Von Warschau aus hat man einen anderen Blick auf das geeinte Europa als in Brüssel, Straßburg oder Bonn. Das größte der neuen Beitrittsländer bereichert die Staatenunion um diverserlei Bevölkerung, es bietet lukrative Absatzmärkte für westliche Waren und ein Gutteil an nationaler Tradition und Kultur. Um letztere fürchtet die Elite des Landes, wenn Polen ab Mai 2004 zur EU zählen wird. Ein nichtstaatlicher „Polnischer Rat der Europäischen Bewegung“ hat im Sommer an die Union appelliert, die Erweiterung nicht allein nur politisch, landwirtschaftlich und militärisch zu vollziehen, sondern die Europäische Einigung in Gestalt von Wissenschaft, Kultur und Bildung noch auf eine „vierte Säule“ zu stellen.
Die Furcht vor dem Niedergang regionaler Identität und nationaler Kultur infolge künftig mangelnder Finanzierbarkeit des bislang Bestehenden ist nicht ganz unbegründet. In den Beitrittsländern des ehemaligen Ostblocks war und ist Kultur in einem hohen Maß staatlich subventioniert und verfügt infolge des Übergangs zur Marktwirtschaft bereits heute über deutlich weniger Mittel als vor 15 Jahren. Dies jedenfalls verlautbarten Festivalorganisatoren aus Ungarn, Tschechien und Polen Ende September beim „Forum des Deutschen Musikrats“ beim Warschauer Herbst. Der polnische Bürger, so Jerzy Badowski, Sprecher der polnischen Autorengesellschaft ZAIKS, gebe heute für Kultur weniger Geld aus als vor 1989 – andererseits wachse der Bedarf an öffentlicher Kulturförderung permanent. Die Tendenz schrittweise sinkender staatlicher Subventionen bestätigten auch Lidia Geringer-d’Oedenberg, Direktorin des internationalen Chorfestivals „Wratislava Cantans“, und der Prager Festivalveranstalter Jarómir Dadak. Tadeusz Wielecki, Leiter des „Warschauer Herbsts“, beklagt wachsende Planungsunsicherheit, Szabolcs Kerestes, Sprecher der elektroakustischen Szene in Ungarn, vermisst das Fehlen staatlicher Förderung für experimentelle Musik. Auch Klaus Hinrich Stahmer warnte vor Illusionen jeglicher Art. Der ehemalige Präsident der deutschen Gesellschaft für Neue Musik schilderte, wie drastisch sich in Deutschland der Staat derzeit aus der öffentlichen Kulturförderung zurückzuziehen versucht und wie potenziell gefährdet die zur Zeit noch üppige nationale Festivallandschaft neuer Musik perspektivisch hier sei.
Wie wichtig, aber auch wie problematisch diesbezüglich Abhilfe wird, verdeutlichte die Debatte um einen Projektentwurf, den der Deutsche Musikrat (DMR) in Warschau vortrug. Es handelt sich um das Projekt einer „Europäischen Musikbürgschaft“, die laut DMR-Vizepräsident Uli Kostenbader den Erhalt namhafter staatlich subventionierter Festivals mittels EU-Geld garantieren soll. Nationaler Subventionsabbau würde nach diesem Modell mittels europäischer Ausfallbürgschaften aufgefangen, Vollfinanzierung und ökonomisches Wirtschaften mit Prämien belohnt werden. Wenngleich Nachfragen polnischerseits nach konkreten Förder- und Auswahlkriterien unbeantwortet blieben, so verdeutlicht Kostenbaders Idee, dass aus heutigem Engagement für die Ost-West-Integration künftig durchaus europäische Legitimation erwachsen kann. Das Interesse des Deutschen Musikrats, sich als Initiator eines Bürgschaftsprojekts selbst zu einem internationalen Managementzentrum entwickeln zu wollen, spricht dabei für sich.
Hans Herwig Geyer (GEMA) stellte in seinem Referat über das Wirken des 1995 gegründeten „European Music Office“ (EMO) allerdings klar, dass Förderanträge aller Art mit geltenden EU-Förderregeln kompatibel sein müssen und dass Hermes-Bürgschaften auf kulturellem Gebiet unüblich sind. Klaus Hinrich Stahmer forderte unmissverständlich, dass auch neue Initiativen und nicht allein „altbewährte“ Foren aus sozialistischer Zeit der Hilfe bedürften. Rainer Pöllmann (DeutschlandRadio Berlin) entwarf daraufhin die Idee, den „Warschauer Herbst“, die „Klangspuren“ in Schwaz (Tirol) und das Berliner Festival „UlltraSchall“ zunächst ganz unbürokratisch miteinander kooperieren zu lassen. Eine wechselseitige Nutzung bestimmter Programmteile benötige lediglich zwei Jahre Vorlaufzeit. Dass im EU-Rahmen neue Kulturprojekte offiziell ins Leben gerufen werden könnten, veranschlagte Hans Herwig Geyer frühestens für das Jahr 2007. Konkrete Ost-West-Integration auf dem Gebiet der Kultur, so Moderator Theo Geißler eingangs des etwas unabgeschlossenen Arbeitstreffens, ergibt zunächst also keinerlei Schlagzeilen – sie benötigt in jedem Fall Zeit und viele kleine Schritte konkreter Partnerschaft.