„Singen ist in: Etwa vier Millionen Menschen über 14 Jahre singen nach Angaben des Deutschen Musikinformationszentrums hierzulande in Gesangsgruppen und Chören. Dabei macht das Singen nicht nur Spaß, sondern wirkt sich auch positiv auf die psychische und körperliche Gesundheit aus.“ So hieß es vor genau einem Jahr auf tagesschau24.1 Inzwischen gilt gemeinsames Singen als riskant, die Gelegenheiten dazu sind selten geworden – Anlass für eine Bestandsaufnahme. Sechs bayerische Musikerinnen und Musiker tauschten sich am 6. November in einer Videokonferenz darüber aus, was es heißt, in Corona-Zeiten einen Chor zu leiten.
Gabriele Puffer: Wie habt ihr, wie haben Sie das letzte Dreivierteljahr erlebt? Wie fühlt es sich jetzt gerade an, Chöre zu leiten oder im Chor zu singen?
Andreas Ernst: Ich bin Schulmusiker an einem Gymnasium, habe dort einen Kammerchor, der schon international ausgezeichnet worden ist, einen normalen Chor und Chorklassen. Mein Erwachsenenchor „lehra und mehra“ ist Kulturpreisträger des Regierungsbezirks Oberpfalz. Ich bin jetzt 20 Jahre in der Schule, und alles, was ich aufgebaut habe, bricht gerade komplett weg. Ich habe viel versucht, virtuelle Chorprojekte gemacht, mit den Kindern gesungen, sobald es wieder möglich war. Wir hatten alle Fenster offen, wir haben Masken aufgesetzt. Dann wurde ein Mädchen positiv auf Corona getestet, das auch in einer Chorprobe anwesend war. Es hat sich niemand angesteckt, aber daraufhin wurden alle Chorklassen aufgelöst. Das ganze Projekt, aus dem der Nachwuchs für den Schulchor kommt, wurde aufgelöst. Letztes Jahr hatte ich 110 Schüler im Schulchor, am Schuljahresanfang kamen noch 10, und dann wurde das klassenübergreifende Proben untersagt. Das ist der aktuelle Stand.
Mit meinem Erwachsenenchor habe ich jetzt gerade zum dritten Mal begonnen zu proben und musste wieder aufhören. Jetzt brechen auch da die Leute weg. Wir hatten ein Weihnachtskonzert geplant, aber das ist jetzt natürlich auch nicht mehr machbar. Die Frustration ist groß.
„Wir müssen Gott sei Dank proben“
Andrea Görgner: Ich bin auch Schulmusikerin und leite seit vielen Jahren einen sehr guten Konzertchor und einen „normalen“ Chor an einem musischen Gymnasium. Im März hatten wir ein großes Chorprojekt mit 180 Schülern, und am Tag vor der Generalprobe wurde gesagt: Das darf nicht stattfinden. Das war natürlich ein Drama, wir waren alle vollkommen frustriert. Online-Chorproben haben nicht so viel hergegeben, dass es wirklich befriedigend gewesen wäre. Wir haben dann ein Chorstück, das wir eigentlich beim Frühjahrskonzert machen wollten, aus Einzelparts zusammengeschnitten, damit wir zumindest irgendein Ergebnis haben.
Und jetzt im neuen Schuljahr dürfen wir mit unseren Chören proben. Das ist unser Schulprofil, wir müssen das Gott sei Dank machen, und unser Schulleiter ist dafür offen. Wir haben aber keine großen Räume. Deshalb proben wir in der Turnhalle, verteilt mit 30 Leuten. Die Akustik ist suboptimal, und der E-Piano-Sound regt die Befindlichkeit auch nicht unbedingt an.
Kinderchor online
Mario Frei: Ich habe drei Wochen vor dem Lockdown in Bamberg einen Chor für Jugendliche und Erwachsene gegründet. Ansonsten leite ich den Kinderchor des Fränkischen Sängerbunds, das ist ein überregionaler Auswahl- und Projektchor. Wir arbeiten in einem größeren Team mit drei Betreuungspersonen, einem Pianisten und zwei Stimmbildnerinnen. Normalerweise treffen wir uns sechsmal im Jahr zu Probenwochenenden in Jugendherbergen. Am 13. März hätte das zweite Wochenende beginnen sollen, am 12. haben wir es abgesagt. Im Mai hat sich dann das Team zusammengesetzt und überlegt, wie wir weiter verfahren. Wir haben dann relativ kurzfristig Online-Proben auf die Beine gestellt, zwischen Mitte Juni und Ende Juli ein neues Stück gelernt und damit ein Split Screen-Video gedreht. Dabei haben wir aber gemerkt: Es ist für die Kinder schon viel, erst Online-Unterricht, und dann sollen sie sich auch noch außerhalb der Schule vor den Rechner setzen, um Musik zu machen. Manchmal sind wir auch daran gescheitert, dass es in Franken an einigen Orten keine gute Internet-Verbindung gibt.
Aktuell ist es so, dass wir weiter online proben, immer Freitagnachmittag von 15 bis 18.30 Uhr. Ich arbeite dann mit vier Einzelgruppen jeweils eine Dreiviertelstunde, und danach kann man mich zusammenkehren. Gerade die neuen Kinder sind noch überfordert, wenn wir drei- oder vierstimmig singen. Die bräuchten jetzt eine Präsenzphase, um sich zurechtzufinden. Wie schaut das Notenblatt aus? Wo ist meine Stimme? Was muss ich singen? – In unserem Chor singen Kinder und Jugendliche zwischen 9 und 17 Jahren. Die Älteren langweilen sich, und die Jüngeren kommen teilweise beim normalen Probentempo noch nicht mit. Wir haben normalerweise ein Mentorenprogramm, bei dem erfahrene Kinder die Neuankömmlinge unterstützen und ihnen alles erklären. Das fällt jetzt auch weg.
Wir teilen nach den Herbstferien die Gruppen nochmal neu ein in Jüngere und Ältere und machen das jetzt noch so bis Weihnachten, aber ich werde das nicht in der Frequenz weitermachen können. Und ich glaube auch nicht, dass die Kinder das so weitermachen wollen. Wir versuchen, das Beste draus zu machen, aber mit zunehmender Dauer wird es frustrierender.
Überrollt von der zweiten Welle
Martin Steidler: Ich bin Professor für Chorleitung an der Musikhochschule München und leite dort den Madrigalchor. Außerdem leite ich noch die Audi Jugendchorakademie und das Heinrich-Schütz-Ensemble Vornbach. Als im Frühjahr alles gestoppt worden ist, war das natürlich ein Schock. Ich bin sozusagen in voller Fahrt ausgebremst worden. Ich hatte ein Freisemester genommen, um mehrere Projekte außerhalb der Hochschule zu realisieren, Auslandstourneen, alles Mögliche. Das Aus war natürlich sehr bitter. Trotzdem war das im Vergleich leicht zu nehmen. Die Solidarität war da, es war klar: Das ist ein Problem, auf das man reagieren muss, und es wird schon irgendwann wieder anders.
Dann kam Phase 2, im Sommer und Frühherbst, die Phase mit den relativ stabilen Infektionszahlen. Diese Zeit war dann in allen meinen Chören geprägt von dem Versuch, irgendwas zu retten und unter den bestehenden Bedingungen möglich zu machen. In der Hochschule ging das ganz gut. Wir haben mit ausgeklügeltem Hygienekonzept im Madrigalchor begonnen. Ich habe versucht, ein Programm zu wählen, das genau passt für die Situation: vierzigstimmige Musik, die man in kleinen Gruppen gut proben kann, und dann durften wir das auch im Großen Saal zusammenfassen. Das war am Anfang gewöhnungsbedürftig, hat aber gut geklappt. In Chören, die sängerisch nicht so weit sind, kann das schon schwieriger sein, denn je weniger sicher die Leute sind mit ihrer eigenen Stimme, umso schwieriger ist es natürlich, mit zwei oder drei Metern Abstand zu singen.
Jetzt sind wir in Phase 3 angelangt, und die Wucht dieser zweiten Welle überrollt uns alle. Im Madrigalchor habe ich jede Woche 15-20 Ausfälle, nicht wegen Erkrankung, sondern wegen Risikokontakt ersten Grades. Allein dadurch ist ein sinnvolles Arbeiten kaum mehr möglich. Und man spürt auch die Angst bei den Mitwirkenden. Viele Studierende fragen: „Ist das denn wirklich gut, dass wir noch proben? Wär‘s nicht besser, wir würden das im Moment lassen?“ Das ist wirklich jetzt gerade eine sehr schwierige Phase, weil ja auch niemand weiß, wie lang sie dauern wird und wie es anschließend weitergeht.
Im September war meine Position ganz klar: Wir versuchen alles möglich zu machen, damit Chormusik weitergehen kann. Wir mieten große Hallen. Wir fokussieren alle Energie darauf, weitermachen zu können, und finden Möglichkeiten, mit Crowdfunding oder Ähnlichem. In der momentanen Lage sieht das anders aus. Ein Chor wie das Schütz-Ensemble, in dem auch ältere Menschen bis 70 mitsingen: Es versteht sich von selbst, dass da nichts möglich ist. Arbeiten mit der Jugendchorakademie, wo die Leute für vier Tage Probenphase durch ganz Deutschland reisen müssen, kommt im Moment auch nicht in Frage. Also, ich bin selbst gerade sehr verunsichert, wie weiter zu planen ist. Momentan tendiere ich auch dazu, einfach alles ruhen zu lassen – in der Hoffnung, dass die Zahlen schnell wieder runtergehen und wir wieder anknüpfen können an die etwas bessere Perspektive von vor drei Monaten.
Richard Gilch: Ich studiere im 11. Semester Schulmusik und Gitarre im pädagogischen Bachelor. Ich hatte bei Martin Steidler das Profilfach Chorleitung, seit drei Jahren habe ich einen Chor aus Tiermedizin-Studierenden. Beziehungsweise: Ich hatte ihn. Der Chor liegt momentan brach, und wie es mit ihm weitergeht, wissen wir noch nicht. Unser Probenraum war der Dekanatssaal der tiermedizinischen Fakultät. Im Gegenzug dafür haben wir immer die Zeugnisvergabe in der großen LMU-Aula schön umrahmt, interne Sommer- und Weihnachtskonzerte gemacht. Also, es ist eigentlich Chorsingen „just for fun“. Das Ganze hat floriert, und dann kam Corona. Irgendwann haben wir überlegt: Planen wir etwas für den Winter? Erste große Frage: Wo findet man einen Raum für 45 Leute? Zweite Frage: Wieviele Chormitglieder sind überhaupt in München? Tiermedizin ist ein deutschlandweiter Studiengang, und die Lehre an der LMU ist online. Man hat also praktisch nie alle Sängerinnen und Sänger zur Verfügung. Und dann macht es überhaupt keinen Sinn, etwas zu planen.
Und das nächste Problem: Viele meiner Chorsänger werden in absehbarer Zeit das Studium abschließen. Wenn das alles noch länger dauert, zerfällt der Chor womöglich, weil es keinen Nachwuchs gibt. Manche suchen sich auch als Ersatz für das Chorsingen ein anderes Hobby. Volleyballspielen macht auch Spaß, und was gerade nicht da ist, das vermisst man vielleicht erst ein bisschen später.
Singen als Privileg
Richard Gilch: Außerdem erlebe ich das Ganze auch aus der Sängerperspektive, ich bin Mitglied im Madrigalchor und in der Audi Jugendchorakademie. Nach dem Lockdown-Semester war die Madrigalchor-Probenwoche im September unglaublich schön. Zum ersten Mal die 70 Leute wieder auf einem Haufen! Das sind einfach gute Freunde aus dem Studium, mit denen man Jahre gemeinsam verbracht hat und die man jetzt sechs Monate lang eigentlich nur online auf dem Bildschirm gesehen hat. Das waren viele Glücksmomente. Die erste Audi Jugendchorakademie-Phase vor ein paar Wochen bedeutete die Wiederbegegnung mit Freunden aus ganz Deutschland. Sich wiederzusehen und gemeinsam zu musizieren war so schön!
Gleichzeitig weiß ich aber auch, dass wir im Hochschul-Kontext oder in einer Organisation wie der Jugendchorakademie eine Luxus-Situation haben. Bei den Laienchören ist es schwieriger, weil denen die finanziellen oder organisatorischen Ressourcen fehlen. Die Gefahr besteht, dass solche Chöre auf die Dauer auseinanderbrechen, so wie meiner. Und das finde ich einfach nur traurig.
Anna Brandis: Ich studiere wie Richard Schulmusik mit dem Profilfach Chorleitung. Vielem, was er gerade gesagt hat, kann ich mich anschließen. Ich habe auch bei dieser Madrigalchorwoche gemerkt, was für ein hohes Gut es ist, das ausüben zu können. Nach so einer langen Zeit der Entbehrung weiß man das noch viel mehr zu schätzen. Das hat mich auch darin bestärkt, es mit meinem Laienchor weiter zu versuchen. Der Chor ist klein, wir sind nur zu zwölft, aber das ist ein sehr harter Kern, sehr stabil. Normalerweise proben wir wöchentlich. In der Lockdown-Zeit konnten wir kaum proben, unter anderem, weil viele Lehrerinnen dabei sind. Die mussten schon beruflich dauernd online sein und haben gesagt, sie packen das nicht, dann nochmal Online-Chorproben zu haben.
Als wir dann wieder real singen konnten, in so einer großen Aula, in der ständig Leute vorbeiliefen, habe ich in strahlende Gesichter geschaut. Insgesamt habe ich das Gefühl, meine Sänger stecken in einem Zwiespalt: Eigentlich wollen sie unbedingt, auch wenn das Chorsingen „nur“ etwas Freiwilliges ist. Auf der anderen Seite steht die Maßgabe, man soll sich mit möglichst wenigen Menschen treffen. Und dann denkt man: Das ist ja nur Hobby, das lasse ich dann mal besser bleiben. Ich bin da auch als Chorleiterin in einer schwierigen Lage, weil ich natürlich Rücksicht auf die Bedenken nehmen will. Aber denen, die singen wollen, will ich das auch ermöglichen – wenn wir einen Raum finden können, in dem das geht.
Problem Probenraum
Andrea Görgner: Wir haben gerade das Problem, dass die Stadt München die Nutzung von Turnhallen für außersportliche Aktivitäten verbietet. Deshalb möchte die Stadt auch nicht, dass wir in der Turnhalle proben. Die würden uns am liebsten da ‘raus haben, und dann hätten wir gar keine Probenmöglichkeiten mehr. In diesem Zusammenhang bin ich auch enttäuscht von den Kirchen. Im Umfeld unserer Schule gibt es mehrere Kirchen mit großen Gemeindesälen, die wir angeschrieben haben. Die Absagen klingen zwar immer sehr verständnisvoll, sind aber trotzdem Absagen; und ansonsten werden horrende Preise verlangt. Da hätte ich anderes erwartet.
Mario Frei: Mit meinem Erwachsenenchor hatten wir genau damit Glück. Nach ein paar Absagen haben wir eine Kirche mit einem sehr coolen Pfarrer gefunden. Unser Vorstand hat dort angerufen, und der Pfarrer hat einfach nur gesagt, „Die Kirche ist für die Menschen da. Und wenn das jetzt gerade für euch hilfreich ist, dann machen wir das.“ Wir können dort proben und umrahmen dafür mal einen Gottesdienst oder geben ein Konzert in der Kirche. Da sieht man, wie es auch gehen kann.
Kein Nachwuchs
Andrea Görgner: Wir haben aktuell das Problem, dass wir aus dem letzten halben Jahr keine Nachwuchssänger haben. Der Nachwuchs in der Schule kommt ja oft daher, dass man ein Projekt wahrnimmt und sagt: „Boah, ist das toll, da mach’ ich auch mit!“ – Da war aber diesmal nichts. Und jetzt fehlen mir zum Beispiel etliche Männerstimmen. Wir hatten diesmal nicht die Möglichkeit, sie nach dem Stimmwechsel „abzuholen“. Da ist ein ganz großer Bruch drin. Ähnlich im Konzertchor: Im zweiten Schulhalbjahr sind ja die Q12er weg, die haben Abitur gemacht. Diese Zeit nutzen wir normalerweise dazu, dass die Q11er selbstbewusste Sänger mit einer gewissen stimmlichen Reife werden. Das ging aber nicht. Und jetzt haben wir einen Konzertchor aus ehemaligen Zehntklässlern, die ein halbes Jahr nicht gesungen haben, und Zwölftklässlern, denen die Erfahrung fehlt, um die Neuen mitzuziehen. Etwas überspitzt: Man steht da so verteilt in einer riesigen Turnhalle und hat lauter schüchterne Jugendliche, die sich nicht trauen, einen Laut von sich zu geben. So kann kein Chorklang entstehen, und ich kann auch nicht auf Einzelne zugehen und mit ihnen etwas ausprobieren. Ich stehe da an der Wand, ganz weit weg, habe überhaupt keinen emotionalen Zugriff und kann nichts bewegen. Und das macht mich gerade wahnsinnig.
Außerdem haben wir noch das Problem, dass einige Eltern sagen: „Du gehst nicht in den Chor. Wir wollen dich diesem Risiko nicht aussetzen.“ Das ist natürlich auch nicht hilfreich.
Mario Frei: Bei uns im Chor werden von den Eltern ganz verschiedene Wünsche an uns herangetragen. Die meisten finden toll, was wir machen. Ein paar wenige haben während des Jahres gefragt, ob Mitgliedsbeiträge zurückerstattet werden, weil wir uns nur einmal getroffen haben. Man bekommt natürlich mit, dass Corona ganz viele Leute auch finanziell trifft, die einfach schauen müssen, wo sie sparen können. Andere wiederum haben Ängste und sind froh, dass wir sehr vorsichtig waren und sind. Nochmal andere kommen aber auch und sagen „Wär’ schon mal schön, wenn ihr euch wieder trefft.“ – Die Eltern bei der Stange zu halten und allen gerecht zu werden ist schwieriger als bei den Kindern. Ich könnte das alles alleine gar nicht stemmen, wenn ich nicht ein Team um mich herum hätte.
Ich bewundere alle, die da allein auf weiter Flur kämpfen und die Verantwortung alleine tragen müssen, ob sie mit ihren Leuten proben oder nicht. Wie gehe ich damit um, wenn Eltern sagen, ich will das eigentlich nicht? Was bedeutet es, wenn es einen Infektionsfall in meinem Chor gibt? Da ist man ja auch schnell bei rechtlichen Fragen. Man steht ja gefühlt auch immer mit einem Bein im Gefängnis, wenn man sich überlegt, ob man mit seinem Chor proben möchte oder nicht. Ich glaube, das wird noch ganz heftig für die gesamte Chorlandschaft.
Martin Steidler: So einen Rollenkonflikt erlebe ich auch gerade. Als Chorleiter sind wir sonst gepolt darauf, mit großem Enthusiasmus Leute zu begeistern für eine Idee, auf ein Ziel hinzuarbeiten, selbst dran zu glauben und diese Begeisterung auch zu übertragen auf diejenigen, mit denen man zusammen musiziert. Und jetzt stehen wir aber gleichzeitig auch in der Verantwortung für die Gesundheit unserer Leute. Man gibt also gleichzeitig Gas und steigt auf die Bremse, und das passt alles überhaupt nicht zusammen.
An den Rand gedrückt
Andreas Ernst: Momentan haben wir eine Art „Radikalschule“. Außerhalb des Pflichtunterrichts findet nichts mehr statt, und manche Kollegen genießen es anscheinend, dass Aktivitäten wie Probenarbeit und Wegfahren nicht mehr stören. In Lehrerkonferenzen gab’s auch schon früher Fragen wie „Muss es denn zwei oder drei Konzerte geben? Eines würde doch reichen.“ Jetzt gibt es nur noch Unterricht, man kann jederzeit Schulaufgaben schreiben. Der Musikunterricht ist komplett ausgebremst worden, wir Musiker werden an den Rand gedrückt. Das ist gerade eine ziemlich krasse Situation, und ich fürchte, das bleibt auch nach Corona so.
Andrea Görgner: Auf der anderen Seite: Wenn man sich anschaut, wie erschöpft die Lehrer und Schüler nach dieser Zeit bis zu den Herbstferien waren – das war noch nie so. Man kroch ja wirklich auf allen Vieren in diese Herbstferien. Weil keine Abwechslung da war, weil man nicht auf der Probenfahrt war, weil man nichts Schönes erlebt hat, weil man keine besonderen Momente hatte. Also, das haben bei uns auch einige Kollegen aus dem nicht-musischen Bereich festgestellt. Auch die Kinder merken, dass ihnen was Entscheidendes fehlt.
Martin Steidler: Ich denke mir schon die ganze Zeit über, dass hier eine ganze Generation wirklich heftig betroffen ist von der ganzen Situation: Kinder, Jugendliche, auch unsere Studierenden. Je jünger, umso mehr. Im Ausbildungsbetrieb an der Hochschule wird es immer Chorsingen geben, das lässt sich auch schnell wieder aufbauen. Da haben wir stabile Strukturen, das bricht jetzt nicht alles zusammen und kommt nicht mehr wieder. Aber in den Schulen hat das eine andere Brisanz. Und diese Beobachtung erfüllt mich mit großer Sorge.
Proben in 20-Minuten-Einheiten
Andrea Görgner: Ein Problem entsteht auch durch das Hygienekonzept. Bei uns ist festgelegt, dass nach 20 Minuten Singen 10 Minuten Lüftungspause gemacht werden müssen. Kein Chorleiter konzipiert eine Probe in 20-Minuten-Einheiten! Gerade haben es alle kapiert, jetzt könnte man richtig loslegen - und dann muss man Pause machen. Und das müssen wir ja, Andreas wird mir zustimmen, ganz exakt machen, denn wenn nur einer zuhause erzählt, wir haben heute zu spät Lüftungspause gemacht, dann ist der Teufel los. Und nach den 10 Minuten Pause heißt es: kompletter Neustart, und man hat ja insgesamt nur eineinhalb Stunden. Also, da bleibt nicht mehr viel übrig, und das ist auch etwas, das natürlich frustriert.
Mario Frei: Also, das kann ich auch für meinen Erwachsenenchor bestätigen. Da hat man nach 20 Minuten das Gefühl: Jetzt sind allmählich alle da und bereit. Jetzt geht’s richtig los. Und dann sagt man „Okay, Pause“, und alle seufzen und marschieren raus...
Risiko Singen?
Andreas Ernst: Ein Problem gerade beim Umgang mit Eltern ist auch: Keiner kennt sich aus, und dann hören die Leute in den Medien, dass Singen gefährlich ist. Da bräuchten wir öffentliche Aufklärung: Ist Singen wirklich so horrend gefährlich, dass man alles in den Boden stampfen muss, was über Jahrzehnte aufgebaut wurde?
Richard Gilch: Ich könnte mir auch vorstellen, dass das alles auch bei Kindern so ein Bewusstsein schafft: Singen ist eine Virenschleuder; Singen ist das gefährlichste Hobby, das es gibt. Ich glaube, das alles hat sich schon ganz schön verfestigt in den Köpfen. Und das wieder loszubekommen wird eine schwierige Aufgabe sein.
Mario Frei: Ich muss ehrlicherweise gestehen, dass ich gerade nicht den Überblick habe, aber ich glaube, es bräuchte auch mehr Studien übers Laien-Chorsingen. Dann hätte man eine verlässlichere Basis, auf der man kommunizieren und planen kann. Also, es gab ja mehrere Studien an professionellen Sängern, aber die einfach auf den Laienbereich zu übertragen finde ich problematisch. Das Chorsingen von Kindern, Jugendlichen, erwachsenen Laien verschwindet unhinterfragt mit in so einem großen Topf.
Gabriele Puffer: Soweit ich weiß, wurden bisher nur Erwachsene untersucht. Tests mit Kindern und Jugendlichen könnten vielleicht wichtige neue Erkenntnisse bringen.
Andreas Ernst: Ich habe auch den Eindruck, dass man in den Schulmusikern und den Theaterleuten so eine Art Sündenbock gefunden hat. Und ich frage mich, ob man sich einfach so in diese Rolle drängen lassen darf. Wenn ich mir anschaue, wie sich die Kollegstufenschüler auf dem Schulweg und in ihrer Freizeit verhalten, was da abgeht! Und wie brav wir im Vergleich dazu sind! Die Leute kommen maskiert zur Chorprobe, nehmen die Maske erst am Platz ab, verhalten sich diszipliniert, gehen maskiert wieder raus. Dasselbe beim Theater. Jeder gibt sich Mühe, hält sich an die Regeln und schaut, dass es wirklich passt. Und trotzdem wird gerade so viel kaputtgemacht.
Andrea Görgner: Ich würde es insgesamt nicht ganz so schwarz sehen. Also, ich glaube schon, dass an den Schulen später wieder etwas gehen wird. Jeder will ja zu seiner Abschlussfeier Musik haben, jeder will eine festliche Umrahmung. Ich denke nicht, dass das nach ein, zwei Jahren aus den Köpfen raus und verloren ist. Natürlich müssen wir dafür arbeiten, dass wir den Status quo, den wir vorher hatten, wiederbekommen. Und da muss man sicherlich auch auf die Schulleitungen zugehen. Ich hab’ da natürlich jetzt leicht reden, bei uns ist Musik ja als Kernfach verankert. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Schule, die bisher ein reichhaltiges musikalisches Angebot hatte, in Zukunft einfach darauf verzichtet.
Chöre brauchen ein Dach überm Kopf!
Martin Steidler: Also an einer Stelle, glaube ich, müssten wir alle uns wirklich zusammentun und mit einem starken Postulat an die Politik herangehen. Das betrifft die Frage der Räume. Ich bekomme das ja auf vielen Ebenen mit. Alle Kommunen, die Mehrzweckhallen, Konzertsäle oder ähnliches betreiben, haben in den letzten Jahrzehnten auf gewinnorientierte Betreibergesellschaften umgestellt. Ergebnis sind horrende Mieten für solche Räume. Bei uns in der Hochschule ist es ähnlich. Ich finde, da ist jetzt wirklich die öffentliche Hand gefordert. Sobald die Inzidenzzahlen wieder so sind, dass man das irgendwie verantworten kann, sollte es möglich sein, Säle und Hallen, die größtenteils ohnehin leer stehen, kostengünstig zu nutzen. Dafür müssten wir uns stark machen! Und: Wir bräuchten kostenlose Schnelltests für Chöre!
Gabriele Puffer: Hilfreich wäre vielleicht eine Aktion des Bayerischen Musikrats nach dem Vorbild des Landesmusikrats Nordrhein-Westfalen. Der sucht seit Anfang Oktober für seine Mitgliedsverbände große Räumlichkeiten, in denen auch größere Laienensembles gefahrlos proben können. Gefragt sind Kommunen, Industrie- und Handelskammern, der DeHoGa und andere. So muss nicht mehr jeder einzeln Klinken putzen gehen. Mir scheint, für Laienensembles ist die Möglichkeit überlebenswichtig, regelmäßig irgendwo zusammenzukommen, auch wenn es nicht das ist, was man normalerweise an Probenarbeit machen kann.
Mario Frei: Ich finde, im Vergleich zum Sport sind die musikalischen Laienverbände einfach zu schlecht aufgestellt. Ich spiele liebend gerne Basketball, in einer Hobbygruppe. Momentan allerdings nicht. Beim Fußball werden die Bälle desinfiziert, wenn sie mal rausrollen. Beim Basketball passt man sich die vollgeschwitzten Dinger permanent zu, und das ist auch erlaubt. Und da frage ich mich wirklich, wie es sein kann, dass das Singen unter Einhaltung der ganzen Hygienemaßnahmen so schlecht wegkommt. Und ich glaube, da wird zu wenig getan und zu wenig mit einer Stimme gesprochen.
Martin Steidler: Also ich finde es ehrlich gesagt in der aktuellen Phase 3 ganz schwierig mit politischen Äußerungen und Aktivitäten. Wir haben tatsächlich eine dramatische Gesundheitskrise im Land und eine Zeit, in der man Kontakte beschränken muss. Für die Zukunft glaube ich, dass wir wieder eine sehr lange Phase 2 haben werden. Auf die müssen wir uns gut vorbereiten, damit wir mit einer Stimme sprechen und Forderungen stellen können.
Mehr Wertschätzung für Schulchöre!
Martin Steidler: Noch ein Aspekt ist im Gespräch sehr klar geworden: Unabhängig von Corona sehe ich ein chronisches Wertschätzungsproblem, was Chormusik in den Schulen betrifft. Das ist eine Wunde, die sonst immer mit riesigem Engagement von allen Beteiligten zugekleistert wird. Jetzt in dieser Zeit reißt sie auf. Es kann doch einfach nicht sein, dass das Chorsingen an den Schulen so einfach klaglos aufgegeben wird. Man könnte sich stattdessen ja auch darum kümmern, dass dafür bevorzugt die nötigen Räume organisiert werden. Dass das nicht gemacht wird, ist auch Ausdruck einer grundsätzlich problematischen Situation. In welchen Zeitfenstern und Räumen kann Chormusik stattfinden? Wie ist sie im Lehrplan verankert? Wenn das solide geregelt wäre im System Schule, dann bräuchte es auch nicht ständig tolle Projekte. Dann wäre das einfach in der Breite anders da. Aber das ist wirklich eine langfristige Sache.
Wir bilden an der Hochschule Leute im Profilfach Chordirigieren aus. Ich frage mich, wo denn die Schulen sind, an denen man das wirklich einbringen kann? Wer entscheidet denn, wo ein Chor aufgebaut werden kann? Das ist anscheinend reine Glückssache. Habe ich da, wo ich hinkomme, eine Schulleitung, die es irgendwie möglich macht, oder habe ich die nicht? Wer entscheidet, ob Schulen schwerpunktmäßig etwas mit Chormusik machen können? Das ist alles ein diffuser Bereich. Potenziale, die aus dem Ausbildungssystem kommen, können so in den Schulen oft gar nicht genützt werden.
Gabriele Puffer: Im Sommer ist deutlich geworden, welche Schäden es angerichtet hat, dass die Schulen mehrere Wochen geschlossen waren. Seitdem wird viel über Bildungschancen für Kinder diskutiert. Zu Bildung gehört aber nicht nur, dass man Lesen, Schreiben, Rechnen lernt. Dazu gehören auch Möglichkeiten, Dinge auszuprobieren, die man sonst gar nicht in Reichweite hätte – zum Beispiel Chorsingen, in der Band oder im Orchester spielen. Ich könnte mir vorstellen, dass der eine oder die andere heute auch Mitglied dieser Runde sein kann, weil es in der eigenen Schulzeit so ein Angebot gab. Und die Dinge, an die man sich am liebsten erinnert aus der Schulzeit, das sind nicht die Sternstunden aus dem Mathe-Leistungskurs, sondern das sind die Carmina Burana oder die besonders tolle Chorfahrt. Solche Erlebnisse prägen auch Leute, die später gar nicht mehr weitermachen mit Musik. Dabei entstehen auch Freundschaften fürs Leben. Ich frage mich, ob man das nicht irgendwie sichtbarer, hörbarer, wahrnehmbarer machen kann in irgendeiner Form.
Kulturoffensive im Frühjahr?
Martin Steidler: Noch eine ganz andere Idee: Ich habe in der Zeitung gelesen, dass Ministerpräsident Söder eine große Frühjahrsoffensive für Kultur plant, mit zusätzlichen Fördertöpfen. Konkreteres dazu habe ich leider nirgendwo finden können. Aber wenn wir im Frühjahr wieder eine stabilere Lage hätten: Dann könnten sich Chorverbände und Musikrat zusammentun und versuchen, kleine Veranstaltungsformate mit maximaler Sichtbarkeit zu finden. Eine große Chor- und Musik-Offensive über drei Monate, mit kleinen Veranstaltungen, die sonst wirtschaftlich nicht funktionieren würden, weil man nur wenig Publikum unterbringen kann. Da könnte man Förderung gezielt einsetzen, um zum Beispiel kleine Kantatenprojekte zu machen. Damit könnte man auch die freien Orchester und Solisten unterstützen, die derzeit vor dem Aus stehen. Vielleicht ließe sich so etwas realisieren?
Gabriele Puffer: Herzlichen Dank an Sie und euch alle für den intensiven Austausch – und alles Gute für die kommenden Monate!
Protokoll: Gabriele Puffer
Anmerkung
1 https://www.ndr.de/ratgeber/gesundheit/Im-Chor-oder-allein-So-gesund-is…