Das eigentlich Überraschende an PISA-E ist die Tatsache, wie viele Fachleute und Politiker/-innen sich überrascht von den Ergebnissen zeigen. Denn wenn Deutschland – so wie inzwischen hinreichend bekannt – bei der internationalen Studie vom Dezember 2001 insgesamt schlecht abschneidet, dann wird die nationale Ergänzungsstudie kaum bessere Ergebnisse aufweisen können. Ja, mehr noch: Jedes Bundesland, das den Sprung über den 500 Punkte-OECD-Durchschnitt geschafft hat, muss notwendigerweise durch ein noch schlechteres Ergebnis eines anderen Bundeslandes kompensiert werden. Adorno hat wohl auch hier Recht: Im Schlechten kann es kein Gutes geben. Doch, sagen jetzt viele. Bayern und Baden-Württemberg haben es geschafft.
Das eigentlich Überraschende an PISA-E ist die Tatsache, wie viele Fachleute und Politiker/-innen sich überrascht von den Ergebnissen zeigen. Denn wenn Deutschland – so wie inzwischen hinreichend bekannt – bei der internationalen Studie vom Dezember 2001 insgesamt schlecht abschneidet, dann wird die nationale Ergänzungsstudie kaum bessere Ergebnisse aufweisen können. Ja, mehr noch: Jedes Bundesland, das den Sprung über den 500 Punkte-OECD-Durchschnitt geschafft hat, muss notwendigerweise durch ein noch schlechteres Ergebnis eines anderen Bundeslandes kompensiert werden. Adorno hat wohl auch hier Recht: Im Schlechten kann es kein Gutes geben. Doch, sagen jetzt viele. Bayern und Baden-Württemberg haben es geschafft. Tatsache ist, dass Baden-Württemberg gerade mal den 500-Punkte-Durchschnitt erreicht hat und Bayern mit 510 Punkten (bei der Leseleistung) auf Platz 10, also im oberen Mittelfeld liegt. Doch um welchen Preis ist das in Bayern gelungen? Inzwischen war es vielfach nachzulesen und zu hören: In keinem anderen Bundesland ist es für Kinder unterer sozialer Schichten so schwer, zum Abitur zu kommen. Kein anderes Bundesland betreibt eine so straffe Selektion mit dem Ergebnis, dass die eigenen Bildungseinrichtungen noch nicht einmal den eigenen Bedarf an Hochschulabsolventen decken können.Der PISA-Bericht spricht in diesem Zusammenhang von „struktureller Demütigung“, also von systembedingter Ausgrenzung, sogar von Ausschluss von Zukunftschancen. „Zukunftsdiebstahl“ nennt daher das Bundesjugendkuratorium, immerhin das oberste jugendpolitische Beratungsgremium der Bundesregierung, das, was das deutsche Bildungswesen an den Schüler/- innen betreibt. Damit wird etwa erfasst, dass Deutschland Weltmeister in der Auslese ist, dass ein hoher Prozentsatz der Schüler/-innen die Schule ohne Abschluss verlässt, dass nahezu unglaubliche Verzögerungen in der Schullaufbahn durch Rückstellung, Sitzenbleiben oder verschobene Einschulung geschehen und – wie in keinem anderen Land – die soziale Herkunft den Schulerfolg so bestimmt, wie dies in Deutschland geschieht. PISA-E unterlegt nachhaltig mit Zahlen, wie sehr unser Bildungswesen bestimmte Schülergruppen diskriminiert. Von Chancengleichheit, immerhin oberstes bildungspolitisches Ziel der OECD, die diese Studien verantwortet, kann insgesamt keine Rede sein. In dieser Bewertung sind sich die meisten einig.
Hier hört jedoch die Einigkeit oft schon auf. Es ist ausgesprochen bedauerlich, dass die PISA-Diskussion in den Wahlkampf fiel.
Das hatte zur Folge, dass selbst ruhige und sachverständige Politiker/-innen der Verführung nicht widerstehen konnten, einzelne, aus dem komplizierten Zusammenhang gerissene PISA-Aussagen als Wahlkampfmunition zu nutzen. Dabei sind beide Studien – PISA und PISA-E – alles andere als tauglich für Hauruck-Argumentationen. Es sind vielmehr die besten Flächenuntersuchungen, die bislang im Bildungswesen durchgeführt wurden, so dass es sich lohnt, sich mit ihren Anlagen gründlich auseinanderzusetzen. Diese sind jedoch so komplex, dass einfache Kausalzusammenhänge nicht zu finden sind. Zumal, so werden die Autoren der Studie nie müde hervorzuheben, es eine Bestandsaufnahme und keine Ursachenanalyse ist. Die einfache Argumentation verbietet sich jedoch auch bei vielen, die glauben, kleinere Klassen und bessere Besoldung alleine wären der Schlüssel zum Besseren: Die Länder mit den schlechtesten Ergebnissen sind zugleich diejenigen mit den günstigsten Lehrer-Schüler-Relationen. Das Schlusslicht Bremen hat zudem die beste Lehrerbesoldung. Genaueres Hinsehen ist also gefragt.
Basiskonzept von PISA ist ein funktionales Verständnis von Bildung: „Bildung“ im Sinne von PISA ist alltagstaugliches Wissen, ist ein Wissen, das sich bei alltäglichen Problemlösungen bewähren soll. „Skills for Life“ heißt daher folgerichtig und programmatisch die internationale Studie.
Bezogen auf Mathematik klingt das so: „Mathematische Grundbildung wird als die Fähigkeit einer Person definiert, die Rolle zu erkennen und zu verstehen, die die Mathematik in der Welt spielt, fundierte mathematische Urteile abzugeben und sich auf eine Weise mit der Mathematik zu befassen, die den Anforderungen des gegenwärtigen und künftigen Lebens dieser Person als konstruktivem, engagiertem und reflektierendem Bürger entspricht.“ (PISA 2000, Zusammenfassung, S. 25).
„Der konstruktive, engagierte und reflektierende Bürger“ – den muss jeder wollen. An dieser Stelle kann man aber auch einhaken: Welche Kompetenzen braucht ein solcher Mensch? Unbestritten ist die Notwendigkeit von Lesekompetenz, da diese die zentrale Schlüsselkompetenz für alle anderen Kompetenzfelder ist. Doch jedes andere Wissensgebiet, auch Mathematik und Naturwissenschaften, muss sich der Konkurrenz stellen mit Kompetenzanforderungen in sozialen und politischen Feldern, mit der Notwendigkeit einer praktischen, ästhetischen oder moralischen Aneignung von Welt.
Wo bleibt etwa die Medienkompetenz in unserer von Medien bestimmten Welt? Die derzeitige Bildungspolitik tut oft so, als ob PISA nicht nur ein exzellentes Messprogramm im Hinblick auf bestimmte Wissensformen wäre, sondern gleichzeitig das jahrhundertealte Kanonproblem gelöst hätte, die Frage also, was der Mensch insgesamt an Wissen und Kompetenzen braucht. Dabei haben nicht etwa philosophische oder pädagogische Grundüberlegungen, sondern vielmehr nachvollziehbare pragmatische Erwägungen auf OECD-Ebene zu der dann ausgewählten Fächerkombination geführt: Parallele Studien, etwa zur politischen Bildung, die man nicht durch PISA verdoppeln wollte („civic education“), haben zum Ausschluss politischer Bildung aus dem Prüfbereich geführt.
Vor allem aber waren es die Vorerfahrungen in der Messmethodologie in den internationalen TIMSS-Studien (bei denen es auch um Mathematik und Naturwissenschaften ging). Spätestens Erfurt zeigt jedoch, dass Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften nicht genügen (was die PISA-Autoren selbst auch nicht behaupten).
So hätten die Piloten vom 11. September in New York den PISA-Test gut bestanden, denn ohne Mathematik, Naturwissenschaften und Lesekompetenz kann man kein Flugzeug fliegen.
Es muss also etwas Entscheidendes dazukommen, soll der „konstruktive, engagierte und reflektierende Bürger“ entstehen. Wieso fällt dann der Schulpolitik die Einsicht so schwer, dass Bildung mehr ist als Schule, dass Bildung mehr ist als Wissen, dass Bildung überall stattfindet: in der Familie, im Jugendclub, in den Medien, in den Jugend- und Kultureinrichtungen, dass Bildung daher eine Vielzahl an Bildungsorten, Anlässen und Methoden braucht?
Wieso fällt die Einsicht so schwer, dass „Bildung“ mehr ist als messbares Wissen, auch wenn die Messmethode und das Wissenskonzept noch so ausgeklügelt sind? Der Mensch muss wissen, zweifellos. Und sicherlich ist man bei der Vermittlung von Wissen im Kernbereich der Aufgaben von Schule.
>>> in der nmz 12/02-01/03