Mit der zunehmenden Verfügbarkeit der sogenannten Neuen Medien für den Musikunterricht entstand um die Jahrtausendwende eine Vielzahl an innovativen Unterrichtsentwürfen. Vieles davon wirkt heute technisch überholt, ließe sich aber mit den aktuell zur Verfügung stehenden Möglichkeiten einfacher umsetzen als vor 20 Jahren. Exemplarisch soll dies an einer Veröffentlichung aus dem Jahr 2000 gezeigt werden, die „abgestaubt“ und technisch aktualisiert wurde.
Ein Urlaub ohne Erinnerungsphotos ist für viele nur ein halber. So lästig das Herumtragen der Kamera und das Suchen nach Motiven sein kann, so schön ist doch, mit Hilfe der Photos – wieder daheim – das Erlebte zu erinnern und vom Besonderen der Urlaubsorte zu berichten.“ So beginnt der Beitrag „Klang-Postkarten aus der Nachbarschaft. Harddisk-Recording in der SEK I“1 von Thomas Münch aus dem Jahr 2000. Vielleicht haben Sie sich beim Lesen der Zeilen oben dabei ertappt, dass Sie selbst überlegt haben, wie Sie es im letzten Urlaub so mit den Fotos gehandhabt haben. Wenn die Fotografie nicht gerade eines Ihrer Hobbies ist, haben Sie vermutlich auf das „lästige Herumtragen der Kamera“ verzichtet und stattdessen – unabhängig von Film und den notwendigen Objektiven – Ihre Urlaubserinnerungen einfach mit dem Handy festgehalten und dann quasi in Echtzeit über die sozialen Medien mit Verwandten und Freunden geteilt.
So gesehen wirkt der Beginn von Münchs Beitrag heute, 20 Jahre nach seinem Erscheinen, schon etwas aus der Zeit gefallen. Ähnlich verhält es sich mit der zweiten Hälfte des Titels: Harddisk-Recording. Sie verweist auf eine Zeit der musikbezogenen Medienpädagogik, die von einer Euphorie über die Möglichkeiten der sogenannten „Neuen Medien“ bestimmt war: Ab Anfang der 1990er-Jahre waren Computer verfügbar, die ambitionierten Laien Zugang zu digitaler Aufnahmetechnik eröffneten. Einige Jahre später begannen sich Softwarelösungen auf dem Markt zu etablieren, die die Bearbeitung dieser Aufnahmen intuitiv und bei Bedarf auch ohne zusätzliches Mischpult möglich machten. Fast zeitgleich setzte sich das Format MP3 durch und half, die bei Audioaufnahmen entstehenden Datenmengen so zu verkleinern, dass sie auf den damals vorhandenen Festplatten Platz finden konnten.
„Neue“ und neueste Medien im Musikunterricht
Im Kielwasser dieser technischen Umwälzungen erschien eine Vielzahl an musikdidaktischen Unterrichtsentwürfen, in denen die neuen Möglichkeiten erprobt wurden. Viele dieser Entwürfe waren innovativ und ambitioniert, scheiterten in der Realität aber leider oft an der unzureichenden Ausstattung der Schulen oder an fehlenden technischen Fertigkeiten der Lehrkräfte. Wenn es gelang, Unterrichtsentwürfe dauerhaft im persönlichen Curriculum zu verankern, dann meist nur, weil die entsprechende Lehrkraft dies mit hohem persönlichem Einsatz, privater Fortbildungsbereitschaft und nicht selten auch mit privater technischer Ausrüstung möglich machte.2
Wie eingangs am Beispiel der Urlaubsfotos gezeigt wurde, ist der Umgang mit digitalen Medien in den letzten Jahren jedoch deutlich einfacher und auch für Kinder und Jugendliche selbstverständlicher geworden. Grund genug, die „Klang-Postkarten“ von Thomas Münch einer kleinen Verjüngungskur zu unterziehen – „Klang-Postkarten aus der Nachbarschaft – reloaded “!
Klanglandschaften erschaffen
Das anvisierte Ergebnis des von Münch vorgestellten Unterrichtsvorhabens ist eine „soundscape“ – ein Begriff, der sich vom englischen „landscape“ ableitet und gerne mit „Klanglandschaft“ übersetzt wird. Dabei werden charakteristische Klänge zunächst aufgenommen und anschließend zu einem Gesamtwerk zusammengesetzt. Dies kann eher dokumentarische Funktion haben, wenn beispielsweise die nacheinander auftretenden Klänge eines Spaziergangs in entsprechender Reihenfolge kombiniert werden. Eine Klanglandschaft kann aber auch experimenteller angelegt sein, wenn interessante Klänge unabhängig vom Ort ihrer Aufnahme rein um des ästhetischen Gesamteindrucks willen rekombiniert werden. Bei den „Klang-Postkarten aus der Nachbarschaft“ sollen die Schüler*innen „alltägliche Klänge und Geräusche als ‚Klanglandschaft’ bewusst wahrnehmen und den klanglichen Qualitäten von auditiven Ereignissen nachspüren.“ Münch empfiehlt dafür ein mehrschrittiges Vorgehen.
Einstieg in das Projekt
Das Unterrichtsprojekt beginnt mit der Präsentation einer bereits existierenden Klang-Postkarte. Das kann ein „Prototyp“ sein, den die Lehrkraft erstellt, oder eine Schülerarbeit aus den Vorjahren. Daraus entfaltet sich im Optimalfall ein Gespräch über die Gestaltung dieser Klanglandschaft und vielleicht auch über den Ursprung der verwendeten Klänge (im Sinne eines „Soundpuzzles“).
Um die Schüler*innen anschließend für die Klanglichkeit ihrer Umgebung zu sensibilisieren, empfiehlt sich ein „soundwalk“, bei dem die Klasse unterschiedliche klanglich interessante Orte im Umfeld der Schule besucht. Ein Innehalten mit geschlossenen Augen ist dabei hilfreich. Zudem empfiehlt sich die stichpunktartige Dokumentation des Gehörten, so dass in einem anschließenden Gespräch verglichen werden kann, wer was in welcher Qualität wahrgenommen hat – und inwiefern sich das Gehörte eignen könnte, die Umgebung der Schule im Sinne einer „Postkarten-Ästhetik“ klanglich zu repräsentieren.
Anschließend werden Arbeitsteams für die Erstellung der „Klang-Postkarten“ gebildet. Münch rät hier zu Gruppen von jeweils etwa drei Schüler*innen. Aus Sicht einer Ressourcenknappheit (Aufnahmegeräte und Computer für die Nachbearbeitung) war dies zum Zeitpunkt des Originalbeitrags sicherlich sinnvoll. Heute wäre es – je nach pädagogischer Gesamt-Zielsetzung – sicherlich auch denkbar, dieses Projekt als Einzelarbeit oder in Zweiergruppen durchzuführen. Im Auge zu behalten sind dabei allerdings der gewünschte Modus für die Präsentation der Arbeitsergebnisse und der damit verbundene Zeitaufwand: je mehr „Klang-Postkarten“ entstehen, desto anspruchsvoller dürfte die Gestaltung der Abschlussphase des Projekts werden.
Jagen und Sammeln
In der Folgestunde oder einer anschließenden frei einteilbaren Projektphase begeben sich die Schüler*innenteams auf „Aufnahmejagd“. Münch empfiehlt hier, Orte aus der unmittelbaren schulischen Umgebung zu erkunden, was ein praktikabler Vorschlag ist. Denkbar wäre aber auch, diese Phase als Hausaufgabe auszulagern. Dann gäbe es die Möglichkeit, beispielsweise auch einen „Lieblingsort“ akustisch zu porträtieren, der nichts mit Schule zu tun hat.3 Im Originalbeitrag werden die Schüler*innen mit Aufnahmegräten und Mikrofonen losgeschickt. Dies lässt sich heute auch deutlich einfacher lösen: Die entsprechende Aufnahme kann jetzt unkompliziert mit dem eigenen Smartphone und der integrierten Diktierfunktion erfolgen. Bei beiden Lösungen ist aber eine kurze Einführung der Lehrkraft hilfreich, bei der zum Beispiel grundlegende technische Fragen wie Mindest- und Höchstabstand und gegebenenfalls Aussteuerung des Aufnahmepegels geklärt werden.
Wichtig für den späteren Schneideprozess ist, dass die Aufnahmen sinnvoll benannt und katalogisiert sind, so dass die Schüler*innen sich später in ihrem Tonmaterial gut zurechtfinden. Auch eine vorher festgelegte maximale Gesamtdauer des Rohmaterials der Aufnahmen ist sinnvoll. Damit wird vermieden, dass die Jugendlichen großflächige Umgebungsaufnahmen machen, die später wieder mühevoll gesichtet und selektiert werden müssen. Münch empfiehlt zehn Minuten maximale Aufnahmedauer. Etwas weniger wäre aber sicherlich auch denkbar und würde die Schüler*innen zu einer noch zielgerichteteren Vorauswahl animieren.
Collagieren und gestalten
Ist der Aufnahmeprozess abgeschlossen, folgen die Bearbeitung des Materials und Erstellung der Klang-Postkarte. Hierfür ist nach wie vor ein Gang in den schulischen Computerraum denkbar. Inzwischen ist es aber auch unkompliziert möglich, die Audiobearbeitung auf Tablets durchzuführen. Nach einer Übertragung des Audio-Materials (z.B. via Airdrop) wird dieses in einen Audio-Editor importiert. Der Hokusai Audio Editor ist hierfür eine einfach zu bedienende Freeware, die es sowohl für iPads als auch für Android-Geräte gibt. Eine etwas längere Einarbeitungszeit benötigt GarageBand (nur iPad oder Mac), das dafür aber auch einen komfortableren Workflow ermöglicht. Für die Arbeit an PCs bietet sich das seit vielen Jahren in Schulen genutzte Programm Audacity an. Für alle genannten Software-Lösungen gibt es im Internet eine Vielzahl von Tutorials, die den Einstieg erleichtern.4
Während die im Originalbeitrag genannten Software-Lösungen oft nur eine Audiospur hatten, arbeiten alle oben genannten Programme im Mehrspurverfahren, was zum Beispiel Überlagerungen von Klängen möglich macht und den Arbeitsprozess grundsätzlich vereinfacht. Insgesamt sollten Sie für diese Arbeitsphase ausreichend Zeit bereitstellen. Zwei bis drei Unterrichtsstunden sind hierfür erfahrungsgemäß das absolute Minimum.
Außerdem ist es hilfreich, vor dieser Arbeitsphase den Schüler*innen noch einmal vor Augen zu führen, auf welche unterschiedlichen Arten und Weisen die Klang-Postkarten gestaltet werden können. Denkbare Ansätze sind zum Beispiel: eine bestimmte Stimmung vermitteln (Entspannung, Hektik); einen dramatischen Verlauf entwerfen (z.B. aus Stille kommend zu immer größerer klanglicher Dichte); eine Klang-Geschichte erzählen; das Unerwartete im Bekannten hörbar machen. Auch formale Aspekte können bedacht werden: Sollen Klänge wiederholt werden? Sollen die Klänge in der Reihenfolge präsentiert werden, wie sie aufgenommen wurden? Sollen Klänge entgegen ihrer ursprünglichen Lautstärke eingesetzt werden: Lautes wird leise, und umgekehrt? Welche weiteren Bearbeitungsmöglichkeiten bieten sich an? – Um nicht in einem Modus mehr oder weniger planvollen Herumprobierens stecken zu bleiben, sollten die Schüler*innen dazu angehalten werden, sich ein „Programm“ für ihre Klang-Postkarte zu setzen und gezielt daran zu arbeiten (oder davon abzuweichen). Empfehlenswert ist auch, den Jugendlichen zu Beginn eine Übersicht über die nacheinander anstehenden Arbeitsschritte sowie über den verfügbaren zeitlichen Rahmen zu geben.
Präsentieren und wirken lassen
Sind alle Klang-Postkarten erstellt, werden diese im Klassenverband vorgestellt. Abweichend von Münchs ursprünglichem Konzept wird hier ein Zwischenschritt vorgeschlagen: So könnte eine erste Präsentationsrunde dazu dienen, Feedback zu den bisherigen Arbeitsergebnissen zu geben und einzuholen. Die Rückmeldungen der Zuhörenden können dem jeweils verantwortlichen Team helfen, das Klangpostkarten-Konzept zu präzisieren. Diese Phase kann sowohl im Plenum als auch in kleineren Gruppen stattfinden als auch auf einer Lernplattform mit Peer-Feedback-Funktion. Anschließend sollten die Teams die Möglichkeit haben, ihre „Klang-Postkarten“ auf Grundlage der Rückmeldungen der Mitschüler*innen noch einmal zu überarbeiten – oder bewusst und begründet bei der ursprünglichen Gestaltung zu bleiben. Am Ende des Projekts sieht Thomas Münch eine Hörsituation vor, die allen Anwesenden ein ästhetisches Erleben der „Klang-Postkarten“ möglich machen soll. Die vorgeschlagene kleingliedrige Struktur aus kurzen Hörerlebnissen und unmittelbar anschließenden Reflexionsrunden dürfte das Eintauchen in einen „absichtslosen“, kontemplativen Hörmodus aber sehr erschweren. So ist zu überlegen, wie Hören und Reflexion zeitlich sinnvoll strukturiert werden können – und welche Alternativen sich auch hier mit modernen Lernplattformen gestalten lassen, etwa über das Zusammenstellen und Kommentieren von individuellen „Playlists“. Münch schlägt vor, die Ergebnisse in Form von MP3-Files an die beteiligten Gruppen auszugeben. Auch eine zusätzliche Veröffentlichung – zum Beispiel auf der Schulhomepage – ist denkbar, soweit es dabei nicht zu Konflikten mit Urheber- oder Datenschutzrecht kommt.
Thomas Münch legt seinen ursprünglichen Entwurf für die Sekundarstufe I aus. Für Unterstufenklassen ist das Projekt zwar denkbar, vermutlich aber sehr betreuungsintensiv. In Mittelstufenklassen sollten die „Klangpostkarten“ grundsätzlich machbar sein, ebenso in entsprechenden Neigungsgruppen. In besonderer Weise bietet sich eine Umsetzung in der Jahrgangsstufe 11 des künftigen neunjährigen Gymnasiums an: Im Rahmen des neuen Lehrplanbereichs „Musik kreativ“ werden „soundscapes“ dezidiert erwähnt, und die Zweistündigkeit des Unterrichts dürfte die Durchführung eines solchen Projekts erheblich erleichtern.
Anmerkungen
1 Münch, T. (2000): Klang-Postkarten aus der Nachbarschaft. Harddisk-Recording in der SEK I. In: „Musik in der Schule“, Heft 2/2000, S. 14-20.
2 Vom Umstand, dass sich dahingehend bis heute nicht viel geändert hat, können viele Musiklehrkräfte ein Lied singen. Eine im vergangenen Jahr durchgeführte Abschlussarbeit im Bereich Musikpädagogik an der Universität Regensburg bestätigte, dass der innovative Einsatz digitaler Medien nach wie vor primär „Privatvergnügen“ interessierter Lehrkräfte ist.
3 Münch verfolgt in seinem Beitrag einen emotional etwas distanzierteren Grundansatz. Die Schüler*innen sind bei ihm eher auf der Suche nach dem „Interessanten“, das dann entsprechend dokumentiert wird. Der Ansatz, einen „Lieblingsort“ zu porträtieren, wäre hierzu eine Alternative mit höherer persönlicher Bedeutsamkeit, die zumindest in den universitären Seminaren des Verfassers von den Teilnehmer*innen gerne umgesetzt wird.
4 Im Mai 2020 hat der Autor im Rahmen der VBS-Online-Fortbildungsreihe „Medien-Mittwoch“ eine Einführung in das Arbeiten mit „Audacity“ angeboten. Einen Mitschnitt der Veranstaltung sowie die dabei verwendeten Kursmaterialien finden Sie unter https://t1p.de/vbs-medienmittwoch-audacity