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Im Puls des Humanen

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Zum Gedenken an Bernd Lücking
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Verborgen in der innersten, sensibelsten und zärtlichsten Schatzkammer der Musik wohnt sie, jene Magie, die Inneres und Äußeres, Körper und Geist, Denken und Fühlen, Rationales und Irrationales zusammenfinden und zusammenfließen lässt. Was sonst gegensätzlich und getrennt sein mag, amalgamiert hier.

Grenzen von Zeit und Raum verschwimmen im Flow des Musikmachens, im gemeinsamen Geben und Nehmen, im Beitragen und Mitgenommensein, in der konkreten, Klang gewordenen Utopie von Menschlichkeit. Jungen Menschen den Weg zu dieser geheimen Schatzkammer zu beleuchten, gemeinsam passende Schlüssel zu den Türen zu suchen und zu finden, dann den Raum zu betreten und den strahlenden Zauber Klang gewordener Humanität zu erleben, ist wohl das größte und wertvollste Geschenk, das eine Musiklehrkraft ihren Schülerinnen und Schülern überhaupt machen kann. Und umgekehrt: Auch wer als Musiklehrer jemals die Energie spüren durfte, die sich in diesem Raum freisetzt, wird die Erfahrung ein Leben lang nicht vergessen.

Bernd Lücking kannte den Ort, und er wusste, wie man hinkommt. Er bahnte die Wege dorthin im schulischen Musikunterricht, in seinem Chor, in Schultheatermusiken, in seiner Pionierarbeit mit der AG Percussion – und auch außerhalb der Schule, etwa als Gründer und Frontmann der Folk-Band „Farnhag“, die von 1980 bis 1988 bestand und in der zeitweise auch der Kabarettist Holger Paetz mitspielte, mit der Band „Jera“, die er gemeinsam mit seiner Frau Eva Lücking und ehemaligen Schülerinnen und Schülern gründete, und in diversen anderen Formationen. Das notwendige musikalische Rüstzeug für all diese Aktivitäten erwarb er im Schulmusikstudium an der Musikhochschule München, im Rahmen einer Ausbildung am Rhythmikon München bei Prof. Amélie Hoellering und zu guten Teilen autodidaktisch.

Musik auf den Leib und ins Herz geschrieben

Wie ein Klangschamane hörte Bernd Lücking in die Menschen hinein, und er fand Musik, die zu den Individuen und Gruppen passte und ihnen als Schlüssel diente. Fast alle Stücke für seine Ensembles komponierte und arrangierte er selbst, schrieb seinen Gruppen Musik auf den Leib und ins Herz. Multiinstrumentalist*innen und Jugendliche ohne musikalische Vorerfahrungen konnten so auf Augenhöhe miteinander musizieren und Musik auf die Bühne bringen, die auch außerhalb der Schule gut ankam – auf Stadtteilfesten, bei Musikfestivals, bei Gastauftritten an anderen Schulen, beim Bayerischen Rundfunk und Ende der 1980er Jahre auch bereits auf den „Tagen der Bayerischen Schulmusik“.

Gemeinsames „In-Musik-Sein“, gemeinsam „im Puls sein“ waren wichtige Grundpfeiler von Bernd Lückings musikalischer Arbeit. Die Schülerinnen und Schüler spürten das, sie spürten die achtsame Innerlichkeit, die ihn so authentisch und unverwechselbar machte, und ließen sich bereitwillig auf immer neue musikalische Wege führen. War man Mitglied in der AG Percussion, dann veränderte das ganz nebenbei auch den Musikbegriff: Über die übliche Folge von Liedern, Chorstücken und Instrumentalmusik hinaus, die man so lange übt, bis man sie beherrscht, vermittelte Bernd Lücking Musik ganz selbstverständlich als etwas, das kontinuierlich neu entsteht und an dessen Genese man sich aktiv beteiligen kann. Musikalischer und sozialer Prozess waren genauso wichtig wie das entstehende Produkt. Uraufgeführt wurden die Stücke und Chorarrangements des „Meisters“ – so nannten ihn mehrere Generationen von Jugendlichen ehrfürchtig und mit einem Schuss Ironie – in jedem der drei jährlichen Schulkonzertprogramme, die er am Michaeli-Gymnasium München gestaltete. „Die Percussiongruppen boten ein Feuerwerk an Rhythmen und Klängen – die Kompositionen des AG-Leiters Bernd Lücking waren und bleiben Höhepunkte der MGM-Konzerte“, so beschreibt es eine Kritik. Wenn sich seine Trommel-Ensembles in Bewegung setzten, den „Meister“ mit Pandeiro und Trillerpfeife an der Spitze, und mit stupender Präzision auf Surdo, Repinique und Tamborim loslegten, sprühten die Funken.

Weltmusik und Weltinstrumentarium

Außer feurigem Samba, Salsa und Son gab es aber auch leise, feine und meditative Töne – gerne auf der Basis melodischer Streifzüge durch Mittelalter und Renaissance, durch Rabat, Rio, Dublin oder Trudering. Organisch sich entfaltende rhythmische Schichten ergaben musikalische Strukturen, die an die Minimal Music eines Steve Reich erinnern. Die Blässe altvertrauter (um nicht zu sagen: abgedroschener) Weisen verschwand, wenn sie sich im taufrischen Klanggewand hören ließen, ausstaffiert aus einem schier unerschöpflichen Fundus an Instrumenten. Denn dieser Begriff war bei Lücking weit gefasst, er bezog Musikinstrumente und -gerätschaften aus aller Welt genauso ein wie Selbstgebautes, Körper, Stimme und Alltagsgegenstände – etwa im Konzept „Bankpercussion“, das er zusammen mit Eva Lücking entwickelte, oder in seinem „Flaschensong“ aus dem MGM-Musical „Stadtpuls“ (1988): Das Stück für Band und Bierflaschenbläserensemble wurde in jeder Aufführung von einem begeisterten Publikum zur Wiederholung gefordert, eine Rundfunkaufnahme des Songs liegt im Archiv des Bay­erischen Rundfunks.

Treffsicher erkannte Bernd Lücking die klangliche Eigenart, den klanglichen Eigenwert eines jeden Gegenstands und brachte sie in originellen Kombinationen zur Geltung. Wer beispielsweise (wie Bernhard Hofmann, bevor er 1985 Bernd Lückings Kollege an der Schule wurde) Xylophone aus dem Orffschen Instrumentarium mit drögem Geklöppel assoziiert, mag Videos von Lückings Schulkonzerten auf  YouTube ansehen und staunen, was man mit solchen Instrumenten alles anstellen kann – nicht nur im Konzert, sondern auch beim Theater, etwa in der klanglich und atmosphärisch dichten musikalischen Ausgestaltung von Sophokles’ „Antigone“ (1993).

Junge Menschen annehmen, wie sie sind

Menschen zuzulassen, wie sie kommen, sie so anzunehmen, wie sie an und für sich sind – und nicht mit Blick darauf, wie sie sein sollten und was von ihnen erwartet wird: Diese Maxime des Humanen charakterisierte nicht nur Bernd Lückings musikpädagogische Arbeit, sondern auch sein Handeln außerhalb von Schule. Generationen von Menschen hat er zum Wachsen und Werden angeregt, sie dabei begleitet, ihre Potenziale zu entdecken und zu entfalten, und damit musikalische Bildung in unvergleichlicher Weise initiiert und gefördert. Er lebte ein tolerantes und akzeptierendes Miteinander in ganz selbstverständlicher Weise vor. Vielen seiner „Ehemaligen“ war er über die Schulzeit hinaus in Freundschaft verbunden. Er ließ es sich nicht nehmen, zum Geburtstag und zu Weihnachten selbst bespielte Kassetten und später CDs mit spezieller Musik- und Textauswahl zu verschicken, gründete einen Ehemaligenchor und eine Ehemaligen-Percussionsgruppe.

Bankpercussion und Schulische Ensemblepraxis

Fast 40 Jahre lang wirkte Bernd Lücking als Musiklehrer am Michaeli-Gymnasium in München. Seine Arbeit als Schulmusiker stellte eine ganze Schule vom Kopf auf die Füße. Eine Lokalzeitung beschrieb ihn u
u zu Recht als „Musiklehrerlegende von Berg am Laim“. Und auch Generationen von Musiklehrkräften wurden von ihm geprägt: Über viele Jahre hinweg hatte er gemeinsam mit Eva Lücking an der Musikhochschule München Lehraufträge für schulische Ensemblepraxis inne. Die beiden fehlten bei kaum einem regionalen oder überregionalen Fortbildungskongress als Referentenpaar, ihre Bank- und Bodypercussion-Workshops zählten regelmäßig zu den Highlights bei den „Tagen der Bayerischen Schulmusik“. Einige ihrer Ideen und Methoden publizierten Eva und Bernd Lücking auch in Fachzeitschriften.

Was bleibt?

Am 19. Oktober 2021 ist Bernd Lücking nach langer, schwerer Krankheit im Alter von 68 Jahren von uns gegangen. Was er hiergelassen hat? An vielen bayerischen Schulen geht eine Saat auf, die er jahrzehntelang ausbrachte: hier mit einer Percussion-AG, dort in vergnüglichen Stunden mit den „Spinnen in der Badewanne“ oder der wunderbaren Bodypercussion zu Camille Saint-Saëns’ „Elefant“. Das Wichtigste aber brachte eine „Ehemalige“ in ihrer Reaktion auf die Nachricht seines Todes zum Ausdruck: „Mein Hauptbezugspunkt im Gymi und der Lehrer und Meister, wegen dem ich andauernd länger geblieben bin, weil er Chor und Percussion mit so viel Herzblut und Liebe mit uns gemacht hat. Niemals hätte auch nur irgendjemand vorher gedacht, dass ich einen geraden Ton singen kann, aber er hat mich dazu ermutigt, mich zu trauen. War es Zufall, dass ich gestern am späten Vormittag im Radio ‚Losing my religion‘ hörte und lautstark mit der mir nach wie vor bekannten Altstimme von damals mitsang?“

 

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