„Was einfach ist, ist immer falsch. Was nicht einfach ist, ist unbrauchbar.“ – Was der Philosoph und Schriftsteller Paul Valéry (1871–1945) einst in Worte fasste, ist heute als Bonini-Paradox bekannt. Es beschreibt die Schwierigkeit, komplexe Systeme in Modellen darzustellen – und trifft erstaunlich gut auch auf die Suche nach Lösungen für eine Reihe der dringlichsten Probleme des Fachs Musik zu.
Ist ein Modell zu einfach, erfüllt es seinen Zweck nicht. Es lässt sich zwar gut begreifen, zentrale Komponenten und Prozesse des jeweiligen Systems werden aber nicht hinreichend dargestellt. Je komplexer das Modell wird, desto mehr gewinnt es an Realismus, verliert aber zunehmend seinen Modellcharakter. Das Modell ist unübersichtlich, es zu betrachten wird mühsam.
Musiklehrkräftemangel – reloaded
Es ist unstrittig, dass Unterricht – auch im Fach Musik – eine komplexe Angelegenheit ist. Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Zielen treffen aufeinander und versuchen, Lernen zu ermöglichen. Schulischer Musikunterricht sieht sich dabei seit Jahrzehnten mit einem Problem konfrontiert, das sich gerade wieder zunehmend verschärft: dem Mangel an qualifizierten Lehrkräften. Bereits 2020 wies das Forschungsteam der „Studie Musikunterricht in der Grundschule: Aktuelle Situation und Perspektive“ darauf hin, dass 57 Prozent der benötigten Musiklehrkräfte an deutschen Grundschulen fehlten, Tendenz bis 2028: steigend.1 Die Situation an den weiterführenden Schulen stimmt nicht viel optimistischer: Auch hier sind qualifizierte Musiklehrkräfte in vielen Bundesländern bereits jetzt Mangelware oder werden es spätestens Mitte der 2020er Jahre sein, von Jahr zu Jahr bewerben sich weniger junge Menschen für ein Lehramtsstudium Musik. Auch an den bayerischen Ausbildungsstandorten deutet sich diese Tendenz an. Momentan ist die betreffende Datenlage hier aber noch zu dünn, um zu entscheiden, ob es sich „nur“ um eine Spätfolge der Corona-Pandemie handelt, oder ob hier bereits ein grundlegender Trend vorliegt.
Den Ursachen auf der Spur
Die Diskussion rund um das Nachwuchsproblem in unserem Fach hat bereits Fahrt aufgenommen, gesucht wird – verständlicherweise – nach schnellen und praktikablen Lösungen. Die vorliegende Problematik ist allerdings komplex und wird sich vermutlich spontanen (und kostengünstigen) Ad-hoc-Lösungen verwehren. Aus Sicht des Verfassers sind drei separate, aber zueinander in Beziehung stehende Bereiche unseres Fachs für das Thema relevant: das Anforderungsprofil der Eignungsprüfungen, die Studienstruktur und das spätere Berufsbild.
Hürde Eignungsprüfung
Ein Teil der aktuellen Problematik offenbart sich im Umstand, dass sich immer weniger Studienbewerberinnen und -bewerber den Anforderungen einer Eignungsprüfung für ein Lehramt Musik gewachsen zu sehen scheinen. Beobachtungen im hochschuldidaktischen Alltag legen nahe, dass es immer weniger an einem Lehramtsstudium Musik Interessierte gibt, die nach ihrer Schulzeit ein oder zwei Instrumente (eines davon ein Tasteninstrument) auf dem notwendigen Niveau beherrschen, eine grundsätzliche Singfertigkeit vorweisen können und zusätzlich über solide Grundlagen in den Bereichen Gehörbildung, Harmonie- und Satzlehre (am besten auch im Bereich der populären Musik), Ensembleleitung und Liedbegleitung verfügen. Zumindest in Bayern dürfte ein Grund hierfür in der gescheiterten Politik rund um das G8 liegen. Ein für die Kinder und Jugendlichen hochgradig verdichteter Zeitplan in Kombination mit dem Wegfall der Musik-Leistungskurse hat offensichtlich den Kreis derer verengt, die in der Lage waren, sich während ihrer Schulzeit die oben genannten Eingangsqualifikationen zu erarbeiten.
Berufsfachschulen als Brücke ins Lehramt?
Gerade für das gymnasiale Lehramt in Bayern lässt sich seit einigen Jahren vermehrt beobachten, dass junge Menschen mit allgemeiner Hochschulreife zunächst ein bis drei Jahre an einer Berufsfachschule für Musik vorschalten, bevor sie sich an eine Eignungsprüfung wagen. Diese Entwicklung ist bedenklich, denn: So qualitativ hochwertig die Ausbildungsangebote an den bayerischen Berufsfachschulen auch sind – der Weg in den Beruf verlängert sich so stillschweigend um einen erheblichen Zeitraum. Bei einer Studiendauer von fünf Jahren kann sich die gesamte Ausbildungsdauer einschließlich Berufsfachschule und Referendariat zu fast zehn Jahren summieren. Dass Interessierte am Lehramt Musik hiervon abgeschreckt werden könnten, ist nachvollziehbar.
DJ-ing als Hauptfach?
Ein anderes Argument, welches in der Diskussion um die Anforderungen der Eignungsprüfungen gerne geäußert wird, ist, dass deren Inhalte einen Teil des potenziell vielversprechenden Klientels von vornherein ausschließen würden. In diesem Kontext werden exemplarisch gerne Fragen gestellt wie „Können DJ-ing und digitale Klanggestaltung gleichwertige künstlerische Hauptfächer sein?“2 oder „Kann ein Beatboxer oder Rapper Musiklehrer werden?“3 Aktuell dürfte diese Frage aber noch von überschaubarer Relevanz sein, denn bislang liegen keine klaren Kriterien und Verfahren vor, nach denen geprüft werden könnte, ob eine Bewerberin besser rappt, beatboxt, mixt oder produziert als ein anderer Studienaspirant.4
Breite statt Spezialisierung
Implizite Lösungsangebote dieser Art gehen noch aus einem anderen Grund an der eigentlichen Problematik vorbei. Wenn es tatsächlich gilt, dass im Musikunterricht eine möglichst geringe Hierarchisierung musikalischer Erscheinungsweisen stattfinden soll und stattdessen der Unterrichtsgegenstand Musik in seiner Vielfalt im Mittelpunkt stehen soll,5 kann die Frage nicht sein, ob Rapperinnen, Beatboxer oder DJs auch Musiklehrkräfte sein können. Dass junge Menschen, die sich für ein Lehramtsstudium Musik interessieren, über jeweils individuell ausgeprägte musikalische Kernkompetenzen verfügen müssen, liegt nahe. Um die Ansprüche an einen „vielfältigen“ Musikunterricht erfüllen zu können, müssen angehende Lehrkräfte aber auch musikalische Interessen, Fähigkeiten und Fertigkeiten in einer gewissen inhaltlichen Breite in ein Studium mitbringen. Die Zeit, in der sich künstlerische Profile von Musiklehrerinnen und -lehrern nur auf einen schmalen Bereich beschränken konnten, sind vorbei. So wäre es durchaus interessant, wenn Bewerberinnen und Bewerber in einer Eignungsprüfung auch Fertigkeiten in den Bereichen Rap oder Beatboxing vorweisen können – aber eben nicht ausschließlich.
Wie „berufsnah“ soll das Studium sein?
Wenn über Form und Inhalt von Eignungsprüfungen diskutiert wird, müssen auch Struktur und Inhalte des nachfolgenden Studiums in den Blick genommen werden. Aktuell scheint zumindest das gymnasiale Lehramtsstudium an den meisten Ausbildungsstandorten wie ein musikalisches Studium generale betrieben zu werden. Dieses wird wegen seines umfassenden Charakters zwar von vielen Seiten geschätzt, berufsnah und fokussiert im Sinne einer deliberate practice scheint es aber nicht immer zu sein. Entsprechend ernüchternd ist dann der Eintritt in das Referendariat. Wenn ein mehrjähriges Studium inklusive zusätzlicher mehrjähriger Vorbereitungszeit aber nur bedingt auf den beruflichen Alltag vorbereitet, kann auch das auf potenzielle Bewerberinnen und Bewerber abschreckend wirken. Nimmt man in diese Konstellation nun noch hinzu, dass Bewerber*innen mit unterschiedlichsten künstlerischen Schwerpunkten und Kernkompetenzen das Studium beginnen, stellt sich die Frage, wie durch ein entsprechend strukturiertes und inhaltlich angelegtes Studium alle Studierenden eine Ausbildung in einer Qualität und Breite erfahren könnten, die Voraussetzung für eine erfolgreiche spätere Berufspraxis sind.6
Wie soll Musikunterricht aussehen?
Hier aber liegt das eigentlich zentrale Problem unseres Fachs: Grundsätzlich kann die Frage, welche Fertigkeiten vor Studienbeginn geprüft und welche Inhalte im Studium vermittelt werden sollen, nur dann beantwortet werden, wenn geklärt ist, mit welchen beruflichen Anforderungen die Studierenden in ihrem späteren Berufsleben voraussichtlich konfrontiert sein werden. Allerdings ist nach wie vor weitgehend ungeklärt, wie qualitätvoller Musikunterricht auszusehen hat – oder gar in den kommenden Jahrzehnten aussehen könnte.7 Dies betrifft Inhalte, Ziele und Methoden unseres Fachs gleichermaßen.8 Noch bis vor wenigen Jahren schien es klar, dass diese Frage Top-down zu regeln sei. Doch die Zeit der großen und umfassenden didaktischen Modelle in unserem Fach scheint vorbei zu sein. Viele der sogenannten „musikpädagogischen Konzepte und Konzeptionen“ haben den Fachdiskurs zwar bereichert; keines der Modelle sich aber als das Eine bewähren können, das als „unverwechselbares, konsistentes System von begründeten Aussagen über wünschenswerte mp. Praxis“ das Fach „vollständig in den Blick“ nähme,9 allseits akzeptiert und zur Grundlage von Richtlinien, Curricula und schulischer Praxis geworden wäre. Stattdessen scheinen wir uns mit einer „postmodernen Pluralität von Konzeptionen“10 abgefunden zu haben. Die Folge davon ist, dass sich die im Beruf stehenden Musiklehrkräfte – aus Mangel an Orientierung – im bottom-up-Verfahren ihr eigenes viables Bild von praktikablem Musikunterricht konstruieren. Diesen so entstehenden Musikunterricht nun aber als defizitär zu bezeichnen, da in ihm „die Dimensionen des Künstlerischen keinen Platz finden, weil er sich zwischen unzulänglicher Reproduktion und mühsamer Reflexion bewegt“,11 erscheint unzulässig pauschalisierend und schon deshalb wenig hilfreich. Vor allem aber sind solche Äußerungen despektierlich gegenüber Musiklehrerinnen und -lehrern, die sich allen Widrigkeiten zum Trotz gute Unterrichtskonzepte und -materialien erarbeitet haben und Tag für Tag engagiert und erfolgreich unterrichten.
Ziele klären – den Prozess verändern
Es ist richtig: Die Probleme in unserem Fach sind real und dringlich. Im Jahr 2023, 100 Jahre nach Kestenbergs Reform und ein halbes Jahrhundert nach der „großen“ deutschen Bildungsreform der 1960er- und 1970er-Jahre, leidet das Schulfach Musik immer noch darunter, dass seine zentralen Ziele nicht auf eine Weise ausgehandelt und geklärt wurden und werden, die sowohl nach innen als auch nach außen zu nachvollziehbaren und akzeptablen Ergebnissen führen könnte. Doch erst wenn grundsätzlich geklärt ist, wann Unterricht im Fach Musik in welcher Schulart und Jahrgangsstufe und unter welchen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen qualitätvoller Unterricht ist, können wir mit etwas Sicherheit festlegen, über welche Fähigkeiten und Fertigkeiten Musiklehrkräfte verfügen müssen, welches Profil Bewerberinnen und Bewerber für ein Schulmusikstudium eingangs unter Beweis stellen sollen und welche Inhalte im Studium notwendig und welche entbehrlich sind.
Um bei diesem drängenden Problem zügig einen Schritt weiterzukommen, wäre es möglicherweise an der Zeit, den Prozess zu ändern. Statt sich zum wiederholten Mal am nächsten didaktischen Modell zu versuchen, das dann nach ein paar Jahren wieder im musikpädagogischen Konventionssumpf versickert, könnte sich beispielsweise eine heterogen besetzte Arbeitsgruppe der Frage widmen, wie der Musikunterricht von morgen aussehen sollte. Beteiligte einer solchen Arbeitsgruppe könnten etwa Lehrkräfte, Vertreterinnen und Vertreter von Musikdidaktik, Bildungsadministration und Berufsverbänden, Eltern und vor allem auch Schülerinnen und Schüler sein. Sicherlich wäre ein derartiger Prozess langwierig, mühsam und geprägt von vielen Unsicherheiten. Aber er könnte einen Ausweg aus dem eingangs umrissenen musikpädagogischen Bonini-Paradox bieten – einen gangbaren Weg zwischen der irreführenden Einfachheit simpler Lösungen und der verwirrenden Komplexität des aktuellen Diskurses. Einen Versuch wäre es wert.
Anmerkungen
1 Lehmann-Wermser, Andreas/Horst Weishaupt/Ute Konrad. Musikunterricht in der Grundschule. Aktuelle Situation und Perspektive, Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung, 2020, S. 10–11.
2 https://www.uni-potsdam.de/de/musik/neues/detail/2022-09-23-kooperative…
3 vgl. https://www.nmz.de/artikel/wenn-die-loesung-zum-problem-wird
4 Hierbei soll nicht der Eindruck entstehen, als würde der Autor keine Qualitätsunterschiede in den genannten Bereichen anerkennen. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Doch selbst ein Fachdiskurs wie der zum Thema „Flow“ als Qualitätsmerkmal im Rap oder Hip-Hop steckt noch in den Kinderschuhen, was eine Eignungsprüfung in der Teildisziplin „Rap“ zwar nicht unmöglich, aber aktuell schwer objektiv durchführbar machen dürfte.
5 Krupp, Valerie. Wirksamkeit von Musikunterricht. In: Reinhardt, Volker/Rehm, Markus/Wilhelm, Markus (Hrsg.). Wirksamer Fachunterricht. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 2021, S. 222.
6 Der Verfasser möchte hier nicht einer verschulten „Lehramtsausbildung“ anstelle einer Lehrerinnen- und Lehrerbildung mit den notwendigen Freiräumen das Wort reden. Dennoch müsste die Frage ernsthafter und gezielter angegangen werden, wie die Anliegen künstlerischen und ästhetischen „Freilaufs“ und der Ausbildung für ein recht klar umrissenes Berufsfeld unter einen Hut zu bringen sein könnten.
7 Die empirische Bildungsforschung unterscheidet „guten Unterricht“, der aus normativer Sicht des Fachs sinnvoll und wünschenswert ist, und „effektiven Unterricht“, der die angestrebten Unterrichtsziele erreicht. Liegt beides vor, wird von „qualitätvollem Unterricht“ gesprochen.
8 Vgl. Kranefeld, Ulrike. Der Diskurs um Unterrichtsqualität in der Musikdidaktik zwischen generischen und fachspezifischen Dimensionen, In: Unterrichtswissenschaft, 49, 2021, S. 221–233; Puffer, Gabriele / Hofmann, Bernhard. Professionelle Kompetenz(en) von Musiklehrkräften: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 25, 2022, S. 497–518.
9 Ott, Thomas. Konzeptionen, musikpädagogische. In: Helms, Siegmund/Schneider, Reinhard/Weber, Rudolf (Hrsg.). Lexikon der Musikpädagogik, Kassel: Gustav Bosse Verlag, 2005, S. 134.
10 Schatt, Peter. Einführung in die Musikpädagogik, Darmstadt: wbg Academic, 2021, S. 205.
11 https://www.nmz.de/artikel/wenn-die-loesung-zum-problem-wird