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Sind wir auf dem Holzweg? Seit meinem Besuch in Venezuela im vergangenen Herbst beschäftigt mich diese Frage immer wieder. Und zwar betrifft es die Grundsätze unserer Instrumentalausbildung, zumindest was die Orchesterinstrumente angeht. Dabei spielen natürlich die Erinnerungen an die eigenen Geigenstunden eine große Rolle, Erinnerungen an Etüden, Tonleitern, Sonaten und dann auch mal leichte Violinkonzerte. Und dann die ersten Erfahrungen im Schulorchester, die einen großen Motivationsschub auslösten, aber immer vom Stirnrunzeln des Geigenlehrers begleitet waren, der dadurch den K.o. für Haltung, Vibrato und Intonation befürchtete.
Was ich in Venezuela erlebt habe, war etwas völlig anderes. Ich wußte bereits von meinen Reisen nach Ecuador und Kolumbien, daß es in einigen Ländern Lateinamerikas eine große Jugendorchesterbewegung gab. Ich wußte auch, daß dies ein Sozialprojekt für arme Kinder war, also auch für Straßenkinder. Ich wußte, daß der Ursprung dieser Idee in Venezuela lag oder besser gesagt in der Person von Dr. Abreu, der schon vor 25 Jahren begann, diese Idee zu verfolgen. Abreu ist inzwischen Botschafter der UNESCO und hat seine Idee nicht nur in Venezuela, sondern auch in anderen Ländern Lateinamerikas und auch Asiens etabliert.
Man hatte die Arbeitsphase des Nationalen Kinderorchesters Venezuelas extra für mich um zwei Tage verlängert, da ich wegen meiner Tätigkeit als Lehrer nicht zum eigentlichen Konzert kommen konnte. So saß ich mit Abreu und einigen wenigen Mitarbeitern des Projektes in einem großen Konzertsaal vor einem riesig besetzten Orchester mit zirka 140 Kindern im Alter von 10 bis 15 Jahren. Die Kinder schienen nervös zu sein, mußte der Mensch aus dem hochangesehenen Deutschland doch ein „hohes Tier“ sein, denn immerhin mußten sie ein Extra-Konzert für ihn spielen, was sie bisher nur für den Papst gemacht hatten.
Schnell legte sich die Nervosiät. Das Orchester spielte alles aus der Orchesterliteratur, was bekannt und schwer ist. Viele Kinder schauten dabei in der Gegend herum, hatten sie doch die Noten schon längst auswendig im Kopfe. Einige schlugen erst gar nicht das Notenheft auf. Trotz der riesigen Besetzung erklangen auch schwere Passagen in unglaublicher Präzision. Aber es entstand nicht der Eindruck eines verbissenen und gedrillten Ensembles, sondern es wurden Späße gemacht, der Flötist flirtete mit seiner Nachbarin, und erst nach einigen Minuten verschwanden beim Spielen der venezolanischen Nationalhymne, dirigiert von einem zehnjährigen, nach etlichem Zischeln und Zeichengeben die Baseball-Kappen von den Köpfen.
Mit dem Kontrabassisten Gottfried Engels, der schon zahlreiche Kurse in Venezuela abgehalten hat und wesentlich zum Zustandekommen der Reise beigetragen hatte, begab ich mich dann auf eine Tour durch Venezuela. 150 Jugendorchester gibt es landesweit, die meisten Mitglieder stammen aus armen Verhältnissen. Das Spielen in einem der Jugendorchester in Venezuela ist hoch angesehen und hat, im Gegensatz zu Deutschland, keinerlei elitären Beigeschmack. Die Jugendorchester nehmen also die Funktion von Musikschulen wahr. Was mich jedoch am meisten begeistert hat – und damit sind wir bei dem Holzweg – war die Tatsache, daß die Kinder vom ersten Tag ihres Unterrichts an im Orchester sitzen. Sie erlernen das Instrument im Orchester und in den Stimmproben anhand von populären Werken der Orchesterliteratur. In Venezuela erlernt man Geige, um im Orchester zu spielen. In Europa erlernt man offensichtlich Geige, um Solist zu werden, landet jedoch trotzdem fast immer im Orchester. Und wer nicht glaubt, daß dies funktioniert, der möge doch im Jahr 2000 am Welttag des Kindes zur EXPO nach Hannover kommen, wo das Kinderorchester Venezuelas zu Gast sein wird.