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Zwei halbe Länder – ganz

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Ein deutsch-deutscher Mailwechsel von Stefan Lindemann und Walter Thomas Heyn
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Lieber Herr Lindemann, ich würde gerne einen kleinen oder großen Artikel über 25 Jahre Wiedervereinigung anbieten.

Walter Thomas Heyn: Lieber Herr Lindemann, ich würde gerne einen kleinen oder großen Artikel über 25 Jahre Wiedervereinigung anbieten.

Stefan Lindemann: Oh ja, klingt spannend! Bezogen auf musikpädagogische Strukturen? Oder das allgemeine Musikleben? Oder überhaupt Pädagogik in historischer Konfrontation (westl. Schluffigkeit vs. russischer Exerzierplatz)?

Heyn: Auf „westl. Schluffigkeit“ bin ich nicht gestoßen, sondern eher auf eine große technokratische Kälte. Der russische Drill davor ist allerdings auch Realität gewesen. Die russischen Studenten sprachen von ihren Ausbildungseinrichtungen als Streichersportschulen.

Lindemann: Also, solche Wahrnehmungsdifferenzen finde ich spannend. Oh je, ich befürchte, dass da drei Ausgaben mit jeweils ganzseitigem Text nicht ausreichen würden. Wie sprach doch Gauck damals zum zehnten Jahrestag? Wir träumten uns ins Paradies und sind aufgewacht in Nordrhein-Westfalen.

Heyn: Wohl wahr. Aber nichts gegen NRW. Duisburg war die erste westdeutsche Stadt, die ich kennen gelernt habe. Johannes Rau, damals noch Ministerpräsident, eröffnete die Kurt-Weill-Festspiele. Und am nächsten Tag zeigte uns der Bürgermeister den Hafen und sprach von den vielen Arbeitslosen und dem Strukturwandel. Das hat mich beides beeindruckt. Außerdem: In Oberhausen fand meine erste richtige „West-Premiere“ statt.

Lindemann: Ich muss zu einer Probe. Und das bei schönem Wetter. Und das bei einer Entfernung von mindestens 45 min Fahrzeit. Und das bei einem dringend wiederzubelebenden Motorrad in der Garage. Immer diese Sachzwänge… Beantworten Sie doch schnell noch die paar Fragen, bin gleich zurück.

Lindemann: Herr Heyn, zum Zeitpunkt der Wende waren Sie wie alt?

Heyn: Ich war 36 Jahre alt, nach 8 Jahren Studium und 6 Jahren Oberassistenz glücklich verheiratet und seit fünf Jahren freischaffend.

Lindemann: Wissen Sie noch, was Sie am 9. November 1989 gemacht haben?

Heyn: Ich tat das Gleiche wie am Tag davor und davor und an den vielen, vielen Stunden und Tagen danach. Ich saß vor der Glotze. Zwei Programme Ost und zwei Programme West ermöglichten es einigermaßen mitzukriegen, was läuft. Oder was laufen sollte. Die Frau und die Kinder reagierten auf meine ständigen Tag- und Nachtschichten auf dem Kanapee mit Unverständnis. Sie liefen jeden Montag mit um den Leipziger Ring und riefen den einen Spruch: „Wir sind das Volk!“ Für die Kinder war es ein Abenteuer, mehr nicht.
Am Tag der Tage ging die Familie früh ins Bett. Außer mir. Ich zappte ein paarmal hin und her und wusste dann, dass der Nachtschlaf kurz ausfallen würde. Schauderhafte und schöne Bilder ohne Ende, berauschend, einmalig! Die Maueröffnung, das ist das größte, was ich wahrscheinlich im ganzen Leben erlebt haben werde. Die Familie nahm beim Frühstück beiläufig Notiz. In der Schule fehlten 50 Prozent der Lehrer und 80 Prozent der Schüler. Die Geschäfte waren leer, Busse und Bahnen fuhren deutlich seltener als sonst. Ich war nur müde. Aber ich wußte auch: jetzt oder nie. Ein halbes Jahr später wohnte ich in Berlin.

Lindemann: Bedauern Sie die Wende?

Heyn: Nein, keine Stunde, es war der Glücksfall unseres Lebens. Und außerdem verändert sich sowieso alles und immer wieder. Wäre die Wende nicht gekommen, wäre etwas anderes passiert. Aber wenn man sich vorstellt, dass die Stasi die technischen Möglichkeiten der NSA gehabt hätte. Da wird mir dann doch noch nachträglich mulmig.

Lindemann:  Inwiefern war Ihre musikspezifische Sozialisation typisch „ostdeutsch“? Oder gab es da auch Abweichungen vom Mainstream?

Heyn: Was soll ich darauf antworten? Meine Oma lebte in Oldenburg, die ganze Familie hatte es nach dem Krieg aus Schlesien in den Westen geschafft, nur meine Mutter nicht. Der Kontakt war aber immer da. Und in Leipzig gab es zweimal im Jahr internationale Messen. Da standen alle die interessanten Bücher und Partituren herum. Es gab den Rundfunk, Platten kamen ins Land, auch Künstler gastierten. Wir waren an all dem sehr interessiert. Ostdeutsch bin ich nur, wenn es um soziale Gerechtigkeit geht. Wenn Kinder nicht auf die Musikschule gehen können, weil die Eltern kein Geld haben, das regt mich auf. Dass Bildung eine Frage des Einkommens ist – daran kann ich mich einfach nicht gewöhnen.  

Lindemann: Wann haben Sie erste Kontakte mit spezifisch westdeutschem Kulturleben erfahren?

Heyn: Ich hatte das andere Land zwei Jahre vorher schon besuchsweise erkunden dürfen. Das war 1986 während der ersten Münchener Opernbiennale, die der Komponist Hans Werner Henze ins Leben gerufen hatte. Wir drei jungen Leute waren als Delegation des Komponistenverbandes (Abt. Nachwuchsförderung) ohne einen Pfennig Geld losgeschickt worden. Die netten Mitarbeiter in München versorgten uns mit Lebensmitteln und besorgten Fahrkarten für den Nahverkehr. Und wir wohnten in Feldafing mit Blick auf einen traumhaft schönen See. Das war für mich „der Westen“. Das war ja das Ziel aller Künstler und wurde unter vier Augen beim Bier „im Osten wohnen, im Westen arbeiten“ genannt. Es gab da echte Switch-Virtuosen.

Lindemann: Könnten Sie aus der damaligen Warte heraus definieren, worin die Unterschiede zwischen einer spezifisch west- beziehungsweise ostdeutschen Pädagogik, den jeweils typischen methodisch-didaktischen Grundprämissen lagen?

Heyn: Der Unterschied war das Verhältnis zur Leistung, denke ich. Vor meiner elfjährigen Tochter, die Violine lernte, stand in den siebziger Jahren die Lehrerin und sagte: „Nora, du hast die C-Dur-Tonleiter schon wieder zwei Sekunden zu langsam gespielt.“  Das ist heute undenkbar, oder? Wer damals nicht parierte, flog gnadenlos raus. Nach der Wende war das ein Problem, gerade im elitefeindlichen Berlin und musste mühsam austariert werden. In der Broschüre „Zwischentöne“ der Musikschule Berlin-Pankow steht das so: „Die Berliner Musikschulen bekennen sich zur Leistung, aber der Maßstab der Leistung ist begründet im Leistungsvermögen des einzelnen Musikschülers.“ Das war damals ein schwer errungener Kompromiss oder besser gesagt, es ist bis heute ein immerwährender Eiertanz.

Lindemann: Wirkt für Sie diese Trennung auch heute noch nach?

Heyn: Heute schwimmt alles ineinander. Die Kinder der Gegenwart sind nicht mehr unterschiedlich und die Organisationsformen auch nicht. Im Übrigen gilt: Talente fördern ist kein Problem. Talente finden und bei der Stange halten, das ist die eigentliche Kunst. Ich denke darüber jede Unterrichtsstunde nach und versuche Kniffe und Tricks und probiere herum wie alle Kollegen.

Lindemann: Sie unterrichten wie wir alle, aber Sie sind doch eigentlich Komponist.

Heyn: Ja, das bin ich. Neue Musik trug früher immer den Stachel des Widerständischen in sich, aber das ist vorbei. Man kann sie studieren wie Bergbau oder Zahnmedizin und auch aus-üben, aber der gesellschaftliche Effekt ist nicht mehr da. Neue Musik ist eine Sache der Fünfzig- bis Achtzigjährigen geworden, die ihrerseits mehrere Generationen von Schülern ausgebildet haben, die genauso schreiben. Das meiste, was die jungen Leute außerhalb dieser Szene an ihren Laptos basteln, ist viel origineller und direkter. Die meisten dieser Kollegen haben Sinn für Klänge, für Dramaturgie und für Kontraste. Hochschulen und Verlage werden da nicht mehr wirklich gebraucht.

Lindemann: Sie haben vor knapp einem Jahr den Vorsitz des Landesverbandes des Tonkünstlerverbandes übernommen?

Heyn: Ich wollte nicht. Aber es gab keine Alternative. Mittlerweile interessieren mich die Themen sehr, wie zum Beispiel die Berufsbilder der Musiker und der Musiklehrer sich weiterentwickeln werden und wie sie sozial und finanziell abgesichert werden können. Da spielt ja auch mein eigenes Interesse hinein. Wenn auch alles sehr mühsam ist und lange dauert, gibt es da doch ein paar interessante Entwicklungen und ich erwarte da positive Veränderungen.

Lindemann: Sie sind Optimist?

Heyn: Ich bin neugierig. Und ich will nicht zu früh auf der faulen Haut liegen. Die Chance, dass sich eine neue Tür öffnet, besteht in jeder Sekunde an jedem Tag. Es wäre doch schade, das zu verschlafen.

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