Schlagzeug ist zu hören und Saxophon, jemand singt sich ein ... Was aus den Fenstern im Weikersheimer Schloss klingt und im Ohr der Besucher eine wilde akustische Mischung ergibt, verrät, dass die Musikakademie Schloss Weikersheim auch in der Osterwoche voll ausgebucht ist. Neben dem Jugendjazzorchester Baden-Württemberg, das für seine aktuellen Konzerte probt, sind auch das internationale Sängerensemble und das künstlerische Team der Internationalen Opernakademie für eine erste Arbeitsphase angereist. Die Proben zu einem der größten regelmäßigen Projekte der JMD haben begonnen. 2017 steht Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“ auf dem Spielplan.
Und richtig, steigt man die Treppen in den dritten Stock hinauf, dann sind auch Klavier und Gesang zu hören, die nach Oper klingen. Für Sänger freilich ist 10 Uhr noch früh am Morgen. Dennoch: „Rallallala, hopsasa“ – Jonas Böhm, der die Partie des Vaters singt, ist anscheinend bereits mühelos in Hochform. Studienleiterin Christina Domnick ist beeindruckt: Kompliment! Ruhig, konzentriert und freundlich geht sie mit dem jungen Tenor und der polnischen Sopranistin Urszula Cichocka, die die Mutter singt, eine Szene durch, am Flügel begleitet von Clemens Mohr. Scheinbar sind es Kleinigkeiten, um die es geht, manchmal auch sängerische Hinweise und Tipps: Wie groß ist die Bewegung, um die Wortsilben zu formen, reicht schon eine kleine Entspannung des Kiefers, wo muss die Zungenspitze den Sch-Anlaut bilden für ein deutliches „schau“? „An dieser Stelle kein Ritardando!“ – Clemens Mohr nickt. „Hier, wenn die Mutter mit einstimmt, bitte beide Sänger gemeinsam atmen.“
In dieser sorgfältigen Aufmerksamkeit auf jedes Detail zeigt sich die reiche Erfahrung von Christina Domnick, jahrelang Studienleiterin an der Komischen Oper Berlin. Immer ist sie sofort am Punkt, hat alle Ebenen im Blick: Textverständlichkeit und Textverständnis, die Harmonie oder Spannungen in der Musik und zwischen den Bühnencharakteren, die gesangliche Stimmfärbung und die des Märchentextes: „Teller leer, Keller leer … Höchst einfach ist das Speiseregister“ – die Familie lebt in so armen Verhältnissen, dass bereits ein zerbrochener Topf ein Drama und großes Unglück ist. Der sängerische Gestus einer Walküre passt da nicht, aber ein einfacher und schlanker Klang. Komponiert an dieser Stelle in schlichtem G-Dur. Solche Hinweise, unmittelbar aus dem Notentext „abgelesen“, von beiden Sängern sofort umgesetzt, formen innerhalb kürzester Zeit eine stimmige musikalische Aussage – hochprofessionelle Arbeit, zielgenau, ohne Umwege.
Diese Momentaufnahme mag einen Eindruck vermitteln, wie in der Internationalen Opernakademie gearbeitet wird: Mit der Überzeugung, dass Qualität nicht allein ein Ergebnis beschreibt – die begeisternden Vorstellungen im Schlosshof. „Qualität“ – bei der JMD im wörtlichen Sinne verstanden, wie etwas beschaffen ist oder gemacht wird –, ereignet sich ab der ersten Minute, in jedem Augenblick: in einem respektvollen, freundlichen Umgang miteinander, einem intensiven Rollenstudium durch eine tiefe persönliche Auseinandersetzung mit dem Notentext, einem Stimm- und Körpertraining, das Sängerinnen und Sänger dabei unterstützt, ihre Möglichkeiten frei zu entfalten und weiterzuentwickeln. Kommunikation und Teamgeist prägen die Arbeit.
Während dieser ersten Arbeitswoche der Opernakademie leitet Christina Domnick die musikalischen Proben. Ab der „heißen Phase“ der Produktion ab Mitte Juni wird Patrick Lange, aktuell Generalmusikdirektor in Wiesbaden, die musikalische Gesamtleitung übernehmen. Regie führt Corinna Tetzel, zuletzt Assistentin an der Oper Frankfurt.Auch Gesangsprofessorinnen, Sprachcoach und Choreograf sind Teil des Teams der Internationalen Opernakademie und stehen während der gesamten Zeit in Einzelunterricht oder Ensembleproben begleitend und unterstützend zur Verfügung.
Die JMD bietet jungen Sänger/-innen, die am Ende ihres Studiums oder am Beginn einer professionellen Laufbahn stehen, die Möglichkeit, mit einem erstklassigen künstlerischen Team eine Partie zu erarbeiten und vor großem Publikum auf die Bühne zu bringen. Die Förderung internationaler Gesangstalente ist dabei nur ein Bestandteil eines umfassend gesteckten Rahmens der Akademie: als Opernorchester engagiert die JMD jeweils ein Jugendorchester von nationalem Rang, in diesem Jahr erneut das Bundesjugendorchester. Sonst mit überwiegend sinfonischen Konzertprogrammen auf Tour, ist dies für die jugendlichen Spitzenmusiker eine seltene Gelegenheit, das „Opernfach“ kennenzulernen und damit ihre musikalische Ausbildung um eine weitere wichtige Facette zu ergänzen. Für sie bedeutet ihre Mitwirkung in einer Opernproduktion auch die vielleicht ungewohnte Perspektive, vom Orchestergraben aus zu glänzen, statt selbst die Stars auf der Bühne zu sein – bei „Hänsel und Gretel“ hat zweifellos auch das Orchester eine Hauptrolle! Und auch ans Notenpult holt die JMD den Nachwuchs.
Hierfür kooperiert die JMD mit dem Dirigentenforum des Deutschen Musikrats: Zwei Stipendiaten übernehmen während der gesamten Probenzeit Aufgaben von der Korrepetition bis zur Dirigier-Assistenz. Der junge Dirigent Clemens Mohr aus Berlin ist einer von ihnen. Bei insgesamt neun Aufführungen im Schlosshof winkt ihm die Chance, einmal eine gesamte Vorstellung zu dirigieren. Auch Patrick Lange, der heute international gefragt und gefeiert ist und mit den großen Orchestern zusammenarbeitet, wurde seinerzeit durch das Dirigentenforum gefördert, als er 2007 als Assistenzdirigent in Weikersheim war. Nun wird er selbst alle musikalischen Akteure – auf der Bühne, im Orchestergraben oder am Dirigentenpult – zu Bestleistungen anleiten und motivieren. Vom künstlerischen Team der JMD auf höchstem Niveau einstudiert und zu Spitzenqualität herausgefordert, wachsen beim Nachwuchs zugleich Vertrauen und Teamgeist. Alle zusammen schaffen die unverwechselbare und begeisternde musikalische Lebendigkeit der Jungen Oper Schloss Weikersheim. „Hunger ist ein tolles Tier, beißt und kratzt, das glaube mir – rallallala, hopsasa“ – Die armseligen Verhältnisse der Hütte, aus der „Hänsel und Gretel“ stammen, und in der Vater und Mutter zwischen Resignation und dem traurigen Mut der Verzweiflung schwanken, stehen einem bereits während der ersten Proben lebendig vor Augen und Ohren. Vom 27. Juli bis 6. August werden rund 10.000 Zuschauer im Weikersheimer Schlosshof in Humperdincks Oper eintauchen.