Bei der Feier seines 100. Geburtstags im Juni 2016 im Gemeindesaal der Paul-Gerhardt-Kirche in München-Laim: Der Jubilar repräsentiert im weißen Jackett mit Fliege und nimmt das Begrüßungs-Defilee der weit über 100 Gäste zwar sitzend, aber in vollkommener geistiger Frische entgegen. Für jeden hat er ein persönliches Wort, auch wenn, wie er uns anvertraut, „die Ohren nicht mehr so mitmachen“. In der ihm eigenen Mischung aus trockenem Humor und Schlagfertigkeit kommentiert er auch die Begrüßung zweier langjähriger Chordamen aus dem Paul-Gerhardt-Chor, zum Beispiel bei der Erwähnung seiner Geburt am 3. Juni 1916 in Kronstadt/Siebenbürgen (heute Rumänien) mit einem lauten und deutlichen „Das ist richtig!“ – Auch er selbst begrüßt seine Gäste mit einer Rede, bestechend eloquent, teilt mit ihnen Erinnerungen, die er in seinem dritten Erinnerungsband „Nichtalltägliches aus fast hundert Jahren“ niedergeschrieben hat und zieht alle Festgäste in seinen Bann.
Schul- und Kirchenmusiker in Siebenbürgen
Wer war nun dieser auch im biblischen Alter von 100 Jahren immer noch so beeindruckende Adolf Hartmut Gärtner? – Mitten im Ersten Weltkrieg in das rege, eigenständige und vielgestaltige Musikleben der Siebenbürger Sachsen und in eine musizierende Familie hineingeboren, lernte der junge Adolf Hartmut Klavier, Orgel und Cello spielen, war Sänger und Solist im Kronstädter Knabenchor, wirkte im Konservatoriumsorchester und der Kronstädter Philharmonie mit. Bereits damals wurde der Grundstein für seine spätere Vielseitigkeit gelegt. In alter siebenbürgischer Tradition studierte der Abiturient an der Hochschule in Berlin Kirchen- und Schulmusik und schloss das erste Staatsexamen auch mit den Fächern Chorleitung und Orgel ab. In seine Heimatstadt zurückgekehrt konnte er als Musikprofessor im Lehrerseminar und als Leiter des Gesangvereins und des Musikvereins Hermania erste Erfolge verzeichnen. 1943 heiratete er Erika Bellmann, Musikprofessorin am Lehrerinnenseminar in Schäßburg, 1944 bekam das Paar einen Sohn, in der Nachkriegszeit wurden noch drei Töchter geboren.
Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges unterbrach Gärtners musikalische Tätigkeit immer wieder durch diverse, mit Schikanen gegen die siebenbürgischen Deutschen verbundene Einberufungen des jungen Musikers. Schließlich avancierte er durch seine Mehrsprachigkeit (eine weitere Begabung!) zum Militärdolmetscher, ja sogar zum Simultandolmetscher. Als er im Sommer 1944 zu einem Offizierslehrgang nach Deutschland abkommandiert war, schuf die Kriegserklärung Rumäniens an Deutschland neue Fakten: Adolf Hartmut Gärtner wurde von der deutschen Wehrmacht übernommen. Am Ende des Krieges geriet er in amerikanische Gefangenschaft, aus der er nach München entlassen wurde. Bis 1948 sollte es dauern, bis die junge Familie Gärtner wieder zusammenkommen konnte.
Erfolgreiche Chorarbeit am Theresien-Gymnasium
Inzwischen holte der junge Musiker die – in Rumänien nicht nötige – Referendarzeit und das zweite Staatsexamen nach. Als Studienrat blieb Gärtner an seiner Seminarschule, dem Theresien-Gymnasium München, und gehörte von 1948 bis zur Versetzung in den Ruhestand im Juli 1978 dem Lehrkörper dieser Schule an. Schon bald wirkte seine konsequente und zupackende Zielstrebigkeit, das musikalische Leben erblühte. Insbesondere seine ureigenste Domäne, die Chorarbeit, zeitigte Erfolge, die auch weit über die Schule und München hinaus wirkten. So wurde der Kinderchor des Theresien-Gymnasiums unter seiner Anleitung die erste Adresse für die Musikalische Akademie des Bayerischen Staatsorchesters – und blieb es 30 Jahre lang. Für die Einstudierung des Kinderchors zur jährlichen Aufführung der Matthäus-Passion zeichnete der junge Studienrat Gärtner verantwortlich, die Reihe der Dirigenten liest sich wie das musikalische „Who is who“ der Münchner Nachkriegszeit: Ferdinand Leitner, Georg Solti, Rudolf Kempe, Robert Heger, Fritz Lehmann, Günter Jena, Ljubomir Romansky, Joseph Keilberth, Karl Richter, Hans-Rudolf Zöbeley...
Darüber hinaus mehrte der Chor des Theresien-Gymnasiums bei weiteren außerschulischen Konzerten seinen Ruhm durch die Mitwirkung bei Projekten wie dem „Psalmus Hungaricus“ von Zoltán Kodály, Gustav Mahlers dritter und achter Symphonie, dem „Orfeo“ nach Orff/Monterverdi (bei der 3. Bundeschulmusikwoche 1959 in München) und Carl Orffs Carmina Burana. Letztere wurden von Adolf Hartmut Gärtner mit dem Chor des Theresien-Gymnasiums auch bei einem Chortreffen in der französischen Partnerstadt Bordeaux erstaufgeführt. Die Auflistung der musikalischen Werke, die Gärtner mit Chor und Orchester im schulischen Kontext zur Aufführung brachte, umfasst in seinem biografischen Material zwei dicht bedruckte Seiten; besondere Ereignisse wie die Verbindung zu Carl Orff, der selbst zweimal Aufführungen seiner Werke durch die Theresianer unter Leitung Gärtners im Herkulesaal lauschte (Carmina Burana 1957, Dithyrambe 1959) und dem Chor unter anderem die Münchner Erstaufführung von „Die Sänger der Vorwelt“ antrug, führten zu weiteren Engagements des Chores im Münchner Konzertleben. 1978 wurde ihm der Preis für Münchner Jugendchöre verliehen.
Seminarlehrer und bildungsplanerischer Weichensteller
Als Seminarlehrer begeisterte Adolf Hartmut Gärtner uns nicht nur mit seinem umfassenden Wissen und Können, seinem geselligen und humorvollen Wesen, sondern wir hingen ebenso wie die Schüler an seinen Lippen, wenn er uns alle in seinen immens interessanten Stunden mit hinreißender, druckreif formulierter Sprache faszinierte. Seine „Hörstunden“ weckten in uns den Wunsch, mit ebenso kurzweiligem wie effektivem Unterricht die Schüler motivieren zu können. Seine spezielle, virtuos gehandhabte Methode der Liederarbeitung, ohne einen einzigen Ton vorzusingen, nötigte uns immer wieder allerhöchste Bewunderung ab.
Was er uns auch in unnachahmlicher Weise vorlebte und vermittelte, war die Begeisterung für den Beruf des Schulmusikers: die pädagogische Aufgabe mit Kindern und Jugendlichen in der wichtigsten Zeitspanne ihrer Entwicklung; die Möglichkeit künstlerischer Einwirkung auf diese Entwicklung durch – heute würde man sagen: „nachhaltige“ – musikalische Förderung und Ausbildung; die Freiheit eines Schulmusikers, den Lehrplan mit individuellen Schwerpunkten umsetzen zu können; und natürlich auch die Verwirklichung von „Visionen“, die direkten Gestaltungsmöglichkeiten von Musik zusammen mit Kindern und Jugendlichen im Schulleben und außerhalb der Schule. Die nebenbei erlebte Demonstration seiner organisatorischen Fähigkeiten, die nie etwas dem Zufall überließen, war für unsere eigene spätere Tätigkeit ein nicht zu unterschätzender Vorteil.
Vom Kultusministerium wurde Gärtner 1968 noch eine weitere Aufgabe übertragen: Als Fachreferent für Musik am neu gegründeten Staatsinstitut für Schulpädagogik (heute ISB) verfasste er an verantwortlicher Position Kommentare, Handreichungen und Lehrpläne. Die Curricularen Lehrpläne für Musik in der Orientierungsstufe (1974) und für Musik in der Kollegstufe (1976) dürften die am weitestreichenden Folgen gezeitigt haben.
Musiker und Musikschriftsteller
Der „vielseitige Gärtner“ bestellte aber auch noch andere Felder: In der Zeitspanne seiner Berufstätigkeit fanden 35 Sing-, Chor- und Instrumentalwochen (AfH, später IAM) und Wochenendtreffen unter seiner Mitwirkung oder Leitung statt. Als Kammermusikpartner musizierte er auf dem Cello regelmäßig im Streichquartett und im Klaviertrio. Ab 1965 trat Gärtner regelmäßig in der Münchner Lokalpresse und in Siebenbürgischen Zeitungen als Verfasser von Konzert- und Opernkritiken in Erscheinung, als Mitglied der „Zwanglosen Gesellschaft“ hielt er zwischen 1952 und 2012 38 Vorträge unterschiedlichster Themensetzungen. Im Ruhestand veröffentlichte er eine Monografie über seinen Lehrer und Mentor Victor Bickerich (1997) sowie die drei autobiografischen Bände „Nichtalltägliches aus neun Jahrzehnten“ (2008), „Nichtalltägliches aus neuneinhalb Jahrzehnten“ (2012), und „Nichtalltägliches aus fast hundert Jahren“ (2015), die anhand besonderer Begebenheiten aus dem Leben des Verfassers auch den europäischen Kontext eines ganzen Jahrhunderts abbilden. In Würdigung seiner Verdienste wurde Adolf Hartmut Gärtner unter anderem ausgezeichnet mit der Medaille „München leuchtet“ (1980) und dem „Bundeskulturpreis der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen“ (2005). 1980 wurde er in Würdigung seiner langjährigen herausragenden Leistungen auf dem Gebiet der Kirchenmusik zum Kirchenmusikdirektor ernannt.
Oratorienchorleiter und Kirchenmusiker
1945 an der Münchner Paul-Gerhardt-Kirche zunächst als Organist verpflichtet, begann Gärtner im September mit 11 Sängern den Wiederaufbau des Paul-Gerhardt-Chors und führte ihn in 30 Jahren aus den bescheidenen Anfängen der Nachkriegszeit zu einem exzellenten und leistungsfähigen Oratorienchor, der auch zahlreiche Münchner Erstaufführungen ermöglichte, etwa das Byzantinische Weihnachtsoratorium von Paul Constantinescu (1973), das Requiem von Robert Schumann (1979) und Werke von Kronstädter Komponisten: Paul Richter, Victor Bickerich, Walter Schlandt (1979). Von allen großen sakralen Werken mit Solisten, Chor und Orchester war Gärtner die Matthäus-Passion von Bach wohl persönlich besonders nahe: Nach eigener Zählung wirkte er bei 55 Aufführungen mit: als Sängerknabe, Chormitglied, Violoncello-, Cembalo- und Orgelspieler, durch die Vorbereitung des Kinderchores und natürlich als Dirigent mit dem Paul-Gerhardt-Chor. Im letzten Jahr seiner Chorregentschaft führte Adolf Hartmut Gärtner noch einmal die h-Moll Messe und zum Abschluss das Deutsche Requiem von Johannes Brahms auf.
1986 übergab KMD Gärtner den auf über 120 Mitglieder angewachsenen Chor an Ilse Krüger-Kreile, ebenfalls eine Schulmusikerin und hervorragende Chorleiterin, die seitdem die begonnene Tradition in ausgezeichneter Weise fortsetzt. Davon konnten sich auch die Gäste der Geburtstagsfeier überzeugen, als der Paul-Gerhardt-Chor (der in 70 Jahren von nur zwei Chorleiterpersönlichkeiten geleitet wurde) dem Jubilar ein Geburtstagsständchen sang. Das Grußwort von Ilse Krüger-Kreile zur Feier des 100. Geburtstages von Adolf Hartmut Gärtner sei hier angefügt:
„Sehr verehrter, lieber Herr Gärtner, den Glückwünschen zu Ihrem Geburtstag will ich mich von Herzen gerne anschließen, auch im Namen meines Mannes, der Sie aus Dresden sehr herzlich grüßen lässt. Normalerweise bekommt ja das Geburtstagskind die Geschenke, aber heute scheint es mir ein wenig anders zu sein: Wir alle sind heute hierhergekommen, weil wir die Beschenkten sind: eine Chorleiterin, der Sie vor 30 Jahren Ihren Paul-Gerhardt-Chor anvertraut haben; ehemalige Schüler, die noch Jahrzehnte nach ihrer Schulzeit von ihrem Musiklehrer schwärmen; Musiklehrer, denen Sie Ihre Musik- und Ihre Menschenliebe so tief ins Herz gesenkt haben, dass sie selbst zu begeisternden Schulmusikern geworden sind; Musikerkollegen, mit denen Sie Ihre Freude am gemeinsamen Musizieren teilen; langjährige Freunde, die Ihren brillanten Geist und feinen Humor im Gespräch, bei Vorträgen und in Ihren Schriften genießen; unzählige Sängerinnen und Sänger, deren Stimmen und Seelen Sie – bis heute – zum Singen bringen; und Ihre – stetig wachsende – Familie, deren „Nestwärme“ wir in allen Begegnungen spüren können.
Lieber Herr Gärtner, Sie haben uns alle mit Ihren vielfältigen Gaben reich beschenkt. Dafür möchte ich Ihnen von Herzen danken.“
Adolf Hartmut Gärtner starb am 9. Februar 2017 in München.