Wir wissen: Die Stimme als ureigenstes Instrument des Menschen geht durch alle Kulturen, durch alle Lebensbereiche und letztlich auch durch alle Kommunikationswege, trotz lautloser SMS und Internet. Sie ist so uralt wie der Mensch selbst und begleitet uns ein Leben lang. „Von der Wiege bis zur Bahre – CANTARE!“ so der Titel eines Kongresses der Gesangspädagogen.
Wiege: Mit dem Schreien und Lallen beginnt die Stimme. Mit der Ruf-Terz : „Mama“, „huhuuu“, „Hallo“, „Komm mal!“ geht es weiter. Wenn das Kind Glück hat, wird es die ersten Lieder von Mutter, Vater, Oma oder Opa hören – heute eher selten. Wenn es noch mehr Glück hat, einige Lieder im Kindergarten und in den ersten Schuljahren – ebenso selten. In der Pubertät und im Stimmwechsel sieht die Sache schon anders aus: Discobesuche und Ähnliches verlegen sich mehr auf bizarre Bewegungsabläufe als auf stimmliche Äußerung. Wenn dann im jungen Erwachsenenalltag durch eine glückhafte Begegnung ein Chor gefunden wird, steht der Möglichkeit, seine Stimme wachsen zu lassen, wenig im Wege.
Dieser schönen und wichtigen Sache nimmt sich der AMJ in seiner speziellen Art und Weise der Kursarbeit seit 1947 an: Damals, als es noch Familien mit mehr als 0,7 Kindern gab, wurde sicherlich mehr gesungen, obwohl der Zweite Weltkrieg uns – nicht nur – eine gebrochene Sing-Tradition hinterlassen hat. Es gab sie tatsächlich noch, die Familien, die unter dem Apfelbaum saßen und einfach sangen – wie auf einem blau-gelben bunten Sommerbild von Carl Larsson.
Was ist draus geworden?
Vom Apfelbaum zur Disco? Vom Familiensingen zum einzelnen Menschen mit „ohrgestöpseltem“ MP3-Player? Von der Cantilene zum Rap? Vom Volkslied „Kein Feuer, keine Kohle...“ zu „I will survive“? Ein weiter Bogen! Ein heute 60-Jähriger, der „unter dem Apfelbaum“ begonnen hat, könnte in jeder Altersstufe die Angebote des AMJ in seiner Vielfalt erleben, ausprobieren und lernen.
Ich blättere heute den AMJ-Katalog für 2006 durch und entdecke wirklich für jeden etwas, das sich lohnt: Da gibt es für Menschen von 2 bis 88 Jahren Familienmusikwochen; da können Kinder singen durch alle Jahreszeiten; Lieder, die bewegen oder nicht sterben dürfen, werden angeboten; da wird die Frage gestellt, warum Opa denn so tief singen kann; und singen wie die Italiener wollten wir doch immer schon mal lernen. Beim Singen, Spielen und Tanzen kommen alle Altersgruppen genauso zusammen wie Jugendkammerchöre auf Usedom oder beim Eurotreff; Chorleiter, die mal wieder was für die Stimme und das Dirigieren tun wollen oder sich entweder für die Kodaly-Methode oder für die Begegnung „classic meets jazz“ interessieren – nur einige Beispiele aus der Fülle der Angebote. Nicht zu vergessen schließlich die vielen Angebote an Erzieher/-innen und Lehrer/-innen, die ja leider zum Großteil in ihrer Ausbildung nicht mehr gelernt haben, wie man mit Kindern musiziert. Beim AMJ können sie es erfahren von „Hilfe ich soll dirigieren“ bis „Move and Groove im Schul- und Jugendchor“.
So könnte der 60-jährige Mensch erzählen, dass der AMJ sein ganzes Leben hindurch seine Stimme begleitet, gefördert – vielleicht auch geschult hat. Er würde erzählen, dass all diese Kurse und Angebote im außerschulischen Bereich stattgefunden haben („Klar, macht ja auch mehr Spaß, wenn nicht Schule und Zensuren dahinterstecken!“), dass er viele Freunde gefunden und dass Wochenenden mit dem Abschiedsgruß: „Bis zum nächstes Mal!“ einen festen Bestandteil im Leben eingenommen haben.
Und nun auch noch ein wissenschaftlicher Kongress in Leipzig, der sich schon zum dritten Mal der Kinder- und Jugendstimme verschreibt – dieses Jahr über die Stimme im Umfeld des Singenlernens.
Wird der 60-Jährige, der an das Singen unterm Apfelbaum denkt, sich wundern, dass man so etwas richtig lernen und wissen muss? Geht doch auch einfach so – das Singen! Natürlich tut es das, schade wär’s, wenn diese Leichtigkeit verloren ginge, ohne sie läuft ohnehin nichts in der Stimmgebung. Dass aber gerade das Singen eine wissenschaftliche „Aufwertung“ erfährt, macht die Sache rund! Wenn der Apfelbaum-Sänger weiß und nicht nur irgendwie fühlt, wie stimmliche Zusammenhänge und Funktionen miteinander verbunden sind – im Kongress wird es heißen: lernpsychologische und neurobiologische Aspekte – kann die Sache des Singens und Singenlernens durch Tun und Wissen eine der schönsten Nebensachen der Welt sein!