Deutschlands Schülerinnen und Schülern fehlen basale Kompetenzen im Lesen und Schreiben, in Mathematik, aber auch im sozial-emotionalen Bereich. Entsprechende Alarmrufe aus den Bildungswissenschaften verhallten in den vergangenen Jahren weitgehend ungehört. Anders die Veröffentlichung der jüngsten PISA-Ergebnisse im Dezember 2023: Bayerns Ministerpräsident Söder bezeichnete sie als „ Schlag ins Gesicht Deutschlands“, Kultusministerin Anna Stolz propagiert „Stärkung der Basiskompetenzen und der individuellen Förderung“ und verordnet den Grundschulen „deutlich mehr Zeit und Raum für Lesen, Schreiben, Rechnen“. Klar ist: Das geht nicht ohne Stundenkürzungen in anderen Bereichen. Der VBS wandte sich deshalb mit einem offenen Brief an die Kultusministerin.
Keine Kürzung des Musikunterrichts!
Erlangen, 27. Januar 2024
Sehr geehrte Frau Staatsministerin,
der „Verband bayerischer Schulmusiker“ e. V. (VBS) ist der älteste und mit-
gliederstärkste Fachverband für Musiklehrkräfte in Bayern. Wir setzen uns ein für qualitätvollen Musikunterricht an allen Schularten. Der VBS ist Mitglied des Bayerischen Musikrats und kooperiert mit Institutionen musikalischer und kultureller Bildung wie der Bayerischen Landeskoordinierungsstelle Musik (BLKM), dem Referat für Künstlerisch-kulturelle Bildung im Staatsministerium für Unterricht und Kultus und dem Landesverband Bayern des Bundesverbands Musikunterricht (BMU). Als Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Schulmusik (DGS) sind wir zudem mit Sitz und Stimme im Deutschen Musikrat vertreten.
Bayerns Kinder stark machen
Heute wenden wir uns mit einem dringenden Anliegen an Sie: Es geht um das geplante Maßnahmenpaket für Bayerns Grundschulen. Wir begrüßen ausdrücklich Ihr Vorhaben, die Basiskompetenzen in Lesen, Schreiben und Rechnen zu stärken: Nur so lassen sich Bildungschancen für alle Kinder ungeachtet ihrer Herkunft sicherstellen. Das Beherrschen der deutschen Sprache in Wort und Schrift ist Voraussetzung für alles weitere fachliche und soziale Lernen.
Besonders freut uns, dass Ihr oberstes Ziel darin besteht, Bayerns Kinder stark zu machen. Und hier möchten wir Sie auch gleich beim Wort nehmen: Um Kinder zu starken, kompetenten, mündigen Persönlichkeiten heranzubilden, braucht es mehr als einen Fokus auf die Kernkompetenzen. Dieses Anliegen ist nur mit ganzheitlicher Bildung von Kopf, Herz und Hand erfüllbar, wie sie uns Artikel 131 der Bayerischen Verfassung zum Auftrag macht. Dazu leistet das Fach Musik traditionell einen sehr wesentlichen Beitrag, der nicht beliebig reduziert oder gegen den anderer musischer Fächer ausgetauscht werden kann. Musikunterricht und musikalische Aktivitäten können wesentlich zu sprachlicher und sozial-emotionaler Bildung beitragen – und damit zu zwei der drei basalen Kompetenzbereiche, deren Förderung die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) bereits Ende 2022 dringend angemahnt hat. Nicht ohne Grund sieht der LehrplanPLUS für Bayerns Grundschulen musikalische Aktivitäten in den Fächern Deutsch, Deutsch als Zweitsprache, Englisch und Religion explizit vor.
Musikalisch-ästhetische Erfahrungen und gelingendes Leben
Solche musikalischen Inhalte in anderen Unterrichtsfächern können aber den Klassenunterricht im Fach Musik mit der Zielperspektive „Musik lernen“ nicht ersetzen. Schulischer Musikunterricht hat einen eigenständigen Bildungsauftrag, der sich aus der bayerischen Verfassung ebenso ableiten lässt wie aus dem UNESCO-Leitfaden für kulturelle Bildung, den KMK-Empfehlungen zur kulturellen Kinder- und Jugendbildung oder der Handreichung des ISB zum Wertefundament des LehrplanPLUS: Zur Entfaltung einer ganzheitlich gebildeten Persönlichkeit sind Lerngelegenheiten zwingend erforderlich, die intensive und vielfältige Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur beinhalten. Musikalische Bildung als Teilbereich kultureller Bildung ist Voraussetzung für gelingende Biografien und für gutes Leben im Sinne eines selbstbestimmten und erfüllten Daseins. Kinder müssen die Möglichkeit haben, musikalisch-ästhetische Erfahrungen zu machen. Musikunterricht mit seinen „vielsinnigen“ Lernzugängen eröffnet Kindern Möglichkeiten der Selbst- und Weltbegegnung, die kein anderes Unterrichtsfach in dieser Kombination bieten kann.
Kulturelle Teilhabe und friedliches Miteinander
Chancen kultureller Teilnahme und Teilhabe für alle Kinder sind auch im Dienst eines friedvollen Zusammenlebens in einer sich verändernden Gesellschaft essenziell. Schulischer Musikunterricht lebt von handlungsorientierten Zugängen und hat eine starke Tradition inter- und transkultureller Erziehung. Musiklehrkräfte sind geübt darin, Kinder einerseits unmittelbar und ganzheitlich mit dem kulturellen Erbe ihrer (vielleicht auch noch neuen) Heimat Bayern vertraut zu machen und andererseits Verständnis und Wertschätzung für Musik und musikalische Praktiken anderer Herkunft anzubahnen. Um kulturelle Leistungen in Gegenwart und Vergangenheit wertschätzen, kulturelles Erbe pflegen und einen respektvollen Umgang miteinander einüben zu können, brauchen Kinder qualifiziert erteilten und regelmäßig stattfindenden schulischen Musikunterricht. Die Grundschule ist die einzige Schulart in Deutschland, die praktisch alle Kinder eines Jahrgangs erreicht. Grundschulunterricht findet in einer Phase der menschlichen Entwicklung statt, in der Kinder noch sehr lernbegierig und offen für neue Erfahrungen sind. Dieses Zeitfenster gilt es bestmöglich zu nutzen – im Interesse der Kinder ebenso wie im Interesse unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens.
Musikunterricht muss gestärkt werden!
Für das anstehende Maßnahmenpaket fordern wir deshalb: Musikunterricht an Bayerns Grundschulen darf nicht gekürzt, sondern muss gestärkt werden.
1. Musik muss in den Jahrgangsstufen 1 und 2 mindestens im bisherigen Umfang als Teil des „Grundlegenden Unterrichts“ beibehalten werden.
2. In den Jahrgangsstufen 3 und 4 muss Musik weiterhin als Pflichtfach im Umfang von mindestens 2 Wochenstunden in der Stundentafel ausgewiesen sein. Musikunterricht darf nicht in einem flexibel handhabbaren Fächerkonglomerat (etwa im Sinne eines „musisch-ästhetischen Fächerverbunds“) verschwinden.
3. Im Pflichtfach Musik im Klassenverband werden Kinder mit einem breiten Spektrum musikalischer Inhalte und Praktiken bekannt gemacht. Musikalische Angebote außerschulischer Träger im Ganztag sind als Ergänzung und Bereicherung dieses grundlegenden musikalischen Bildungsangebots hoch willkommen, müssen gefördert und ausgebaut werden. Den Klassenunterricht Musik können und dürfen sie aber nicht ersetzen.
An Bayerns Schulen und Universitäten, in Ihrem eigenen Haus, in der BLKM und der Akademie für Lehrerfortbildung und Personalentwicklung Dillingen sind in den vergangenen beiden Jahrzehnten Konzepte und Materialien für den Musikunterricht an Grundschulen entwickelt worden, die fachliches Lernen in vorbildlicher Weise mit ganzheitlichen und fächerübergreifenden Bildungsanliegen verknüpfen. Exemplarisch genannt seien die „Singlok“, die „Praxisbausteine für Musik Grundschule“ und das Profil „Musikbegeisterte Grundschule“. Mitglieder unseres Verbands waren dabei oft beratend oder als Autorinnen und Autoren involviert. Diese Kompetenz bringen wir auch gerne weiterhin in die Gestaltung musikalischer Bildungsangebote ein.
Für einen persönlichen Austausch zum aktuellen Maßnahmenpaket, zum Bildungspotenzial und zur Weiterentwicklung des Musikunterrichts an Bayerns Grundschulen stehen wir jederzeit zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
Prof. Dr. Gabriele Puffer
Vorsitzende des Verbands Bayerischer Schulmusiker e. V. (VBS)
Die hier formulierten Anliegen des VBS erfuhren breite Unterstützung, unter anderem durch den Bayerischen Musikrat, die bayerischen Chorverbände, den BMU-Landesverband Bayern und die Bayerische Elternvereinigung. Wenige Tage nach Versand des Schreibens ging beim VBS eine Antwort aus dem Kultusministerium ein: Der Staatsministerin sei es sehr wichtig, sich im Vorfeld einer endgültigen Entscheidung über das Maßnahmenpaket intensiv mit der Schulfamilie und der Wissenschaft auszutauschen. Dem Verband wurde allerdings nur in Aussicht gestellt, nach Abschluss des laufenden Dialogprozesses sehr zeitnah über die Ergebnisse informiert zu werden. Daraus lässt sich schließen, dass weder die musikalischen Fachverbände noch „die Wissenschaft“ in Gestalt von Fachleuten für Schulmusik aus Bayerns Hochschulen als aktive Beteiligte am Dialog erwünscht sind. Bis zum Redaktionsschluss Mitte Februar war offen, wie das Maßnahmenpaket der bayerischen Staatsregierung für die Grundschulen konkret beschaffen sein wird. Grund zu Besorgnis besteht allemal – nicht nur in Bayern.
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