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„Lupen-Aspekte“ zur Reflexion inklusiven Musikunterrichts. Foto: Julia Lutz
„Lupen-Aspekte“ zur Reflexion inklusiven Musikunterrichts. Foto: Julia Lutz
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Gemeinsam Potenziale entdecken

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Musik und Inklusion: Ein Einblick in eine interdisziplinäre Kooperation in der Lehrerbildung
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Wenn es um Musik und Inklusion geht, gibt es vieles zu entdecken – insbesondere dann, wenn Personen mit unterschiedlicher Expertise, verschiedenen Arbeitsschwerpunkten und Interesse am Wissen und Erfahrungsschatz der anderen zusammenkommen, um gemeinsam neue Perspektiven und innovative Ansätze zu entwickeln. Ein Einblick in die „Basisqualifikation Musik + Inklusion“, die an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München in Kooperation von Musik- und Sonderpädagoginnen und -pädagogen als Lehrveranstaltung für Grundschulstudierende konzipiert wurde und mittlerweile regelmäßig stattfindet, zeigt beispielhaft, wie zukünftige Lehrerinnen und Lehrer auf inklusives Unterrichten vorbereitet werden können.

Verschiedene Blick- und Denkrichtungen

Werden Musik und Inklusion mit Blick auf den schulischen Unterricht in Verbindung gebracht, stehen meist der Musikunterricht und die Frage, wie dieser inklusiv gestaltet werden kann, im Mittelpunkt.1 Dieser Blick- und Denkrichtung lässt sich eine zweite, bisher im fachlichen Diskurs noch eher im Hintergrund stehende, hinzufügen, die von der Inklusion ausgeht und darauf zielt, musikalische Aktivitäten über das Fach Musik hinausgehend als Prinzip von inklusivem Unterricht zu betrachten und entsprechend einzusetzen. Beide Richtungen – „Musik inklusiv unterrichten“ und „Inklusiv unterrichten mit Musik“ (vgl. Lutz 2018) – werden in der „Basisqualifikation Musik + Inklusion“ auf verschiedenen Ebenen thematisiert. Dem Konzept dieser Lehrveranstaltung liegt ein weites Verständnis von Inklusion zugrunde, dessen Ausgangspunkt Heterogenität bezüglich unterschiedlicher Faktoren wie physische und psychische Voraussetzungen, kog­nitive, soziale und sprachliche Kompetenzen, Alter und Geschlecht, sozialer und kultureller Hintergrund sowie fachliche Vorerfahrungen ist.2 Die an der „Basisqualifikation Musik + Inklusion“ beteiligten Personen wechseln im Kurs immer wieder ihre Rolle als Lehrende beziehungsweise Lernende, lernen von- und miteinander und setzen sich dabei aus unterschiedlichen Perspektiven mit verschiedenen Facetten von Musik und Inklusion auseinander.

Die „Basisqualifikation Musik + Inklusion“ im Überblick

Zukünftige Grundschullehrkräfte, die sich für ein Studium an einer baye­rischen Universität entschieden und nicht das Fach Musik gewählt haben, besuchen als Vorbereitung auf ihren zukünftigen Musikunterricht die „Basisqualifikation Musik“ (Pflichtveranstaltung nach LPO I, 2008). Als Variante dieser Lehrveranstaltung entstand im Rahmen des Projekts „Inklusionsdidaktische Lehrbausteine“, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen der „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“, in einem interdisziplinären Team im Zeitraum 2015–2017 das Konzept der „Basisqualifikation Musik + Inklusion“. Ziel ist, den Erwerb musikdidaktischer Basiskompetenzen mit der Anbahnung von Handlungskompetenzen im Bereich von Inklusion zu verknüpfen. Sowohl das Kurskonzept als auch die entwickelten hochschuldidaktischen Materialien werden auch anderen Dozentinnen und Dozenten in der Lehrerbildung zur Verfügung gestellt, um in Lehrveranstaltungen das besondere Potenzial von Musik in inklusiven Lerngruppen zu thematisieren und dazu beizutragen, dass möglichst viele angehende Lehrpersonen bereits während des Studiums eine inklusive Haltung und eine Vorstellung von Handlungsmöglichkeiten entwickeln (Lutz 2018).

Da die musikbezogenen Vorerfahrungen der Studierenden, die einen Kurs der „Basisqualifikation Musik + Inklusion“ besuchen, sehr unterschiedlich sind, beschäftigen sich die Teilnehmenden nicht nur gedanklich mit Heterogenität, sondern erfahren bei der exemplarischen Erprobung unterrichtsbezogener Beispiele, in welch unterschiedlichen Formen sie sich in musikalische Aktivitäten einbringen können – mittendrin in der Gruppe, ab und zu vorne dran, und möglicherweise kommt irgendwann einmal das Gefühl auf, an die persönlichen Grenzen zu kommen. Diese Erfahrungen reflektieren die Teilnehmenden unter verschiedenen Aspekten und aus unterschiedlichen Sichtweisen, indem sie beispielhaft formulierte individuelle Perspektiven von Schülerinnen und Schülern einnehmen und sich über ihre Eindrücke austauschen. Beispiele für individuelle Voraussetzungen von Schülerinnen und Schülern, deren Perspektive die Studierenden in praktischen Musiziersituationen übernehmen:

  • Mir fällt Warten schwer. Ich möchte am liebsten gleich wissen, wie sich die Sachen anhören – also Instrumente, Gegenstände, eigentlich alles, was es um mich herum so gibt. Darum probiere ich auch immer gleich aus, wie etwas klingt.
  • Ich fühle mich wohl, wenn die ganze Gruppe aktiv ist.

Ausgangspunkt für die Reflexion sind außerdem sogenannte „Lupen-Aspekte“, anhand derer unterrichtsbezogene Beispiele immer wieder sys­tematisch unter die Lupe genommen werden: Selbstausdruck, Gruppenausdruck, Selbsterleben, Gruppenerleben, Konzentration und Aufmerksamkeit.

Bei der Verklanglichung eines Gedichts mit Orff-Instrumenten, Bodypercussion und Alltagsgegenständen könnte etwa gefragt werden: Wie bringe ich mich in den Prozess des Musik-Erfindens ein? Wie nehme ich die von mir erzeugten Klänge und Geräusche im Zusammenspiel mit jenen der anderen wahr? Wie wirken wir als Gruppe zusammen? Wie wirkt unsere Präsentation auf die Zuhörenden?

Inhaltlich deckt die Lehrveranstaltung alle Lernbereiche des Fachs Musik ab – von Singen, Stimme und Lied­erarbeitung über Rhythmusschulung, Musik machen und erfinden mit verschiedenen Klangerzeugern, die Verknüpfung von Musikhören mit vielfältigen Aktivitäten und die Umsetzung von Musik in Bewegung, Tanz und szenische Elemente. Zudem werden Möglichkeiten thematisiert, wie Kinder mit unterschiedlichen Voraussetzungen beim Einbeziehen musikalischer Elemente in den Schulalltag – ein Lied zur Begrüßung, ein Sprechstück mit Bodypercussion zwischendurch – ebenso wie in inhaltlich, methodisch und medial vielfältig gestalteten Musikstunden Musik gemeinsam erleben und dabei gemeinsam wachsen können. In diesem Zusammenhang wird auch berücksichtigt, wie Musik für Kinder mit verschiedenen Förderbedarfen aus der Sicht der im Projekt vertretenen Förderschwerpunkte – emotionale und soziale Entwicklung, geistige Entwicklung, Hören, Lernen und Sprache – erfahrbar, spürbar und begreifbar gemacht werden kann.

Rückblick und Ausblick

Wie schätzen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der „Basisqualifikation Musik + Inklusion“ die Verbindung von Musik und Inklusion in einem Musik-Basiskurs ein? Was betrachten sie als besonders gewinnbringend? Die Sicht der Studierenden auf die Lehrveranstaltung verdeutlichen Ergebnisse aus der Evaluation der bis einschließlich Sommersemester 2018 durchgeführten fünf Kurse. Diese wurden qualitativ und quantitativ anhand eines teilstandardisierten Fragebogens mit offenen und geschlossenen Fragen (Antwortmöglichkeiten auf fünfstufiger Skala) und eines leitfadenbasierten Gruppengesprächs jeweils am letzten Kurstag evaluiert. Es liegen 80 ausgewertete Fragebögen vor sowie die Auswertung der fünf Gruppengespräche auf der Basis einer zusammenfassenden Inhaltsanalyse (vgl. Mayring 2008) und der Entwicklung eines entsprechenden Kategorienschemas. Alle Befragten haben Musik nicht als Studienfach gewählt; 23 von ihnen studieren Lehramt Förderschule mit einer sonderpädagogischen Fachrichtung, 57 studieren Lehramt Grundschule ohne Förderschwerpunkt. Ihre Vorkenntnisse im Bereich Inklusion schätzen die Teilnehmenden im mittleren Bereich ein (Ich hatte vor Beginn des Kurses bereits Vorwissen / Vorerfahrungen zum Thema Inklusion / inklusiver Unterricht: M = 3,20; SD = 1,43; fünfstufige Skala von 1 = trifft überhaupt nicht zu bis 5 = trifft voll und ganz zu). Die Berücksichtigung inklusiver Aspekte in Verbindung mit musikalischen und musikdidaktischen Basis-Elementen halten die Studierenden für sehr gewinnbringend (M = 4,55; SD = 0,75) und dass dem praktischen Erproben unterrichtsbezogener Beispiele in der Seminargruppe viel Raum eingeräumt wird, betrachten die Studierenden als sehr positiv (M = 4,85; SD = 0,43). „Wichtig war, ganz vieles praktisch auszuprobieren, damit man sich in die Kinder hineinversetzen kann. Man konnte sehen, wie viel im Musik-unterricht an Inklusion drinsteckt und möglich ist“ (Studentin im Kurs Sommersemester 2017).

In ihren Antworten auf eine offene Frage im Fragebogen nach Elementen mit besonderer persönlicher Relevanz sowie in den leitfadengestützten Gruppengesprächen kommt klar zum Ausdruck, dass die Teilnehmenden den eigenen Erfahrungen in der heterogenen Seminargruppe und dem Kennenlernen und Entdecken vielfältiger Möglichkeiten, die Musik in Verbindung mit Inklusion bietet, eine hohe Bedeutung einräumen. Bei der exemplarischen Durchführung musikpraktischer Aktivitäten und der anschließenden Reflexion wird den Studierenden bewusst, dass Lernende mit unterschiedlichen Vorerfahrungen sich auf ganz verschiedenen Ebenen aktiv am musikalischen Geschehen beteiligen und dazu beitragen können. Darüber hinaus entwickeln sie Bewusstsein dafür, dass eine differenzierte Sicht der Lehrperson auf jeden einzelnen Lernenden und damit verbunden auf die inhaltlichen, methodischen und medialen Elemente ein wichtiger Ausgangspunkt und ein entscheidender Gelingensfaktor von inklusivem Unterricht ist. „Besonders gewinnbringend waren die verschiedenen Ideen zum Umgang [mit Inklusion] und ganz besonders die Denkanstöße, die als Lehrperson immer wieder getätigt werden sollten“ (Studentin im Kurs Sommersemester 2017).

Zu entdecken gibt es im Rahmen einer interdisziplinären Kooperation mit Inklusion als gemeinsamem Mittelpunkt nicht nur das vielfältige, mit musikalischen Aktivitäten verbundene beziehungsweise von ihnen ausgehende inklusive Potenzial, sondern auch neue Perspektiven, die sich im Austausch aus verschiedenen fachlichen Blickrichtungen und aus der jeweiligen Sicht auf eine inklusive Unterrichtsgestaltung heraus auftun und sich den Studierenden ebenso wie dem Dozententeam eröffnen. Wenn Studierende, die Musik als nicht-studiertem Fach bisher wenig nah oder eher mit Vorbehalten gegenüberstanden, über die Inklusion für sich und für ihre spätere Unterrichtstätigkeit einen Zugang zur Musik entdecken, wird deutlich, dass der zweiten Blick- und Denkrichtung „Inklusiv unterrichten mit Musik“ in der Lehrerbildung viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte, als dies bisher der Fall ist. Musik als festes Element im inklusiven Schulalltag zu verankern, heißt nicht, einem inklusiv gestalteten Musikunterricht weniger Beachtung zu schenken. Vielmehr sollten beide Ansatzpunkte in der Lehrerbildung wie in der Schulpraxis präsent sein. Ein entsprechendes Angebot an Kursen für Lehramtsstudierende ist Voraussetzung dafür, dass Lehrerinnen und Lehrer Handlungskompetenzen für inklusives Unterrichten mit Musik und in Musik entwickeln. Bestenfalls – und das ist unbedingt zu wünschen – werden solche Qualifizierungsmaßnahmen auch für weiterführende Schulen angeboten und richten sich gleichermaßen an zukünftige Lehrende mit sonderpädagogischem Schwerpunkt wie an solche ohne. Und bestenfalls wirken im Rahmen solcher Angebote Schulen, Universitäten und Hochschulen sowie die Seminare der zweiten Phase der Lehrerbildung zusammen, um die Teilnehmenden aus ihren unterschiedlichen Perspektiven im Austausch inklusives Potenzial entdecken zu lassen.

Julia Lutz
Die Autorin ist Professorin für Musikpädagogik/Musikdidaktik mit Schwerpunkt Grundschule an der Folkwang Universität der Künste Essen.


Anmerkungen

1     Diese Sichtweise kommt sowohl in Veröffentlichungen zum Ausdruck, die sich auf beschreibend-reflexiver Ebene mit Musikunterricht beschäftigen (vgl. z.B. Dehler 2016; Eberhard 2017; Laufer 2016; Tischler 2016; Vogel 2016), als auch in solchen, die didaktische Aspekte in den Mittelpunkt stellen und konkrete Anregungen für eine inklusive Unterrichtspraxis bieten (vgl. z.B.  Eberhard & Höfler 2016; Schmitt-Bosslet 2017; „Musik und Unterricht“ Heft 124/2016 zum Schwerpunktthema Inklusion)
2    Ein solches weit gefasstes Verständnis von Inklusion kommt z.B. in folgenden musikpädagogischen Veröffentlichungen zum Ausdruck: Eberhard 2017; Eberhard & Höfler, 2016; Laufer 2016; Schmitt-Bosslet 2017; Tischler 2016; Vogel 2016.


Literatur

  • Dehler, T. (2016). Dabei sein alleine ist noch nicht alles; zum Zusammenspiel von Fachdidaktik und Förderpädagogik im inklusiven Musikunterricht. In: Diskussion Musikpädagogik 70/16, S. 23–30.
  • Eberhard, D.M. (2017). Inklusiver Musikunterricht. Ein Musikunterricht für alle!? In: nmz 9/17, S. 30.
  • Eberhard, D.M. & Höfler, U. (2016). Inklusions-Material Musik Klasse 5–10. Berlin, Cornelsen.
  • Laufer, D. (2016). „Ein gutes Leben für alle“. Grundlegende Betrachtungen zum inklusiven Musikunterricht. In: Diskussion Musikpädagogik 70/16, S. 30–35.
  • Lutz, J. (2018). Musik inklusiv unterrichten – Inklusiv unterrichten mit Musik. Überlegungen, Ansätze und Perspektiven zur Verbindung fachlicher und inklusiver Aspekte aus deutscher Sicht. In: Musica Docta Bd. 8/2018 (erscheint im Dezember 2018).
  • Mayring, P. (2008). Qualitative Inhaltsanalyse: Grundlagen und Techniken (10. Auflage). Weinheim: Beltz.
  • Musik und Unterricht Heft 124/2016 zum Schwerpunktthema Inklusion.
  • Schmitt-Bosslet, S. (Hrsg.) (2017). Inklusions-Material Musik Klasse 1–4. Berlin: Cornelsen.
  • Tischler, B. (2016). Inklusion und ihre möglichen Folgen für den Musikunterricht. Ein Beitrag zur musikpädagogischen Inklusionsdiskussion. In: Diskussion Musikpädagogik 70/16, S. 10–19.
  • Vogel, C. (2016). Inklusion und Partizipation. Ansprüche an eine zeitgemäße Musikpädagogik. In Diskussion Musikpädagogik 70/16, S. 4–9.
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