen ist eines ganz wichtig: Ich trage die Dinge nicht mit nach Hause. Ich kann abschalten. Und auch sofort wieder einschalten! Das ist wohl mein Geheimnis. Außerdem hatte ich ein zwar ebenfalls zeitaufwändiges, aber doch ebenso spannendes wie entspannendes Hobby, das mich immer wieder aus dem Alltag herausgerissen und auf neue Gedanken gebracht hat: das Segeln. Ein Segelschiff lässt sich eben nicht zu jeder Zeit nach Belieben in jede Richtung lenken. Man muss gewaltige wie schwache Kräfte für seine speziellen Ziele nutzen können.
nmz: Zum Amt als Präsident des Deutschen Tonkünstlerverbandes kamen Sie überraschend – als Ihre Vorgängerin 2004 abgewählt wurde. Sie waren damals Vizepräsident des Bundesverbandes und haben sich spontan bereit erklärt, das Präsidentenamt zu übernehmen. 2005 wurden sie dann mit überwältigender Mehrheit gewählt. Der Verband war damals in keiner guten Verfassung...
Hempel: Das ist richtig. Und dass der Verband heute finanziell wieder gesund dasteht, war nur durch die genannte Abwahl möglich. Jedenfalls ist es danach mit entscheidendem Einsatz von DTKV-Schatzmeister Wilhelm Mixa und von Prof. Dr. Thomas Troge, dem damaligen stellvertretenden Vorsitzenden des Landesverbandes Baden-Württemberg und Leiter der Strukturkommission, relativ rasch gelungen, den Verband zu konsolidieren, sodass wir uns wieder auf das Wesentliche – nämlich die inhaltliche Arbeit – konzentrieren konnten. 
nmz: Wenige haben so langjährige und vielfältige Erfahrungen als Hochschullehrer gesammelt wie Sie. Wie schätzen Sie die musikalische Ausbildung in Deutschland ein? Was ist gut, was könnte/müsste man besser machen? 
Hempel: Mit dem sogenannten G8, der auf 8 Jahre verkürzten Gymnasialzeit, werden die Freizeiten der Schüler dermaßen geschmälert, dass persönliche Neigungen und Talente nur mit allergrößter Anstrengung zur Entfaltung gebracht werden können. Das ist meines Erachtens ein großer Verlust. Denn in der Kindheit und im Jugendalter wird der Grundstein gelegt für eine erfolgreiche musikalische Ausbildung. Aber eben nicht allein dafür! Man weiß doch heute auch aus der Hirnforschung, dass das Musizieren Verbindungen unter unserer Schädeldecke entwickelt und fördert, die auch für viele andere Zusammenhänge im Leben ausgesprochen hilfreich, ja gar vonnöten sind.

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