VBS: Zuerst vielen Dank, Frau Stoll, dass Sie sich für ein Interview mit dem Verband bayerischer Schulmusiker Zeit nehmen. Würden Sie sich bitte kurz vorstellen und erzählen, welche Tätigkeiten im Moment hauptsächlich ihre Zeit beanspruchen?
Claudia Stoll: Ich unterrichte die Fächer Musik und Katholische Religion und bin seit über 20 Jahren in der Seminararbeit tätig. Momentan arbeite ich mich in das Aufgabengebiet der Zentralen Fachleitung ein, wozu ich Mitte Februar 2014 ernannt wurde. In dieser Funktion ist mir die enge Zusammenarbeit mit meinen Kolleginnen und Kollegen, die an den Seminarschulen für Musik tätig sind, äußerst wichtig. Einheitliche Beurteilungskriterien hinsichtlich der Prüfungsteile spielen dabei eine wesentliche Rolle genau wie die gemeinsame Abstimmung der Ausbildungsinhalte. Auch neue Seminarlehrer im Fach Musik bereite ich auf ihre verantwortungsvolle Aufgabe vor und stehe ihnen als Ansprechpartner zur Verfügung. Darüber hinaus suche ich den Kontakt zu den Universitäten, um frühzeitig auf die Anforderungen hinzuweisen, die im Vorbereitungsdienst an die Referendare gestellt werden. Zu meiner Hauptaufgabe gehört aber nach wie vor die Ausbildung der Referendare im Fach Musik an der Realschule.
VBS: Es werden an immer mehr Realschulen Klassenmusiziermodelle eingeführt. Worin liegen ihrer Meinung nach die Stärken bzw. die Schwächen dieser Unterrichtsform gegenüber dem allgemeinbildenden Musikunterricht?
Stoll: Die Stärken dieser Modelle liegen meines Erachtens klar auf der Hand: Selbst intensiv zu musizieren – noch dazu in der Klassengemeinschaft – spricht viele Schüler an. Mit diversen Modellen, seien es Band-, Chor- oder Bläserklassen, können Schüler musikalische Erfahrungen machen, die nicht nur musikalische Kenntnisse vertiefen und erweitern, sondern ihr Leben bereichern und sich möglicherweise auch auf die spätere Berufswahl auswirken können. Darüber hinaus werden die Schülerinnen und Schüler befähigt, auch in der Freizeit in verschiedenen musikalischen Ensembles zu musizieren und somit am öffentlichen Musikleben teilzunehmen. Besonders intensiv habe ich bei meinen Bläserklassen die Auftritte erlebt, bei denen sich die Schüler stets optimal präsentierten und bereits in der Vorbereitung sehr viel Teamfähigkeit – eine wesentliche Kompetenz – bewiesen haben.
Dennoch will ich auch nicht verschweigen, dass sich durch das wöchentliche Musizieren in einer der beiden Musikstunden die weiteren verbindlichen Lehrplaninhalte (wie z.B. musikgeschichtliche Inhalte oder aktuelle Musik) in der zweiten wöchentlichen Stunde drängten und oftmals schneller bearbeitet werden mussten, um die Schüler dennoch umfassend auf die nächste Jahrgangsstufe vorzubereiten. Denn trotz aller positiven Modelle ist es nach wie vor unsere Aufgabe, den Schülern eine allgemeine Bildung und ein solides Grundwissen zu vermitteln.
VBS: Musik ist an der Realschule kein Vorrückungsfach. Sollte sich dies aus Ihrer Sicht ändern und wenn ja, warum?
Stoll: Immer wieder beobachte ich, wie interessiert viele unserer Schüler am Fach Musik sind und wie sorgfältig sie sich auf den Unterricht vorbereiten. Deshalb kann ich nicht nachvollziehen, warum die Leistung, die die Schüler in diesem Fach bringen – sei es in Form von mündlichen Beiträgen, Stegreifaufgaben oder Kurzarbeiten –, nicht angemessen honoriert wird und den Schülern damit z.B. auch die Möglichkeit des Notenausgleichs verwehrt wird. Und selbst der Praxisanteil unseres Faches kann ja nicht entscheidend sein, denn der Musikunterricht am Gymnasium ist seit etlichen Jahren ab der 7. Jahrgangsstufe Vorrückungsfach. Um diesem Fach, das dem Schüler die Musik und ihre „Bedeutung als unverzichtbarer Bestandteil des Weltbildes“ (Zitat aus dem Fachprofil des geltenden Lehrplans) näherbringt, auch an der Realschule mehr Gewicht zu verleihen, muss es dringend zum Vorrückungsfach erklärt werden.
VBS: Die Arbeitsbelastung von Musiklehrern ist durch die Nichtwissenschaftlichkeit des Faches, durch eine große Anzahl von zu unterrichtenden Schülern, durch die vielen Aktivitäten zur Gestaltung des Schullebens, die von Musiklehrkräften ganz selbstverständlich erwartet werden, sehr hoch. Welche Argumente sprechen Ihrer Meinung nach für die Anpassung der Unterrichtspflichtzeit von Musiklehrkräften an das Stundenmaß von Lehrkräften, die ein sogenanntes wissenschaftliches Fach unterrichten?
Stoll: Wenn ich mit den Referendaren erstmals über den Status unseres Faches spreche, so können sie nie verstehen, warum sie mit einem wissenschaftlichen Hochschulstudium, in dem sie in zwei gleichberechtigten Fächern ausgebildet wurden (z.B. Musik und Religion), nun das Fach Musik an der Realschule nicht-wissenschaftlich unterrichten sollen. Das damit verbundene erhöhte Stundenmaß, das aus Zeiten stammt, in denen im Unterricht hauptsächlich gesungen wurde, lässt sich spätestens mit der Einführung des umfangreichen Curricularen Lehrplans in den 80er-Jahren nicht mehr nachvollziehen. Auch der hin und wieder angeführte geringere Korrekturaufwand gegenüber einem Kernfach ist im Vergleich mit dem eines wissenschaftlichen Nebenfaches absolut identisch. Darüber hinaus hat der Musiklehrer viele weitere Aufgaben, um das Schulleben zu gestalten – Aufgaben, deren Vorbereitung oft zusätzlich zur Unterrichtszeit erfolgt und die sehr viel mehr Engagement erfordern, als bei manchem anderen wissenschaftlichen Fach. Deshalb sehe ich hier dringend Handlungsbedarf: Die Unterrichtszeit des Musiklehrers muss an die des Kollegen, der ein wissenschaftliches Fach unterrichtet, angepasst werden.
VBS: Welche Arbeitsfelder sehen Sie noch, um die Situation des Musikunterrichts und seiner Lehrkräfte an Realschulen zu verbessern?
Stoll: Ein äußerst großes Problem stellt die Einstündigkeit des Faches ab der Jahrgangsstufe 7 dar. An vielen Schulen wird zudem der Unterricht epochal erteilt, was zu einer vorübergehenden Zweistündigkeit und einer intensiveren Auseinandersetzung mit fachlichen Inhalten führt. Allerdings hat der Epochalunterricht den Nachteil, dass lediglich in einem Halbjahr Musikunterricht stattfindet und die Lücke bis zum nächsten – aufbauenden – Musikunterricht mehr als sechs Monate beträgt. Deshalb bin ich der Meinung, dass der Musikunterricht nur dann wirklich nachhaltig und effektiv ist, wenn er kontinuierlich zweistündig erteilt wird.
Ein weiteres Problem ist die Ausstattung mancher Schulen mit nur einem Musiksaal, sodass die Hälfte der Unterrichtsstunden im Klassenzimmer stattfinden muss. Eine echte „Musik“-Stunde ist hier kaum möglich, wenn direkt nebenan Unterricht stattfindet bzw. Leistungsnachweise geschrieben werden. Die Schaffung eines zweiten Musiksaals ist für ein pädagogisch sinnvolles Unterrichten absolut notwendig.
VBS: Welche Gründe sehen Sie für die Schere zwischen Musik als Freizeitbeschäftigung bei Jugendlichen (obere Ränge) und dem Stellenwert des Musikunterrichts bei Jugendlichen (kaum Lieblingsfach Musik)?
Stoll: Musik, die in der Freizeit konsumiert wird, wird nicht analysiert und nicht hinterfragt, sondern lediglich nach den Kriterien „gefällt“ oder „gefällt nicht“ ausgewählt. Diese Auswahl nimmt im schulischen Musikunterricht (in den meisten Fällen) der Lehrer vor und darüber hinaus werden Hörbeispiele analysiert, z.B. bezüglich Besetzung oder Form. Diese lehrerzentrierte Vorgehensweise geht oftmals am Schüler vorbei und erzeugt Desinteresse beim Schüler. Eine Untersuchung aus dem Jahr 2009 beweist, dass guter Musikunterricht schülerzentriert ist, wobei handlungsorientierte Methoden und das praktische Musizieren im Vordergrund stehen. Je mehr sich die Schüler einbringen können, desto mehr steigt auch ihr Interesse am Fach. Referate und Arbeiten in der Gruppe mit anschließender Präsentation geben den Schülern die Möglichkeit, sich eigenständig mit einem Thema zu beschäftigen und somit die für sie relevanten Inhalte herauszuarbeiten. Darüber hinaus sind natürlich die pädagogische und fachliche Qualifikation des Lehrers und die äußeren Rahmenbedingungen (Stundenanzahl pro Woche, Ausstattung der Schule) für die Akzeptanz des Musikunterrichts ausschlaggebend.
VBS: Der neue Lehrplan, der ab 2017 sukzessive in Kraft treten wird, fordert von den Lehrkräften ihren Schülern Kompetenzen zu vermitteln. Welche Kompetenz erscheint Ihnen als die wichtigste, die der Musikunterricht Jugendlichen vermitteln soll?
Stoll: Der Musikunterricht soll die Schüler zur bewussten und kritischen Teilnahme am öffentlichen Musikleben befähigen. Damit leisten wir einen wesentlichen Beitrag zur kulturellen Erziehung. Damit das gelingt, statten wir die Schüler mit musikalischen Kenntnissen und Fähigkeiten stets in der Verbindung von Theorie und Praxis aus. Unser Fach spricht somit die emotionale, rationale und psychomotorische Seite der Schüler an, und die Schüler lernen folglich mit Herz, Hand und Verstand. Wie viele Fächer können das von sich schon behaupten?
Das Interview führte Martina Raab