„Das Konzert des Nationalen Venezolanischen Kinderorchesters ist ein Jahrhundertereignis”– so äußerte sich Professor Reinhold Würth, als er am 28. September 2000 in der dicht gefüllten Wandelhalle von Bad Mergentheim den 10. „Würth-Preis der Jeunesses Musicales Deutschland” in Höhe von 30.000 Mark an eben dieses Orchester übergab.
Es ist mehr als wahrscheinlich, vielleicht sogar gewiss, dass ale Zuhörer bei diesem Konzert ein ähnliches Gefühl hatten wie Professor Würth. Die Selbstverständlichkeit, die Leichtigkeit und vor allem die Freude, mit der die 170 Kinder auf der Bühne saßen und musizierten, zum großen Teil mit ihren Instrumenten verwachsen, übertrug sich so unmittelbar auf das vom ersten bis zum letzten Ton sichtbar begeisterte Publikum, wie man es wohl nur selten erlebt.
Das „Nationale Kinderorchester Venezuela” setzt sich aus den talentiertesten Musikern der Venezolanischen Jugendorchesterbewegung zusammen, die mit 157 bestehenden Orchestern zirka 110.000 Kinder und Jugendliche in Venezuela erreicht. Die Kinder gehen zu den Musikschulen, weil es dort etwas zu essen gibt – und bekommen sofort auch ein Instrument in die Hand gedrückt. Von der ersten Berührung mit dem Instrument an spielen sie gleich in einem der zahlreichen Orchester mit. Dort kommen sie dann mit Werten wie Liebe, Solidarität, Zusammensein und Freude in Berührung, die sie bis dahin, in einem Umfeld von Gewalt, Drogen und Missbrauch, noch nicht kennen gelernt haben.
Durch das Programm führte sympathisch und kompetent Christian Schruff, der durch seine Moderation verschiedener Musikprogramme beim WDR bekannt geworden ist. So konnten die Zuhörer ziemlich bald erfahren, dass es insgesamt 214 Kinder waren, die mit auf die von der JMD initiierten Deutschlandtournee gefahren sind. Weil es aber keine Bühne gibt, die Platz für über 200 Musiker bietet, musste man sich eben abwechseln. Bei insgesamt neun Konzerten, die das Orchester zur EXPO nach Hannover, nach Magdeburg, Münster, Düsseldorf, Bad Mergentheim, Heilbronn, in die Philharmonie von Berlin und nach München führte, gab es für jedes Kind genügend Möglichkeiten mitzuwirken. Zunächst erklang in der Bad Mergentheimer Wandelhalle unter dem Dirigat des 18-jährigen Gustavo Dudamel Richard Wagners Ouvertüre zu „Rienzi, der letzte der Tribunen” und „Francesca da Rimini” eine symphonische Fantasie nach Dante von Peter Tschaikowsky. Danach folgte der Welt schnellste Interpretation des 4. Satzes aus Tschaikowskys 4. Symphonie in f-Moll.
In seiner Laudatio zur Würth-Preis-Verleihung nach der Pause sprach Professor Martin Christoph Redel, Vorsitzender des Bundesvorstands der JMD, anerkennend über die Einzigartigkeit der Verbindung von Kultur- und Sozialarbeit sowie den musikpädagogischen Ansatz der 1975 von Dr. José Antonio Abreu gegründeten venezolanischen Jugendorchesterbewegung. Die JMD könne als Fachverband deutscher Jugendorchester viel von dieser Initiative lernen.
Dr. Abreu bedankte sich für die Ehre, die man der Jugendorchesterbewegung durch den Preis zukommen lasse. „Das Geld werden wir für den deutsch-venezolanischen Orchesteraustausch verwenden”, stellte der Gründervater der Initiative in Aussicht. Nach diesem offiziellen Teil stellten die 170 Kinder, die inzwischen in die venezolanischen Nationalfarben gekleidet waren, drei musikalische Momente aus Amerika vor: „Sensemaya” von Silvestre Revueltas, „Melodia en el Llano” von Antonio Estévez und den Mambo aus der „West Side Story” von Leonard Bernstein. Zu diesen Stücken hatten sich die jungen Musiker Showeinlagen ausgedacht, die fast an eine Choreografie erinnerten und die Stimmung noch ausgelassener werden ließen. Aufgrund der nicht enden wollenden stehenden Ovationen des Publikums ließ sich das Orchester zu einem bunten, immer lebhafter werdenden Reigen von Zugaben hinreißen, den die Zuhörer mit Begeisterung quittierten.
Die JMD hatte das Nationale Kinderorchester Venezuelas auf eine Deutschland-Tounee eingeladen, weil sie überzeugt ist, dass man hier viel von diesem Ensemble lernen kann. Man erkennt unmittelbar, zu welchen Leistungen Kinder und Jugendliche fähig sind, wenn man sie dazu motiviert. Erstaunlich ist dabei, dass es sich hier um Kinder und Jugendliche handelt, die oft in Slums am Rande der Gesellschaft aufwachsen. Die Annahme, dass man gerade solchen Kindern derartige Leistungen nicht zutraut, wird durch das Venezolanische Kinderorchester widerlegt. Daher ist die technische Perfektion des Orchesters keineswegs mit „Drill” verbunden. Von den jungen Musikern geht eine starke emotionale Kraft aus, der sich wohl niemand in den Konzerten auf deutschen Bühnen entziehen konnte. Damit bestätigt nun das venezolanische Jugendorchester auf glänzende Weise, dass Kulturarbeit und Sozialarbeit keine Gegensätze sind sondern sich in wunderbarer Weise ergänzen können.
Besondere Bedeutung gewinnt die Arbeit des Venezolanischen Kinderorchesters dadurch, dass hier die übliche Einbahnstraße des Kulturexports von den Ländern des Nordens in den Süden der Welt umgedreht wurde. Die deutsche Musikwelt kann auf ihrem „ureigensten” Gebiet, dem der Sinfonik und Orchesterausbildung, ungemein viel von einem Orchester aus einem der armen Länder unserer Erde lernen.