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Liegt die Zukunft der Klassik in Venezuela?

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Gedanken und Nachdenkliches zu einem kulturellen Phänomen
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Vom 21. bis 28. August war das Simón Bolívar Youth Orchestra of Venezuela wieder auf Einladung der JMD in Deutschland. Bis 6. September schloss sich die erste Tournee des Venezuelan Brass Ensembles unter Leitung von Thomas Clamor an. Nachdem die JMD das venezolanische Jugendorchestersystem vor über 10 Jahren „entdeckt“ hatte, führten bald Tourneen des nationalen Kinder- und Jugendorchesters in den Jahren 2000 und 2002 zu einer Wahrnehmung dessen, was in Venezuela seit 1975 an landesweiter systematischer Musikerziehung geleistet wird. Bis heute erreicht das „Sistema“ über eine Viertelmillion Kinder und Jugendliche. Das bedeutet eine Basis, auf der auch eine Spitze wachsen kann. Claudio Abbado wurde aufmerksam, die Berliner Philharmoniker wurden Paten. Aufsehen erregte der Kontrabassist Edicson Ruiz, der sich als bislang jüngstes Mitglied der Berliner eine Lebensstellung erspielte. Sir Simon Rattle ließ sich bei seinem Erstbesuch in Caracas zu der Äußerung hinreißen, er habe „in Venezuela die Zukunft der Klassischen Musik gesehen“.

Was ist dran an diesem Orakel? Was fasziniert uns so sehr an „Klassik à la Caracas“? Einmal ganz abgesehen von der Faszination, dass ein einziger Mann, José Antonio Abreu, Träger des alternativen Nobelpreises, es geschafft hat, eine Vision umzusetzen, eine nationale „accion social“ auf der Basis des Instrumental- und vor allem des Orchesterspiels aufzuziehen. Dies ist als eine pädagogische und politische Leistung recht früh auch bei uns rezipiert worden, vor allem, als spätestens seit der Bastian-Studie die Transferkompetenzen diskutabel wurden, die durch intensives Musiklernen ausgelöst werden (können): dass Musik eben ein ideales Medium der Persönlichkeitsbildung, der Ausbildung von Kreativität, Problemlösungs- und Methodenkompetenz bis hin zum positiven Sozialverhalten sein kann. Dass
dies auch eine gesellschaftspolitische Dimension hat, ahnte man seit des Bundesinnenministers Otto Schily legen-därem Satz, wer Musikschulen schließe, gefährde die Innere Sicherheit. Da griff man einen derart realen Wirkungszusammenhang, wie er in den Barrios der venezolanischen Großstädte zweifellos greifbar ist, umso begieriger auf. „Gitarre statt Knarre“ – was in Caracas funktioniert, müsste doch auch für verwahrloste und gewaltbereite Jugendliche in Berlin oder Hamburg zutreffen. Und so erschien dann auch im 150 Seiten starken Pressespiegel der„Power of Music“-Tournee 2005, die von der JMD gemeinsam mit der „für eine zukunftsfähige Gesellschaft“ antretenden Bertelsmann Stiftung präsentiert wurde, diese Facette am signifikantesten mit der Titelzeile „das Wunder von Caracas“ zum Ausdruck gebracht – ein Wunder, indes, ist etwas, was man nicht begreifen kann. Und nachdem Bundespräsident Johannes Rau in seinen letzten Amtsjahren auch viel Lobbying für die persönlichkeitsbildenden Wirkungen der Musik leistete und des Deutschen Musikrats Initiative „Musik bewegt“ unterstützte, hat sich auch einiges bewegt in Deutschland.

Etwas anderes zeichnete sich 2005 auch schon ab: Der Durchbruch der Jungen Philharmonie Venezuela auf dem Musikmarkt – ausverkaufte Konzertsäle und begeisterte Kritiken. „So fix, so frech, so fabelhaft“ fabulierte die Bremer Nordsee-Zeitung und die BZ witterte „Frischen Wind aus Fernwest“. Als Gustavo Dudamel gar den Gustav-Mahler-Dirigierwettbewerb gewann, ging ein neuer strahlender Stern auf am Dirigentenhimmel. Seither haben er und das Orchester eine internationale Agentur und einen Plattenvertrag bei Deutsche Grammophon. Dieser „Hype“ grundierte denn auch die aktuelle „ZukunftsMusiker“-Tournee 2007. Den Ausverkaufsrekord stellte das Bonner Beethovenfest mit wenigen Stunden nach Eröffnung des Vorverkaufs auf. Zehntausende Konzertbesucher applaudierten frenetisch dem inzwischen erwachsen gewordenen Orchester, dem man die schwarzen Fräcke fast eher abnimmt als die Jacken in den bunten Landesfarben. Damit einher geht freilich eine andere Tendenz der Kritik. Es gibt da inzwischen kühlere Köpfe, wie etwa das FAZ-Feuilleton, das den „nach Erneuerungskuren gierenden Klassikbetrieb voll Heilserwartung auf die Wundertruppe“ blicken sieht, die ihm „den überlebensnotwendigen Frischekick verpassen“ soll. Und die Maßstäbe des ästhetischen Urteils verschieben sich entsprechend den gewachsenen eigenen Ambitionen.

Doch wurde auch erfreulich viel über die Basisarbeit und ihren sozialen Impetus geschrieben. Die JMD hatte sich hier in ihrer Pressearbeit und mit zahlreichen Einführungsveranstaltungen sowie mit einer informativen Tourneebroschüre ins Zeug gelegt. Ein Symposion „Unsere Zukunft – Musik“, zu dem die JMD gemeinsam mit der Philharmonie Essen eingeladen hatte, stellte neben dem venezolanischen Sistema gleich vier aktuelle deutsche Initiativen zur Diskussion: Ist es „Zeit für einen musikpädagogischen Aufbruch?“ fragten sich rund 100 Fachkundige aus Musikleben, Politik und Gesellschaft. Aber die Zeit ist auch in Deutschland überreif für das Thema. In Nordrhein-Westfalen hat sich gar die Landesregierung aufgemacht, „eine Modellregion nach dem Vorbild Venezuelas“ zu schaffen: Kulturstaatssekretär Grosse-Brockhoff stellte die Initiative „Jedem Kind ein Instrument“ vor, die bis 2010, wenn das Ruhrgebiet Kulturhauptstadt Europas wird, über 200.000 Grundschulkinder ans Instrument und ins Orchester gebracht haben soll, wofür insgesamt immerhin 50 Millionen verausgabt werden. Konzerthäuser wie die Essener Philharmonie initiieren qualifizierte musikalische Stadtteilprojekte mit sozial benachteiligten Kindern – wie Intendant Michael Kaufmann am Beispiel von „ReSonanz und AkZeptanz“ aufzeigte. Die öffentlichen Musikschulen, für die Ulrich Rademacher als Vorstandsmitglied des VdM sprach, erweitern ihr Spektrum durch Kooperationsprojekte in Richtung KiTas und Grundschulen mit elementaren Angeboten und Klassenmusizieren.

„ZukunftsMusiker“ heißt eine Initiative, die aus der Wirtschaft kommt. Götz Werner, Gründer von dm-drogeriemarkt, ermöglicht Kindern aller Gesellschaftsschichten bereits seit 2006 spielerisch attraktive Zugänge zum Instrument in der Überzeugung, damit Schwellenängste abzubauen, Schlüsselerlebnisse zu vermitteln und Impulse zu geben, die zu einem längerfristigen Instrumentalunterricht führen. „ZukunftsMusiker“ arbeitet dafür mit freiberuflichen Musikpädagogen ebenso zusammen wie mit den öffentlichen Musikschulen, wo es kostenlose Schnupperkurse gibt, oder mit den Blasmusikvereinen, die kostenlose Probemitgliedschaften anbieten. Auch das Klingende Mobil von Gerd Albrecht ist bundesweit im Einsatz, in den Filialen werden Instrumente gebastelt und Konzerte gegeben. Die soziale Kulturarbeit in Venezuela ist auch Vorbild für die dm-Initiative „ZukunftsMusiker“. Aus diesem Grund engagierte sich das Unternehmen nicht allein als Sponsor der diesjährigen Tournee der venezolanischen Spitzenorchester, sondern auch als Kommunikationspartner mit einem millionenfachen Adressatenkreis.

Dass es Zeit für einen neuen musikpädagogischen Aufbruch ist, ist unübersehbar: Viele sind bereits aufgebrochen, um neben und in den Strukturen unserer Musikausbildungssysteme Krusten aufzubrechen und neue Chancen zu suchen. Was wir dabei von Venezuela lernen können, wird uns noch eine Weile beschäftigen. Zu differenziert und unvergleichbar sind die Verhältnisse hüben wie drüben, zu vielschichtig der Fragenkomplex, zu breit gefächert die möglichen Wertungen. Aber wenn wir im Gespräch bleiben darüber und – auch das signalisierte das Symposion – zusammenwirken anstatt neu erschlossene Ressourcen zu verstreuen, dann ist das doch schon was. Auch hierzulande hat die Klassische Musik eine Zukunft.

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