Der Deutsche Musikrat begrüßt den bildungspolitischen Willen, das System Ganztagsschule (in der gebundenen, halboffenen oder offenen Form) einzuführen.
Diese Bestrebungen sind zu sehen vor dem Hintergrund des in den letzten Jahrzehnten eingetretenen gesellschaftlichen Wandels (Veränderung der ökonomischen Rahmenbedingungen, der Arbeitsmarktsituation, des sozialen Gefüges, der zunehmenden kulturellen Vielfalt in der Bundesrepublik Deutschland).
Diese gesellschaftlichen Veränderungen wird auch die „Schule“ in Rechnung stellen müssen. Das heißt, das System allgemein bildende Schule wird sich zunehmend intensiver im Hinblick auf eine komplexer gewordene Gesellschaft in differenzierter Form öffnen müssen. Die „Bildungspolitik“ hat Konsequenzen aus diesen Veränderungen unter anderem in der Weise gezogen, dass sie erneut die Ganztagsschule (in den zuvor erwähnten Formen) in die öffentliche Diskussion eingebracht hat.
Für „Musik in der Schule“ bedeutet dieses beispielsweise, dass die gesamte vielgestaltige Breite der in unserer Gesellschaft vorhandenen musikalischen Praxen auch in der Schule ihren Ort haben muss und dass sie ein Moment ist, an der die Qualität von Schule überhaupt gemessen wird. Denn die in der musikalischen Praxis und Reflexion von den Schülerinnen und Schülern zu gewinnenden Fertigkeiten und Einsichten entscheiden über deren Bild in unserer Gesellschaft und überschreiten, wie wir inzwischen genauer wissen, den Bereich des „Nur-Musikalischen“. Insofern gewinnt auch der Begriff der „musikalischen Bildung“ einen ganz neuen Inhalt.
Aber nicht allein für das System der allgemein bildenden Schule und die darin verortete Musik zeichnen sich grundlegende Veränderungen ab. Die Ganztagsschule wird neue Lern- und Lehrformen in das System Schule einbringen unter anderem auch dadurch, dass bisher in der Schule nicht vertretene, jedoch unabdingbar notwendige ästhetische und pädagogische Perspektiven durch die Einbeziehung von unterschiedlichen Kooperationspartnern zur Geltung kommen. In diesem Zusammenhang ist nicht nur an eine Kooperation mit den Musikschulen gedacht, sondern auch an freie und institutionelle Partner aus der gegenwärtigen kulturellen Szene: Theater, Orchester, Chöre, Kirchen, Kulturbüros, Rundfunk und Fernsehen sowie freie Musikgruppen und Vereine bieten ein bisher nicht einbezogenes breites und perspektivenreiches Angebot für eine Zusammenarbeit in der Schule. Mit den im Rahmen der Ganztagsschule ermöglichten neuen Lern- und Lehrformen verbindet sich andererseits gerade auch für Schülerinnen und Schüler ein bisher nicht ausgeschöpftes Erfahrungsspektrum. Denn außerschu- lisch geprägter Umgang mit Musik bildet ein notwendiges Pendant zum musikbezogenen Lernen in der Schule.
Leitperspektiven
Der DMR ist der Auffassung, dass die gebundene Form der Ganztagsschule durch die spezifische Form ihrer Struktur und Organisation (Variabilität des Zeitbudgets, Rhythmisierung des Schulalltags, erhöhte Flexibilität und Planungssicherheit bei musikalischen Projekten) besonders gut die ihr zugedachten musikpädagogischen Aufgaben erfüllen kann. Der DMR hat seinem Kongress „Musik in der Ganztagsschule“ vom 20. bis 22. Mai 2004 in Königstein folgende Leitperspektiven entwickelt, die es in der Entwicklung von Kooperationen mit außerschulischen Partnern zu berücksichtigen gilt. Diese angesteuerten Kooperationen können nicht in der Weise realisiert werden, dass der schulische Musiklehrer durch außerschulische Kooperationspartner beziehungsweise der Musikunterricht durch Instrumentalunterricht (der durchaus „ein“ Instrument des Musikunterrichts sein kann) ersetzt wird.
1. Nachhaltigkeit
Kooperationen können nicht darauf hinauslaufen, dass einzelne Highlights präsentiert werden, die Eventcharakter tragen, aber in ihrer Wirkung äußerst begrenzt sind. Vielmehr geht es darum, dass durch Kooperationen Projekte entstehen, die auf eine längerfristige Wirkung für „Musik in der Schule“ und damit auch auf das Leben der betreffenden Schule insgesamt zielen.
2. Kontinuität
Kontinuität ist ein entscheidendes Moment der Bildung von nachhaltigen musikpädagogischen Maßnahmen, die darauf abzielen, in den Kindern und Jugendlichen ein vielgestaltiges Bild von musikbezogener Erfahrung zu entwickeln und damit einen entscheidenden Beitrag zu einer neuformulierten musikalischen Bildung zu leisten.
3. Qualitätsstandards
Qualitätsstandards können nicht von außen dekretiert werden, sondern müssen von den unterschiedlichen Partnern gemeinsam entwickelt werden. Sie orientieren sich entscheidend an der gesellschaftlichen Musikpraxis unserer Zeit und leisten damit ihren substanziellen Beitrag zu einem sinnvollem und verantworteten Umgang der Schülerinnen und Schüler mit Musik in ihrer ganzen Breite.
4. Integrative Formen der Kooperationen
Musikalisch-ästhetisches Lernen und Arbeiten zielt in gleichem Maße auf die Ausbildung von Handlungsfähigkeit und Reflexion. Ihre Mehrgestaltigkeit erzwingt ein kooperatives Handeln aller an den schulischen Erziehungsprozessen beteiligten Partner. Es lassen sich eine additive und eine integrative Form denken. Der DMR votiert für eine im Regelfall integrative Kooperation, die die Notwendigkeit der Mehrgestaltigkeit sicherstellt.
5. Entwicklung von Rahmenvereinbarungen
Kooperationen bedürfen in jedem Fall eines inhaltlichen und institutionellen Rahmens. Dieser ist in Absprache der Kooperationspartner untereinander herzustellen. Dabei ist daran festzuhalten, dass Spannungen zwischen den außerschulischen Musikpraxen und der Schule als Lernort für Schülerinnen und Schüler miteinander in Übereinstimmung gebracht werden. Diese Rahmenvereinbarungen müssen enthalten: Maßnahmen zur Absicherung der beteiligten Personen, insbe- sondere aber auch Garantien im Hinblick auf die Schülerinnen und Schüler für die Sicherstellung einer kontinuierlichen kooperativen Arbeit sowie Aufgaben, Formen der Zusammenarbeit (hier insbesondere der Raumbelegungen und der vereinbarten Zeiträume), Pflichten und Rechte der beteiligten Personen und Institutionen.
6. Vernetzung von Initiativen
Die stärkere Einbindung von gesellschaftlichen Musikpraxen in die Ganztagsschule einerseits und die Öffnung der Schule in Richtung auf die daran beteiligten Partner andererseits macht eine Vernetzung aller Aktivitäten sowohl zwischen der Schule – als musikbezogener Lernort – und der an der musikpädagogisch verantworteten Ausgestaltung dieses Lernortes (mit-) wirkenden Partner, aber auch der Partner untereinander sinnvoll und erforderlich. Hierbei lassen sich unterschiedliche Formen der Netzwerkbildung denken: kontinuierliche Arbeitskreise, Koordinatoren oder Internet-Portale. Aufgerufen für die Netzwerkbildung sind die Schulen selbst, die Schulverwaltungen, die Verbände und Vereine.
7. Konsequenzen für die Aus-, Fort- und Weiterbildung
Von den angestrebten Kooperationen, von gemeinsam erstellten Rahmenvereinbarungen und von der Vernetzung unterschiedlicher Ebenen und Niveaus her gesehen, kann die Ausbildung der Musiklehrerinnen und -lehrer nicht unberührt bleiben. Auch müssen zentrale wie dezentrale Fortbildungsveranstaltungen für bereits in der Schule Lehrende der veränderten Schulstruktur gerecht werden.
Darüber hinaus sind auch an Weiterbildungsmaßnahmen für jene Personenkreise zu denken, die von außen in die Ganztagsschule hineinkommen und mit deren Struktur, ihrer spezifischen Form sowie der unterrichtlichen und außerunterrichtlichen Organisation und deren Aktivitäten ursprünglich nicht vertraut sind.