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Musikwelten NRW

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Eine Studie zu den musikalischen Szenen der Einwanderer
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Einwanderer stellen mittlerweile ein Viertel aller Bewohner Nordrhein-Westfalens. Fragen nach den musikalischen Interessen der Migranten beschäftigen zunehmend auch diejenigen, die mit vielfältigen Formen von Musikvermittlung zu tun haben wie Musiklehrer und ihre Institutionen, Spielstätten wie die Philharmonien und Clubs sowie Medien in Form von Plattenfirmen, Zeitungen und Rundfunkstationen. Ausdruck einer zunehmenden Bewusstwerdung dieser Entwicklung ist auch die Studie „Musikwelten NRW – Kulturen der Einwanderer“, die der Landesmusikrat NRW in Auftrag gab.

Sie vermittelt einen ersten konkreten Einblick in eine Vielzahl von Musikformen, die mit den Einwanderern nach Nordrhein-Westfalen gelangten und von ihnen getragen werden. Gespräche mit mehr als einhundert Laienmusikern, aber auch international erfahrenen Künstlern aus 25 Nationen dokumentieren ein vielschichtiges Musikleben, dessen Zugang sich für Außenstehende durch den meist informellen Charakter der Musikausübung oft verschließt.

Vor allem Laienmusiker halten an den Musiktraditionen ihrer ehemaligen Herkunftsländer fest. Sie bietet den Migranten ein Stück Vertrautheit und Sicherheit in einer fremden Umgebung, denn Migration entspringt meist einer als unerträglich wahrgenommenen politischen oder ökonomischen Notlage. Angestammte Melodien und Tonfolgen, vertraute Rhythmen und Tänze betonen einen bewahrenden Charakter der Musik in der Diaspora.

Der Stellenwert, dem diese Zuwendung zur eigenen Musikkultur zukommt, kann höchst unterschiedlich sein: Für manche Laienmusiker sind die wöchentlichen Proben der einzige Ort, an dem sie sich überhaupt noch in ihrer Muttersprache ausdrücken, dieses wichtige Stück ihrer bikulturellen Identität überhaupt noch realisieren können. Die traditionsreichste Migrantengruppe der Neuzeit stellen in Nordrhein-Westfalen die Polen. Diese mehr als 130-jährige Migrationsgeschichte drückt jedoch keine ungebrochene Tradition aus, sie verlief höchst wechselhaft. Die heutige Situation ist geprägt von den etwa 1,5 Millionen Menschen, die gegen Ende des Kalten Krieges in den 1980er-Jahren aus Polen einwanderten. Sie füllten auch die Kirchen der „Polnischen Katholischen Mission“ und ihre Sangesgemeinschaften traten an die Stelle der alten polnischen Traditionschöre.

Manchmal lösen berühmte Musiker eine Wanderbewegung in eine bestimmte Region aus, wie der ghanaische Masterdrummer und Tänzer Mustapha Tettey Addy belegt. 1972 startete er von Düsseldorf aus eine internationale Karriere und noch heute leben 20 Prozent aller Ghanaer von NRW in der Landeshauptstadt, unter ihnen finden sich auffallend viele Musiker und Tänzer. Die Kongolesen bilden eine ähnlich große Gemeinschaft, doch ihr unsicherer Aufenthaltsstatus als Flüchtlinge verhindert ein nachhaltiges künstlerisches Engagement.

Inder und Iraner sind sehr gebildete Einwanderergruppen, deren Akademikeranteil mehr als doppelt so hoch ist wie der der deutschstämmigen Bevölkerung. Während die Konzerte von Künstlern aus dem Iran in NRW bis zu 2.000 Menschen vorwiegend iranischer Herkunft anziehen, werden die Konzerte indischer Künstler von einem überwiegend deutschstämmigen Publikum frequentiert, denn es gibt in der indischen Gesellschaft keinen engen Zusammenhang zwischen einer hohen schulischen Bildung und der musikalischen Hochkultur. Schon diese Beispiele empfehlen eine kritische Distanz gegenüber schnellen Verallgemeinerungen.

In NRW lebt ein Drittel aller türkischstämmigen Einwohner Deutschlands. Die türkischen Migranten nahmen ihre Musikausbildung selbst in die Hand und füllten damit ein Vakuum, das durch die Passivität der Aufnahmegesellschaft entstand. Das Engagement vor allem der alevitischen Kulturvereine stellt die größte musikalische Initiative von Einwanderern in diesem Bundesland dar. Bislang brachte dieses weitgehend selbst organisierte türkische Musikleben allerdings nur wenig kreatives Potential hervor wie etwa herausragende Instrumentalisten und Ensembles oder eine anspruchsvolle Modernisierung der Traditionen.

Düsseldorf beherbergt die drittgrößte japanische Gemeinschaft Europas. Die starke Fluktuation der Mitarbeiter japanischer Firmen verhindert ein vitales Musikleben. Dennoch initiierten einige Taiko-Aufführungen in Düsseldorf eine japanische Musikwelle, die vor allem von deutschen Laienmusikern getragen wird: Mindestens sieben bis acht Taiko-Bands existieren in und um Düsseldorf.

Eine ähnliche Verselbstständigung der Musiktraditionen von der ehemaligen Trägerkultur finden wir vor allem im Klezmer-Revival, das sich bei uns in den 90er-Jahren ausbreitete. Die Ensembles rekrutierten sich im Wesentlichen aus nicht-jüdischen Musikern. Das Revival vollzog sich also unabhängig von den jüdischen Migranten, die zur gleichen Zeit als Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion ins Land kamen, die aber ihre traditionelle Kultur weitgehend verloren hatten. Viele dieser jüdischen Kontingentflüchtlinge strandeten trotz ihrer exzellenten Ausbildung im deutschen Musiksystem.

Die Einwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion brachte auch mehr als zwei Millionen Russlanddeutsche ins Land. Dieser Begriff sollte nicht darüber hinweg täuschen, dass diese Einwanderer in einer überwiegend russischen Kultur aufwuchsen. Es entstanden Ensembles, die russische Folklore auf Volksmusikinstrumenten wie Domra, Balalaika, Gusli und Bajan präsentieren. Viele Chöre haben sowohl russische Lieder im Repertoire als auch Lieder der ehemaligen deutschen Wolgarepublik. In einigen Städten gründeten jüdische und deutsch-russische Musikinteressierte „Bardenclubs“, in denen russischsprachige Liedermacher ihre neuen Stücke vorstellen.

Alljährlich findet im August in Wuppertal ein bundesweites Bardentreffen statt, zu dem jeweils etwa 1.000 Besucher anreisen.
Zwischen dem Beharrungsvermögen ethnischer Kulturen und ihrer außerordentlichen Innovationsfähigkeit reicht das Spektrum einer vielfältigen ethnischen Musikkultur, die sich fast unbemerkt etablierte. Die „Musikwelten NRW“ konkretisieren ein schillerndes Spektrum dieser „Migrationsmusik“.

Birger Gesthuisen: „Musikwelten NRW – Kulturen der Einwanderer“, erschienen im Essener Klartext-Verlag. 340 Seiten und CD mit 29 Musikbeispielen. Preis: 19,95 €

 

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