Hauptbild
Auf dem Weg zum Abschlusskonzert. Foto: Felix Linsmeier
Auf dem Weg zum Abschlusskonzert. Foto: Felix Linsmeier
Banner Full-Size

Wir sind Musik – vom Zwang der Freiheit

Untertitel
Ein persönlicher Aufruf an die Generation Y · Von Virginia Flohr
Publikationsdatum
Body

Es ist ein wenig stickig im Keller und laut – die alten Steinmauern verstärken die Gespräche, die sich mit Lachen und blecherner Musik vermischen, und geben dem Gewölbe ein besonderes Ambiente. Im hinteren Teil sind die roten Polsterflächen bereits belegt, ein Pulk junger Menschen belagert gebannt die beiden Tischkicker. Eine weitere Menschentraube hat sich um das alte Klavier geschart, jemand klimpert irgendwas von Mozart gegen die Hits der 2000er an.

Es spielt immer jemand auf dem Klavier im Gewölbekeller der JMD, das ist ein Gesetz, paradoxerweise älter als die Musik-akademie Schloss Weikersheim, vielleicht sogar älter als die Menschheit. Musik macht süchtig – das ist ein weiteres ungeschriebenes Naturgesetz, dem wohl jeder Musiker beipflichtet.

Diese Abende im Jeunesses-Keller sind etwas Besonderes, ein neues Kapitel im Buch namens mu:v-Camp, genauer: das fünfte Kapitel, geschrieben im zehnten Jahr der Geschichte des Camps. Alle zwei Jahre kommt ein weiteres Kapitel dazu. Der Jeunesses-Keller ist eine Art Flucht aus der Realität, begleitet von Bier, Wein und Lachtränen, geprägt von schicksalhaften Tischkickerschlachten und tiefsinnigen Gesprächen in der Raucherecke unter sternenbedecktem Himmel. Der Keller ist ein Sehnsuchtsort für Musiker, in dem Teilnehmer und Dozenten einträchtig an der Bar sitzen. Es ist eine Realitätsflucht: vor dem Leistungsdruck der Schule, der Zukunftsangst der Studierenden, für einige auch vor Mobbing und Diskriminierung. Es ist ein magischer Ort, denn wo alle anders sind, ist „normal“ nicht mehr Durchschnitt. Und, geben wir es doch zu: wirklich „normal“ sind wir Musiker sowieso nicht.

Was den Keller so attraktiv macht, ist die Gemeinschaft, der geschützte Raum als Zufluchtsort und als Sphäre der Strukturlosigkeit, wo die Grenzen der Kategorisierungen verschwimmen. Die Anziehungskraft des mu:v-Camps auf die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ist ähnlich, aber anders. Es scheint ebenso ein Zufluchtsort zu sein, auf jeden Fall aber ein geschützter Ort zum Experimentieren. Zum Ausprobieren, um Neues zu lernen, ganz ungeniert. Denn es ist o.k., keine Ahnung zu haben, weil man keine nach herkömmlichen Methoden bewertete Leistung bringen muss. Es ist o.k., auch mal den falschen Ton zu treffen – aus vielen Misstönen kann auch eine ganz wundervolle Kakophonie entstehen. Man bekommt keine Note für den mu:v-Kurs, keinen Stempel aufgedrückt. Man gewinnt neue Erfahrungen, neue Freunde, neues Selbstbewusstsein – neues Wissen, abseits der ausgetretenen Erkenntnispfade. Das Programm ist vielseitig: DJing, Filmmusik, Musical und Handpan, aber auch Improvisation für Streichinstrumente, Beatboxing, Yoga oder das Arbeiten mit der Loopstation stehen auf dem Plan.

Das wirft die Frage auf: Warum ist diese Flucht nötig? Können die Musik(hoch)schulen und Musiktheater die musikalischen Bedürfnisse von Jugendlichen nicht bedienen? „Grundsätzlich soll die außerschulische musikalische Bildung Menschen jeden Alters Gelegenheit geben, musikalische Fähigkeiten und Fertigkeiten gemäß den eigenen Interessen zu entwickeln und in das kulturelle Leben einzubringen“, schreibt Michael Dartsch in seinem Text „Außerschulische musikalische Bildung“ des Deutschen Musikinformationszentrums. Die Realität sieht oft anders aus: fleißiges Lernen der Tonleitern bis hin zum Erbrechen enharmonischer Verwechslungen und „Für Elise“ in Dauerschleife (würde übrigens bestimmt wunderbar mit Loopstation funktionieren!). Wir beschränken uns selbst durch unsere Selbstdefinitionen, brandmarken uns als Klassiker, hervorgerufen durch die Kategorien der Musik(hoch)schulen, die eine klare Trennung von Klassik, Jazz und Rock/Pop propagieren.Wir beschränken uns selbst in unseren musikalischen Möglichkeiten. Es ist ein ewiges Wiederkäuen des immer gleichen Werkekanons, eine permanente Reproduktion des bereits Vorhandenen; doch ist das nicht die Definition von Wahnsinn, immer das gleiche zu tun und ein anderes Ergebnis zu erwarten?

„Man muss eben etwas spielen, was dem Publikum gefällt“ ist nichts weiter als eine feige Ausrede, wenn der Mut fehlt, etwas Neues zu wagen. Es gibt 131 öffentlich getragene Sinfonieorchester und 83 Musiktheater in Deutschland, doch dieser kulturelle Reichtum spiegelt sich leider nicht in ihren Programmen: Das musikalische Angebot scheint vielmehr so begrenzt zu sein, dass der Kinder- und Weihnachtsklassiker „Hänsel und Gretel“ von Humperdinck jedes Jahr per Copy und Paste seinen Weg in die Spielzeit findet. Da können auch keine schockierenden Inszenierungen den überstrapazierten Einsatz des Werkes relativieren. Ganz zu schweigen von Mozarts Zauberflöte, der gefühlt meistaufgeführten Oper der Welt. Ich liebe klassische Musik, aber die Hegemonie der Klassik in der Kunstwelt ist so Adorno.

Musik ist nicht nerdig und Klassik kein Synonym für verstaubt und langweilig. Doch wo sind die Visionäre, die Rebellen, die Patriotinnen? Wo die Vorbilder und Vorkämpfer? Steht auf, nicht für die Standing Ovations, sondern um etwas zu bewegen, die musikalische Welt zu gestalten. Meiner Generation wird fortwährend vorgeworfen, perspektiv- und mutlos zu sein, man nennt uns Generation Y und Generation Maybe. Wir sind keine Nachkriegsgeneration, die sich kaum erlaubt zu träumen, allenfalls eine Vorkriegsgeneration. Wir sind frei zu denken, frei zu entscheiden, frei zu handeln. Wir haben alle Möglichkeiten der Welt und sind gezwungen, diese voll auszuschöpfen; Perfektion ist das höchste Ziel, Scheitern keine Option. Wir sind gezwungen, frei zu sein. Kunst ist kein elitäres Vorrecht: Kunst ist das, was wir daraus machen. Aber der Nachwuchs flüchtet, ins mu:v-Camp und in den Keller der JMD. Das, was wir hier erleben, sollten wir anschließend in die Welt tragen. Nicht nur die Institutionen sind in der Pflicht, etwas zu verändern: Es liegt auch in unserer Verantwortung, unseren Schutzbunker zu verlassen. Unsere Via Regia heißt Partizipation, und das beinhaltet auch Mut zum Risiko und die Freiheit zu scheitern. Das mu:v-Camp vermittelt uns fünf Tage lang diese Ideen. Es ist an uns, danach aus dem Keller ins gleißende Scheinwerferlicht zu treten und unsere Zukunft zu gestalten. mu:v, eine Initiative von und für junge Musikbegeisterte, ist da ein Anfang, der zeigt, wie vielfältig und konspirativ Musik sein kann. Es ist an uns, die Tristesse der kulturellen Landschaft zu durchbrechen, zu erleuchten oder besser: zum Klingen zu bringen. 

Print-Rubriken
Unterrubrik