Zahllose Untersuchungen, Berichte und Kommentare weisen auf die Bedeutung von Volksliedern hin. Aber: Wer kennt diese Lieder noch? Wer singt sie? Und: Wer gibt sie weiter? Die Idee zu dem Kurs „Lieder, die nicht sterben dürfen“ entstand nicht nur aus diesen gesellschaftspolitischen Fragen, sondern auch, weil die Mitglieder des Verbandes AMJ die alten Lieder einfach mögen und erschrocken waren, wie viele, vor allem jüngere Menschen sie weder kennen noch singen können.
Bereits zum vierten Mal veranstaltete der AMJ daher einen Kurs zu diesem Thema. Es ist an der Zeit, Erfahrungen auszuwerten: In Kindergärten und Grundschulklassen wird häufig lieber „My bonny is over the ocean“ und „Meine Tante aus Marokko“ gesungen. Natürlich haben wir nichts gegen diese Lieder, die selbstverständlich ihren Platz neben allen anderen neuen Liedern haben. Doch die Schatzsuche bringt auch immer wieder verborgene und vergessene Volkslieder zum Vorschein. Durch Kurse wie „Lieder, die nicht sterben dürfen“ werden diese wieder zum Leben erweckt. Denn: Wenn wir diese Lieder nicht jetzt singend weitergeben, werden sie in zwei Generationen oder sogar noch früher verschwunden sein. Die Teilnehmenden aus den Volkslied-Kursen setzen sich aus mehreren Generationen zusammen. Viele ältere Menschen können noch die zweite und dritte Strophe der Volkslieder auswendig.
Die 68er-Generation rümpfte oftmals die Nase über Volkslieder („Ach ja, das Lied vom Mond, der aufgegangen ist, kommt mir irgendwie bekannt vor“), waren doch zahlreiche Lieder durch das Regime im Dritten Reich missbraucht worden. Eine gebrochene Tradition, mit der wir leben! Engländer, Schweden, Italiener, Spanier, Franzosen et cetera schauen uns manches Mal verständnislos an, wenn es heißt: „Singt doch auch mal ein Lied aus eurem Land!“ Verlegene Blicke werden ausgetauscht. Und wir Norddeutschen bekommen vielleicht gerade die ersten Zeilen von: „Ick heff mol’n Hamburger Veermaster sehn“ hin…
Inzwischen sind die Teilnehmer dieser Volkslied-Kurse sehr gemischt. Großeltern, Lehrer/-innen, Chorsänger/-innen, Mütter, Väter, Menschen in sozialen Berufen, Musiker, doch leider wenig Studierende oder Erzieher/-innen in Ausbildung. Ein Fünftel der Teilnehmenden sind Männer, auch wenn einer davon zugab, nur „mitgeschleppt“ worden zu sein. Bei allen anderen jedoch bestand die Motivation, diesen Kurs zu besuchen, aus Neugier und dem Wunsch, Melodien und Texte wieder aufzufrischen und „einfach mal wieder zu singen“.
Die Mischung der circa 45 ausgesuchten Lieder ging von bekannten Liedern („Ach, ja, kenn ich, aber mit Mühe nur die erste Strophe“) über vergessene („Das hat meine Mutter mir immer vorgesungen“) bis hin zu unbekannten Kostbarkeiten („Ich wusste ja gar nicht, wie schön die sind“).
Vieles eröffnet sich völlig neu beim Singen dieser Lieder: Wir entdecken beispielsweise, welch großer schöner Melodienbogen durch eine Quinte am Anfang eines Liedes entsteht (bei „Nach grüner Farb‘ mein Herz verlangt“ oder bei „So treiben wir den Winter aus“ sowie „Es geht eine dunkle Wolk` herein“). Die Teilnehmenden entdecken hier auch Melodie-Verwandtschaften und die dennoch ganz verschiedenen Aussagen in den Texten. Wir erspüren beim Singen des Liedes „Wie schön blüht uns der Maien“, dass das Lied viel zu schnell aufhört und um zwei Takte verlängert erst vollständig wäre.
Die Teilnehmenden erhalten aber auch viele (Neu-)Informationen zu den Textdichtern. Viele wissen, dass Hoffmann von Fallersleben den Text für das Deutschlandlied geliefert hat. Wer jedoch weiß, dass er auch den Text für eine große Zahl von Volks- und Kinderliedern schrieb? „Der Kuckuck und der Esel“, „Muss i denn zum Städele hinaus“, „Summ, summ, summ“, „Alle Vögel sind schon da“ und viele andere Liedtexte schrieb Hoffmann von Fallersleben, während er als politisch Verfolgter im Exil lebte. So entsteht eine andere Aussage, wenn bei dem Volkslied „Kuckuck ruft‘s aus dem Wald“ die Zeile „Frühling wird es nun bald!“ nicht nur den Frühling als willkommene Jahreszeit begrüßt, sondern auch Hoffnung in die neuen Bürgerrechte in Deutschland setzt. Die Suche nach versteckten Symbolen in den Volksliedern, wie etwa Rose, Brunnen, Morgenröte, Nachtigall, Schwan, Perlen und Hirsch lässt uns die Lieder mit einem tiefen Sinn für Erkenntnis, Gefühl und alten Bildern in uns singen.
Alle Teilnehmer erhalten zusätzlich auch einen Einblick in die musikalische Struktur der Volkslieder. Kleine rhythmische Veränderungen sorgen dafür, dass etwa die Melodie von „Ward ein Blümchen mir geschenket“ zur geglätteten Form von „Taler, Taler, du musst wandern“ wird. So „ausgestattet“ werden die Volkslieder nicht nur gesungen und aufgefrischt, sondern bekommen den Platz, der ihnen gebührt. Dass eine doch immer größer werdende Zahl von Menschen diesen wichtigen Platz im Herzen spürt, mag ein Jubiläums-Konzert der Kölner Kantorei unter der Leitung von Volker Hempfling zeigen. Als im letzten Teil des Programms Volkslieder aus der „Loreley“ in neuen Chorsätzen erklangen, hatte das Publikum Tränen in den Augen.
Der AMJ wird im nächsten Jahr das Kinder- und Jugendchorfestival EUROTREFF mit dem Thema „Europäisches Volkslied“ veranstalten. Zahlreiche internationale Referenten bringen Lieder aus ihrer Heimat mit. Und die deutschen Workshopleiter werden mit den teilnehmenden Jugendlichen deutsche Volkslieder im modernen Gewand einstudieren. So wird ein wichtiges Thema, das Weitergeben von Volksliedern, im Miteinander gepflegt.