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Ein bayerisches Kulturgut auf neuen Wegen

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Rahmenbedingungen für Schulorchester haben sich verändert
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Jahrzehntelang war das Schulorchester an vielen bayerischen Gymnasien ein Aushängeschild der Schule – eine Tradition, deren Anfänge sich bis an den Beginn des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen lassen. Kostenfreier Gruppenunterricht in einem Streichinstrument wurde an jedem bayerischen Gymnasium erteilt, alle bayerischen Gymnasiallehrkräfte verfügten über die dazu notwendige Ausbildung. Somit standen in der Regel genügend Streicherinnen und Streicher als Basis eines „klassischen Schulorchesters“ zur Verfügung. In den zurückliegenden beiden Jahrzehnten haben sich die Rahmenbedingungen für die Schulorchester in Bayern jedoch deutlich verändert.

Auch heute gibt es noch Gymnasien, an denen es trotz der Auswirkungen des G8 und weiterer Sparmaßnahmen der 2000er-Jahre genügend instrumental versierte Schülerinnen und Schüler und ein renommiertes Schulorchester gibt. Deren Zahl ist aber zurückgegangen. Der flächendeckende Violin-, Viola-, Cello- und Kontrabassunterricht existiert schon lange nicht mehr, entsprechende Verträge mit Instrumentallehrkräften sind ausgelaufen. Immer mehr frisch ausgebildete Musiklehrkräfte haben selbst gar kein Streichinstrument mehr erlernt und favorisieren auch deshalb andere musikalische Formationen wie Bigbands oder Bläserensembles. Diese Diversität entspricht den Veränderungen im Musikbetrieb und ist per se durchaus begrüßenswert. Gleichzeitig leidet aber der Orchesterbetrieb an
bayerischen Gymnasien, da er nun einmal auf vielen gut ausgebildeten Streicherinnen und Streichern basiert.
So sind heute die Musiklehrkräfte vor Ort, denen gute Schulorchesterarbeit am Herzen liegt, mehr denn je auf gute Rahmenbedingungen und verstärk­te Eigeninitiative angewiesen. Das beginnt bei unterrichtsorganisatorischen Aspekten wie dem Freihalten geeigneter Zeitfenster bei der Stundenplanung, betrifft aber auch und vor allem die Möglichkeit, qualifizierten Orchesternachwuchs zu gewinnen. In wesentlich stärkerem Ausmaß als früher ist schulische Instrumentalmusikkultur heute auf die „Zuarbeit“ guter Privatmusiklehrkräfte und Musikschulen angewiesen – die je nach Region und Umfeld in sehr unterschiedlichem Ausmaß verfügbar und in der Regel kostenpflichtig ist. Um Orchesternachwuchs in ausreichender Zahl und Qualität zu erhalten, greifen etliche Kolleginnen und Kollegen deshalb zusätzlich auf das arbeitsintensive Modell der Streicherklassen zurück. In den vergangenen 15 Jahren hat das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus eine Reihe von Landesarbeitsgemeinschaften (LAG) ins Leben gerufen, mit dem Ziel, das musikalische Leben an Bayerns Schulen zu fördern. Den Anfang machte 2004 die LAG Schulchor, ein Jahr später wurde die LAG Schulorchester ins Leben gerufen; weitere LAGs mit ähnlichen Zielsetzungen sollten noch folgen: Pop, Jazz und Volksmusik. (Siehe dazu https://www.blkm.de/Netzwerk/Organisationen-fuer-Musik-an-Schulen)

Fortbildungen, Literaturbörsen

Die LAG Schulorchester versuchte von Anfang an im Rahmen ihrer (auch finanziell) bescheidenen Möglichkeiten, Impulse für die Arbeit vor Ort zu setzen. Wie bei allen LAGs liegt das Hauptaugenmerk auf zielgerichteten Fortbildungen. Gleich eine der ersten Veranstaltungen richtete sich damals an diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die ein Schulorchester musikalisch „aufbauen“ wollten und dafür geeignete Arrangements benötigten. 124 bayerische Musiklehrkräfte besuchten 2007 drei Fortbildungen zu diesem Thema. Werkempfehlungen von erfahrenen Kolleginnen und Kollegen, die damit bereits einen besonders großen Erfolg in ihren Konzerten verbuchen konnten, sind bis heute ein Dauerbrenner in der LAG-Arbeit. Diese „Literaturbörsen“ sind selbst im Zeitalter der Onlinedienste einschlägiger Musikverlage immer noch sehr gefragt.

Oft gewünscht werden neben dem Austausch über gute Literatur auch Fortbildungen zu den Themen Schlagtechnik und Probenarbeit. Hierfür konnte in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe renommierter Fachleute gewonnen werden – so zum Beispiel Allen Bergius gemeinsam mit dem Jugendorchester Attaca in der Bayerischen Staatsoper, das Ehepaar Michielsen mit exzellenter Streicherausbildung für das Puchheimer Kammerorchester, Radoslav Szulc als herausragender Lehrer für Probenarbeit, Walter Erpf als Spezialist für Salonorchester. In besonderer Erinnerung bleiben werden sicherlich die beiden Kurse mit Enoch zu Guttenberg, der unentgeltlich mit den Bayerischen Schulmusikerinnen und -musikern arbeitete. Außerdem wurden über die Jahre in den Fortbildungen immer wieder auch besondere Themen behandelt: Filmmusik, Neue Musik, Musizieren im Klassenverband, Tontechnik,  Barockorchester, weihnachtliche Musik für Schulorchester und anderes mehr.

Karl und Ibeth Kemper haben jahrelang der LAG vorgestanden und haben sich weit über das normale Maß für die LAG engagiert. In ihre Zeit fällt die Organisation zweier „Tage der Baye­rischen Schulorchester“, einer davon in Schwabmünchen, der andere im Festspielhaus Oberammergau. Für alle beteiligten Orchester waren das wunderbare Erlebnisse und die Veranstaltungen medienwirksame Werbung für die bayerischen Schulorchester. Unser großer Dank gilt diesen beiden „Urgesteinen“ unserer LAG. Nach der Pensionierung von Karl Kemper sind in der LAG Schulorchester noch tätig: Ingo Mayer aus Memmingen, Stefan Buchner aus München, Barbara Baumann aus Kulmbach, Ulrich Stinzendörfer aus Würzburg und Gunther Brennich aus Freising.

Neue Ansätze: Orchesterarbeit in Grund- und Realschulen

Seit einem Jahr ist Martina Oberhauser der LAG Schulorchester assoziiert, die sich dem Thema „Orchester in der Grundschule“ und der Musikvermittlung in der Grundschule verschrieben hat. Auf der Homepage der LAG Schulorchester finden sich mittlerweile im Menüpunkt „Orchesterliteratur“ auch eine Linkliste und ein Kompendium mit Literatur zum Thema „Orchester für die Grundschule“.

Kinder im Grundschulalter sind aufgrund ihres entwicklungspsychologischen Stadiums besonders intensiv auf tragfähige Beziehungen zu Erwachsenen angewiesen. Erwachsene haben in dieser Phase des Kindseins die unwiederbringliche Chance, zum besonderen Vorbild zu werden und möglicherweise Initialzündungen für bedeutsame Entwicklungen im Leben des Kindes in Gang zu setzen. Aus diesem Grund setzt sich ein Arbeitsfeld der Landesarbeitsgemeinschaft „Orchester“ unter anderem mit Möglichkeiten der Musikvermittlung speziell an Grundschulen auseinander. Der momentane Schwerpunkt der Arbeit  liegt auf der Entwicklung eines kooperativen Modells zwischen professionellen Musikerinnen beziehungsweise Musikern und Grundschulkindern. Hierfür fand im November eine gemeinsame Fortbildung für Lehrkräfte und Musiker statt. Dabei wurden zum einen Möglichkeiten des gemeinsamen Musizierens von Grundschulkindern und professionellen Musikern aufgezeigt und zum anderen ein Konzept zur Verfügung gestellt, das in ein gemeinsames Konzerterlebnis mündet. Die Durchführung und Verortung dieses Modells wird über das gesamte Schuljahr von Martina Oberhauser unterstützend begleitet.

Und auch an bayerischen Realschulen gibt es mittlerweile Orchesterarbeit! Ein weiteres neues Mitglied der LAG Schulorchester ist Silvia Melzner von der Musischen Realschule Naila. Dort erlernen alle Kinder ab der 5. und 6. Jahrgangsstufe im Rahmen des Musikunterrichts ein Instrument oder erhalten systematische Stimmbildung. In Chor- und Instrumentalklassen erhalten die Realschülerinnen und -schüler die Chance, aktives Musizieren als positiven und bedeutsamen Teil ihrer Lebenswelt kennen zu lernen.

Oft sind allerdings zunächst Vorbehalte gegenüber dem Erlernen eines Streichinstruments auszuräumen. Diese sind allerdings eher auf Eltern- als auf Schülerseite anzutreffen: Streicher klingen am Anfang grausam „quietschend“, und „klassische“ Instrumente seien ohnehin nur etwas für Gymnasiasten. Diese Bedenken sind schnell aus dem Weg geräumt, wenn man einfach einmal ein Streichinstrument ausprobiert: Kinder lernen erstaunlich schnell, mit dem Bogen sicher umzugehen. Außerdem ist es keine Frage schulischer Leistungsfähigkeit, ob man die Liebe zu einem Streichinstrument für sich entdecken kann. Entscheidend für den Unterrichtserfolg ist vielmehr, dass die unterrichtende Musiklehrkraft selbst ein Streichinstrument gut beherrscht, die Begeisterung für diese Instrumentengruppe auf die Kinder übertragen kann und mit ihnen gemeinsam einen Zugang zu dieser Klangwelt findet.
Für den Unterricht in Streicherklassen haben sich zwei unterschiedliche methodische Verfahren etabliert: Vereinfacht ausgedrückt kann man einerseits den hörenden Zugang auf dem Weg der Solmisation und andererseits den Zugang über die Notenschrift und Hilfsmarkierungen auf dem Griffbrett als Wege beschreiben. Bekannte Methoden sind in diesem Bereich die Rolland- und die Suzuki-Methode. Mittlerweile gibt es auch zunehmend ansprechende Spielliteratur, die von den jungen Streicherinnen und Streichern durchaus gut zu bewältigen ist und gerne gespielt wird.

Die Musische Realschule Naila nimmt am Projekt „klasse.im.puls“ teil und bietet die Musikklassenmodelle Streicherklasse, Bläserklasse, Bandklasse, Klavierklasse und Chorklasse an. Jedes Kind soll unabhängig von seinem sozialen Hintergrund ein Instrument lernen können. Dazu ist externe finanzielle Unterstützung notwendig, im Falle der Instrumentenklassen der Musischen Realschule Naila durch das Projekt „klasse.im.puls“ und die in Nürnberg beheimatete „Stiftung Persönlichkeit“. Die Instrumente werden dabei auf Leihbasis von der Schule gestellt.

Geleitet werden die Musikklassen stets von einem Musiklehrer beziehungsweise einer Musiklehrerin in Zusammenarbeit mit einem „externen“ Tandempartner. Tandempartnerinnen und -partner in Naila sind Instrumentallehrkräfte der Musikschule der Hofer Symphoniker. Die Musiklehrerin Silvia Melzner leitet die Streicherklassen der 5. und 6. Jahrgangsstufen in Zusammenarbeit mit Markus Jung (Musiker der Hofer Symphoniker und Instrumentallehrer der Musikschule der Hofer Symphoniker). Sie orientiert sich in der Durchführung an der Suzuki-Methode, die auch das gemeinsame Musizieren im Erlernen des Streichinstrumentes in den Fokus stellt, und dem „Leitfaden Streicherklasse“ von Ute Adler und Martin Müller Schmied. In der wöchentlichen Doppelstunde Musik erlernen die Kinder in der jeweiligen Instrumentenklasse das gewählte Instrument, im Mittelpunkt steht dabei das gemeinsame Musizieren. Neben den Inhalten des Realschullehrplans Musik, die die Kinder aktiv musizierend erlernen, trainieren sie auch Selbstvertrauen, Eigenverantwortung und wichtige soziale Kompetenzen wie Hilfsbereitschaft, Anerkennung, Empathie und gegenseitige Wertschätzung. Höhepunkt des Klassenmusizierens ist das alljährliche Konzert aller Instrumentenklassen in der Musischen Realschule Naila. Zusätzlich wurden in den letzten Jahren regelmäßige Streicherklassentreffen in Zusammenarbeit mit den Streicherklassen der Staatlichen Realschule Scheßlitz, der Realschule für Knaben Mindelheim und der Anton-Jaumann-Realschule Wemding durchgeführt: Gemeinsame Probentage der Streicherklassen bereiteten jeweils ein gemeinsames Abschlusskonzert vor.

Schulorchester – quo vadis?

Insgesamt lässt sich aus Sicht der LAG Schulorchester eine gemischte Bilanz ziehen: Schulorchesterarbeit an den Gymnasien ist heute deutlich weniger selbstverständlich und findet unter sehr viel schwierigeren Rahmenbedingungen statt als noch vor zwei Jahrzehnten. Dafür tun sich an Grund- und Realschulen neue Möglichkeiten auf, Kinder und Jugendliche mit dem gemeinsamen Musizieren auf Streichinstrumenten vertraut zu machen. Knapp 15 Jahre nach ihrer Gründung besteht die LAG Schulorchester aus einem engagierten Team, das schon einiges erreichen konnte – und sich auch in Zukunft für die Förderung des baye­rischen Kulturguts „Schulorches­ter“ einsetzen wird.

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